28. April 2015 · Kommentare deaktiviert für „Ich habe damit gerechnet, zu sterben“ – FR · Kategorien: Italien, Libyen, Mittelmeer · Tags:

Frankfurter Rundschau

Von Regina Kerner

Die Geschichte einer monatelangen Flucht: Wie sich Simon aus Eritrea bis nach Mailand durchschlägt.

Der auffallend magere, dunkelhäutige Mann im Zweite-Klasse-Abteil des Hochgeschwindigkeitszugs „Frecciarossa“ von Neapel nach Mailand schaut erschrocken hoch. Ich bin in Rom zugestiegen, mein reservierter Platz ist neben ihm am Fenster. Eilig räumt er sein Gepäck vom Sitz, einen halbleeren kleinen Rucksack und eine Plastiktüte mit Wasserflasche und Tupperdose. Er versucht selbstbewusst zu gucken, aber in den geröteten müden Augen scheint die Unsicherheit durch. Als ich neben ihm sitze, legt er sich rasch seine dünne Sportjacke aus Polyester auf den Schoß und versteckt seine Hände darunter. Die vielen kleinen Geschwüre habe ich aber schon gesehen.

Es dauert eine Weile, bis wir ins Gespräch kommen. Der junge Mann bietet mir schüchtern seine Wasserflasche zum Trinken an. Er kommt aus Eritrea, heißt mit Vornamen Simon und spricht hervorragend Englisch. „Seit fünf Tagen erst bin ich in Italien“, sagt Simon und lächelt zum ersten Mal. Schnell wird klar, dass er ein Bootsflüchtling ist. Einer der Tausenden aus Afrika und dem Nahen Osten, die in den vergangenen Tagen über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind.

Ob ich von dem Unglück gehört hätte, fragt Simon, von den vielen Toten. „Meine eritreischen Freunde waren auf diesem Schiff.“ Er meint das Schiff, mit dem vor wenigen Tagen vermutlich 850 Menschen untergegangen sind. Ihn hatten die Menschenhändler in Libyen schon drei Tage früher auf ein anderes Boot getrieben, erzählt Simon. Er schweigt. Was er fühle, frage ich.

„Jeder kennt das Risiko“

„Ich bin traurig“, sagt er und zuckt mit den Achseln. „Jeder kennt das Risiko. Ich wusste, dass meine Chance in Europa anzukommen, ganz gering ist. Zu neunzig Prozent habe ich damit gerechnet auf der Reise zu sterben.“

Simon, kurze schwarze Haare, schmaler Oberlippenbart, ist 21 Jahre alt, Student, aufgewachsen in Asmara, der Hauptstadt Eritreas. „Man kann dort nicht leben“, sagt er, „es ist eine Diktatur. Sobald man den Mund aufmacht, landet man im Gefängnis. Es gibt mehr Gefängnisse als Schulen in Eritrea.“ Außerdem müssen viele Männer fast lebenslangen Militärdienst leisten.

Simon hat acht Geschwister. Zwei seiner Brüder sind schon ins Ausland geflohen, nach Israel und Großbritannien. Sie haben ihm die 5000 Dollar für die Schleuser geschickt.

Er selbst will nach Deutschland. „Alle sagen, dass es gut dort ist. Und ich mag die deutschen Fußballer.“ Außer Berlin fällt ihm aber kein deutscher Städtename ein. Es ist ihm auch egal, wo er landet – „Hauptsache Deutschland“. Lange will er nicht bleiben, sagt Simon. Fünf Jahre vielleicht. Dann, so hofft er, hat sich die politische Lage in Eritrea verändert. „Ich will nicht werden wie die Europäer“, sagt er. „Die kriegen höchstens zwei Kinder. Ich will eine eritreische Frau heiraten und eine große Familie haben.“

Simons Flucht begann vor neun Monaten. Die erste Etappe führte im Juli 2014 in den Sudan. Simon ging zu Fuß, sechs Tage lang. Das sei sicherer, als sich in Eritrea einem Schlepper anzuvertrauen, der einen womöglich verkaufe. „Dann endet man in den Lagern im Sinai.“ Kriminelle Beduinenstämme halten dort Flüchtlinge gefangen und foltern sie, um Geld von den Verwandten in Eritrea und Äthiopien zu erpressen.

Simon entging diesem Schicksal. Im Sudan blieb er einige Wochen und nahm Kontakt zu Schleppern auf. Auf einem Kleintransporter ging es dann durch die Wüste nach Libyen. „Wir waren mehr als dreißig Leute auf der kleinen Ladefläche. Wenn du runterfällst, ist es aus. Die halten nicht an.“

Brutale Schleuser

Die schlimmste Zeit kam in Libyen. Vier Monate war Simon zusammen mit tausend oder mehr Schicksalsgenossen in einem leeren Gebäude eingesperrt.

„Sie haben uns kaum zu essen gegeben, es war dreckig. Man hatte keinen Platz, um sich zum Schlafen auszustrecken.“ Es war vermutlich dasselbe Gebäude nahe Tripolis, über das auch die 28 Überlebenden des Schiffsunglücks den italienischen Ermittlern berichtet haben. Sie sprachen von Misshandlungen und von Menschen, die zu Tode geprügelt wurden. Simon erzählt, dass ihm einer der Bewacher die Pistole an die Schläfe drückte und ihn schlug, als er einmal nach Essen fragte. „Das sind gefährliche Leute“. Es seien Libyer darunter, aber auch Eritreer.

Zur Überfahrt nach Italien wurde Simon unter Deck getrieben, wo es stickig war und eng. Irgendwann seien sie von einem italienischen Schiff an Bord genommen worden, das sie erst nach Sizilien brachte, dann nach Neapel. Nach der Ankunft entwischte Simon. „Ich wusste, dass sie auf keinen Fall meine Fingerabdrücke nehmen dürfen. Sonst wird man später nach Italien zurückgeschickt.“ In Neapel besorgten ihm eritreische Kontaktleute des Schleuserrings die Fahrkarte nach Mailand.

Simon packt jetzt die Tupperdose aus, dicke Weißbrotscheiben, belegt mit Tomaten und Zwiebeln. „Eine nette Frau in Neapel hat sie mir mitgegeben“, sagt er. Er isst hastig. Man merkt, dass er monatelang auf engstem Raum mit anderen zusammengepfercht war. Um seine Sitzposition zu ändern, verschiebt er Beine und Oberkörper nur zentimeterweise, langsam und vorsichtig. Dabei ist sein Sitz im „Frecciarossa“-Zug breit. „Sehr komfortabel hier“, sagt Simon und schaut sich um. Und dann gesteht er überraschend: „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einem Zug reise.“

Was ist mit seinen Händen? Verlegen zeigt Simon die roten entzündeten Wunden zwischen den Fingern. „Das habe ich mir in Libyen geholt.“ Sehr wahrscheinlich ist es Krätze, eine ansteckende Hautkrankheit, bei der sich Milben unter die Haut bohren.

Bevor die Durchsage kommt, dass der Zug in Kürze den Bahnhof Milano Centrale erreicht, klingelt Simons Handy. Es ist der Kontaktmann, der dort auf ihn wartet. „In ein, zwei Tagen fahre ich weiter nach Deutschland“, sagt er glücklich. Davon, dass die Züge über den Brenner wegen der vielen Flüchtlinge immer häufiger kontrolliert werden, hat er nichts gehört.

In Mailand verabschieden wir uns. Simon verspricht, auf Facebook eine Nachricht zu schicken, sobald er in Deutschland ist. Dann humpelt er mit steifen Beinen in das Gewühl der monumentalen Bahnhofshalle.

Simon ist nur einer von vielen Dutzend Flüchtlingen, die an diesem Tag in Milano Centrale ankommen. Die norditalienische Stadt ist wichtigste Durchgangsstation für alle, die Richtung Norden weiter wollen. Überall auf dem Bahnhofsvorplatz hocken junge Afrikaner und Araber, einige schlafen auf dem Rasen. In der Vorhalle betreiben ehrenamtliche Helfer eine kleine Versorgungsstation. Neuankömmlinge bekommen von ihnen Wasser und Brötchen. Um Kranke kümmern sich Sanitäter des Roten Kreuzes. Sie verteilen auch Salbe gegen Krätze.

Fulvia, eine Mailänder Hausfrau, ist eine der Freiwilligen. „Wir versuchen das klitzekleine bisschen zu leisten, das eigentlich jeder für diese Menschen tun müsste“, sagt sie. Meist sind es syrische Kriegsflüchtlinge, die zu ihnen kommen.

Dann erzählt Fulvia noch, dass die vielen eritreischen Flüchtlinge auf Durchreise nur selten zu ihnen in die Bahnhofsvorhalle kämen. Sie hätten ihren eigenen Treffpunkt in den Grünanlagen rund um die Porta Venezia, einige Metro-Stationen vom Bahnhof entfernt.

Vielleicht ist ja der junge Eritreer Simon dort, vielleicht wartet er dort, bis ihm sein Kontaktmann die Fahrkarte für den Zug Richtung Deutschland in die Hand drückt. Und vielleicht schafft er es über die Grenze, ohne kontrolliert und zurückgeschickt zu werden. Ich wünsche es ihm.

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