04. März 2016 · Kommentare deaktiviert für Doskozil im Libanon: „Es ist fünf nach zwölf“ · Kategorien: Europa, Libanon · Tags:

Quelle: der Standard

In einem Flüchtlingslager bekam der Verteidigungsminister unangenehme Antworten für Österreich und ganz Europa

Bei seinem dreitägigen Libanon-Besuch hat Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) diese Woche einige höchst unangenehme Wahrheiten mit ins Gepäck bekommen – und zwar nicht nur für Österreich, sondern wohl für ganz Europa. Donnerstagmorgen stand in Beirut ein Treffen mit seinem Amtskollegen Samir Moqbel an – und der stellte gegenüber Doskozil unmissverständlich klar, dass die Union nicht darauf zu hoffen brauche, dass auch sein Land angesichts des anhaltenden Flüchtlingsstroms aus Syrien nun große Flüchtlingscamps, wie man sie vielleicht in Jordanien kenne, errichten werde.

Die brisante Lage im Libanon beschrieb Doskozil nach seinem Besuch im von Sicherheitskräften akribisch bewachten Hotel mit auffallender Direktheit: „Es ist fünf nach zwölf.“ Hintergrund: Bereits 25 Prozent der Bevölkerung in dem einst selbst bürgerkriegsgebeutelten Nachbarstaat Syriens, der kaum größer ist als Kärnten und heute 18 anerkannte Konfessionen zählt, sind Flüchtlinge, darunter freilich auch Iraker und Palästinenser. Damit die regionalen Konflikte nicht weiterhin ungehindert in den Libanon hineinstrahlen, erbat Moqbel aber europäische Unterstützung – und zwar bei der Ausbildung seiner Grenzschützer, ganz konkret seien dafür auch acht Hubschrauber anzuschaffen. Doskozil versprach, diese Agenden bei einem Treffen mit Amtskollegen in Wien Ende März auf die Tagesordnung zu hieven.

Ernüchterung

Nur wenige Stunden später folgte dann die nächste Ernüchterung – und zwar in Jdita östlich von Beirut, wo sich am Ortsrand eines der unzähligen kleinen Flüchtlingscamps versteckt, die über das ganze Land verstreut sind und nur mithilfe des UNHCR, der Caritas und Co. mit dem Allernötigsten versorgt werden. Als die ministerielle Wagenkolonne eintrifft, wird Doskozil zwar von den Flüchtlingen mit einem Reisregen empfangen, wie sonst nur bei Hochzeiten üblich. Außerdem wird der Minister zwischen ihren desolaten Behausungen aus Wellblech, Holz und Plastikplanen sofort begeistert umringt von Kindern, Frauen und Männern aller Altersstufen.

Aber die Menschen warten ihm auch mit all ihren Sorgen und Nöten auf: dass ihnen die libanesischen Behörden pro Kopf und Jahr umgerechnet 200 US-Dollar für ihre Registrierung abknöpfen – eine Summe, die ohne offizielle Arbeitserlaubnis nur schwer aufzubringen ist. Dass hier jedes Geld für medizinische Versorgung fehlt, sodass eine Grippe allzu oft tödlich endet. Und dass die meisten ihrer Kinder noch keine Schule von innen gesehen haben. Ein alter Herr in bodenlangem Gewand fällt dem Minister nach der Schilderung des eigenen Leids um den Hals, Doskozil lässt die spontane Freundschaftsbekundung freundlich lächelnd über sich ergehen.

In einem Verschlag, der im Inneren penibel herausgeputzt ist, trifft der Österreicher dann auf den Sprecher des Camps: ein studierter Jurist, einst im Landwirtschaftsministerium in Damaskus angestellt. Wie viele der Menschen hier wohl gern nach Syrien zurückkehren würden, will Doskozil von ihm wissen. Die Antwort des kleinen Mannes mit den wachen Augen ist kurz, aber klipp und klar: „60 bis 70 Prozent“ in den Hütten rund um Jdita würden sich mit entsprechenden Mitteln am liebsten sofort nach Europa aufmachen. Doskozil bohrt nach: Auch wenn in Syrien eines Tages wieder Frieden einkehren würde? Auch dann, nickt der Camp-Sprecher. Denn die Mehrheit hier sei entwurzelt, nach fünf Jahren Krieg seien in ihrer alten Heimat viele Verwandte tot, ihre Häuser zerstört – und nur einige Angehörige in Deutschland untergekommen.

Selbstkritik

Wenig später, wieder im Hotel in Beirut, wird Doskozil dazu selbstkritisch festhalten: „Wir“, gemeint ist Europa, „sind in der Entwicklung immer zwei, drei Schritte zu langsam.“ Zwischen der Zusage von milliardenschwerer Unterstützung für die Krisenregion und den tatsächlichen Überweisungen dürfe nicht mehr so viel Zeit verstreichen.

Doch auch Österreich hinkt da nur allzu oft hinterher: Die für heuer zugesagten Mittel für das Food Programme etwa hat die Republik bis vor kurzem – im Gegensatz zu Deutschland – noch immer nicht überwiesen.

Christoph Schweifer, Caritas-Generalsekretär für die Auslandshilfe, weiß schon seit „ein, zwei Jahren“ von den Bestrebungen der vertriebenen Syrer Bescheid: „Der Traum von Europa hat wenig mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel zu tun“, sagt er zum STANDARD. „Die meisten sind nach den Jahren in den Camps mittlerweile hochverschuldet.“ Doch erst unlängst habe eine Familie hier, die die Überfahrt in Richtung Union bereits eingefädelt hatte, ihre Flucht aus dem Aufnahmeland im letzten Moment abgesagt. Der Grund: dass ihren Kindern angesichts neuer Hilfsgelder der baldige Schulbesuch im Libanon in Aussicht gestellt wurde.

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