05. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für SWP gegen Einstufung Marokkos, Algeriens, Tunesiens als „Sichere Herkunftsstaaten“ · Kategorien: Algerien, Deutschland, Libyen, Marokko, Tunesien · Tags:

Quelle: German Foreign Policy

Eine Gemeinschaft des Unrechts

(Eigener Bericht) – Deutsche Regierungsberater verschärfen ihre Kritik an der Flüchtlingsabwehr Berlins und der EU. Die Einstufung Marokkos, Algeriens und Tunesiens als „sichere Herkunftsstaaten“ für Flüchtlinge, wie die Bundesregierung sie gegenwärtig vorantreibt, sei „nicht mit dem Grundgesetz vereinbar“, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP); schließlich seien in den Maghreb-Ländern gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte zu beklagen. Auch die von Berlin initiierten EU-Pläne, einen Flüchtlingsabwehrpakt mit Libyen zu schließen, stoßen bei dem Think-Tank auf Unverständnis; „Migranten und Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland Libyen zurückzuschicken, ist nicht vertretbar“, heißt es bei der SWP. Diese hatte bereits vor kurzem erklärt, die aktuellen Flüchtlingsabwehrpläne Berlins und Brüssels setzten die Zukunft des gesamten von den Vereinten Nationen geschützten globalen Flüchtlingsregimes aufs Spiel. Kann die wiederholte Kritik aus der vom Kanzleramt finanzierten SWP an der operativen Politik der Bundesregierung durchaus als ungewöhnlich gelten, so protestieren nun auch noch 60 namhafte Publizisten, Wissenschaftler und Künstler gegen die Unterzeichnung des EU-Flüchtlingsabehrpakts mit der Türkei: Dieser stelle den Anspruch Brüssels, „als eine Gemeinschaft des Rechts zu gelten“, in Frage.

Signalwirkung

Bereits Ende April hatten Experten auf einer Anhörung des Innenausschusses des Bundestages die Pläne der Bundesregierung, die drei Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien als „sichere Herkunftsstaaten“ einzustufen, scharf kritisiert. Unter anderem wies eine Vertreterin von Amnesty International darauf hin, dass in allen drei Ländern kritische Journalisten „in ihrer Arbeit massiv behindert“ und zudem „Versammlungen oppositioneller Gruppierungen aufgelöst“ werden. Homosexualität könne in den Maghreb-Ländern mit Haft bestraft werden – in Gefängnissen, „in denen Amnesty sogar Fälle von Folter dokumentiert hat“. Wie die Organisation „Pro Asyl“ berichtet, äußerten die von den Regierungsfraktionen geladenen Sachverständigen, ein Beamter aus dem sächsischen Innenministerium und eine Mitarbeiterin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), in der Anhörung erstaunlicherweise „kein Wort über die Situation in den betreffenden Ländern“; sie hätten stattdessen nur betont, die Einstufung Marokkos, Algeriens und Tunesiens als „sichere Herkunftsstaaten“ werde „Signalwirkung“ zur Abschreckung potenzieller Flüchtlinge entfalten.[1]

Grundgesetzwidrig

Der Kritik an den Plänen der Bundesregierung hinsichtlich der Maghreb-Länder haben sich nun auch Regierungsberater von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) angeschlossen. In einer aktuellen Stellungnahme aus dem Think-Tank heißt es trocken, „die pauschale Einstufung Algeriens, Marokkos und Tunesiens als sichere Herkunftsstaaten von Flüchtlingen“ sei „nicht mit dem Grundgesetz vereinbar“. Letzteres fordere „ausdrücklich, für eine entsprechende Einstufung neben der Rechtslage auch die Rechtsanwendung zu berücksichtigen“. Diese könne jedoch „nicht beurteilt werden“, wenn sich „keine unabhängigen Beobachter vor Ort“ aufhalten dürften. Genau dies sei aber beispielsweise in Algerien der Fall, das „Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch seit Jahren den Zutritt zum Land“ verwehre; „die wenigen lokalen Menschenrechtsgruppen“ könnten nur „unter schwierigen Bedingungen“ arbeiten. Auch Marokko sei zuletzt „restriktiver“ gegen die „lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen“ im Land vorgegangen. Die Einstufung der beiden Länder als „sicherer Herkunftsstaat“ verbiete sich in jedem Fall.[2]

Nicht vertretbar

Die SWP spricht sich darüber hinaus nun auch gegen die geplante Flüchtlingsabwehr-Kooperation mit Libyen aus, die Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang April vorgeschlagen hat. Laut dem Vorstoß soll die EU mit Tripolis eine Vereinbarung nach dem Modell des Flüchtlingsabwehrpakts mit der Türkei schließen. „Migranten und Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland Libyen zurückzuschicken, ist nicht vertretbar“, heißt es kurz und bündig bei der SWP. Die auf Druck des Westens unlängst eingesetzte libysche Übergangsregierung [3] sei extrem schwach; „wenn sie überhaupt überlebt“, werde sie „weit davon entfernt sein, ihre Grenzen sichern zu können“. Darüber hinaus sei sie nicht in der Lage, „die katastrophalen Zustände in den Internierungslagern für irreguläre Migranten zu verbessern“. Theoretisch könne man freilich direkt mit denjenigen Milizen kooperieren, die die Lager beherrschten; das hieße aber, „mit Kräften zu kooperieren, die außerhalb jeglicher Rechenschaftspflicht handeln und deren Missachtung für die Menschenrechte notorisch ist“. In Libyen müsse unbedingt „der Wiederaufbau einer staatlichen Ordnung … Priorität haben“. Die neu eingesetzte Regierung werde schon jetzt „von vielen in Libyen als eine Marionette des Westens angesehen“; eine Kooperation in der Flüchtlingsabwehr, eine Öffnung libyscher Gewässer für EU-Kriegsschiffe oder gar eine Landpräsenz von EU-Militärs würden ihrer Glaubwürdigkeit „erheblich schaden“.[4]

Grenzabschottung und Lager

Die überaus kritischen Stellungnahmen aus der – vom Kanzleramt finanzierten – SWP sind umso bemerkenswerter, als der Think-Tank schon zuvor mit einer ungewöhnlich deutlichen Warnung vor den Konsequenzen der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr an die Öffentlichkeit getreten ist. Der auf Betreiben Berlins geschlossene Flüchtlingsabwehrpakt der EU mit der Türkei zeige, „dass das Zusammenspiel von Grenzbefestigungen, Lagern und (Aufnahme-, d. Red.) Kontingenten“ die „künftige EU-Flüchtlingspolitik prägen“ werde, urteilt die SWP. „Zu bedenken“ sei unter anderem, dass die geplanten und in vielen Fällen bereits errichteten „Lager leicht zu Haftanstalten werden können“; so seien „die zunächst als offene Lager konzipierten Hotspots in Griechenland“ bereits „zu geschlossenen Einrichtungen umfunktioniert“ worden. „Die Internierung von Asylbewerbern in Griechenland“ werfe schon jetzt „menschenrechtliche Fragen auf“, warnt der Think-Tank. Letztlich stünden dabei die Grundlagen des modernen Flüchtlingsschutzes auf dem Spiel: „Die Ausgestaltung des von UNHCR geschützten globalen Flüchtlingsregimes“ hänge „nicht nur von den Inhalten der Genfer Flüchtlingskonvention“ ab, „sondern auch von der Staatenpraxis“, welche die Flüchtlingskonvention einhält – oder sie eben bricht.[5] Letzteres droht nun in bislang ungekanntem Ausmaß die EU zu tun.

Eine Art Menschenhandel

Der Kritik haben sich diese Woche rund 60 namhafte Publizisten, Wissenschaftler und Künstler in einem Protestschreiben „an die Staats- und Regierungschefs der EU“ angeschlossen. Wie sie urteilen, verstößt der EU-Flüchtlingsabwehrpakt mit der Türkei „gegen internationales Recht und gegen EU-Recht“; er stelle „eine Art ‚Menschenhandel‘ dar“. Mit seiner Unterzeichnung habe die EU die „Ideale“ von Frieden und Recht „verspielt“; sie habe „den Anspruch, als eine Gemeinschaft des Rechts zu gelten, … in Frage gestellt“. „Einschüchterung, Inhaftierung und Deportation“ von Schutzbedürftigen gehörten „zu den notwendigen Folgen“ ihrer Politik. Man habe „alles Gute“, das in Europa seit 1945 geschaffen worden sei, „um eine Wiederholung des größten Unrechts aller Zeiten zu verhüten“, leichtfertig aufs Spiel gesetzt: „Diesen Missstand gilt es aufzuheben“.[6]

Beispiellose Breite

Zu den Unterzeichnern des Schreibens gehören die Schriftsteller Jeremy Adler, Peter Härtling, Durs Grünbein und Navid Kermani, der Pianist Alfred Brendel und der Historiker Fritz Stern. In einem singulären Protest gegen die EU-Flüchtlingsabwehr hatte bereits vor kurzem Papst Franziskus ein Flüchtlings-Haftlager auf der griechischen Insel Lesbos besucht.[7] Die von Berlin forcierten Maßnahmen zur Ausgrenzung und zur Internierung von Schutzbedürftigen ruft eine Abwehrfront von bislang beispielloser gesellschaftlicher Breite hervor.

Mehr zum Thema: Die Leiden des anderen, Grenzland und Lagerland.
[1] Anhörung: Keine rechtliche Grundlage für eine Einstufung der Maghreb-Staaten als „sicher“. www.proasyl.de 26.04.2016.
[2] Anne Koch, Isabelle Werenfels: „Sichere Herkunftsstaaten“ im Maghreb. www.swp-berlin.org 04.05.2016.
[3] S. dazu Gegen Terror und Migration (II), Von Lagern umgeben und Grenzland.
[4] Wolfram Lacher: Libyen ist kein Partner für die europäische Flüchtlingspolitik. www.swp-berlin.org 03.05.2016.
[5] S. dazu Lagerland.
[6] „Die EU hat die Werte kompromittiert, die ihre Daseinsberechtigung ausmachen“. www.sueddeutsche.de 04.05.2016.
[7] S. dazu Die Leiden des anderen.

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