23. April 2017 · Kommentare deaktiviert für „Migrationspolitik: Außer Kontrolle“ · Kategorien: Afrika, Europa, Italien, Libyen, Mittelmeer · Tags: , , ,

Zeit Online | 19.04.2017

Die EU zieht ihre Rettungsschiffe im Mittelmeer zurück – und sorgt für ein tödliches Chaos vor Libyen.

Von Caterina Lobenstein

Es war am Ostersonntag, als der Kapitän des deutschen Rettungsschiffes Iuventa zum Funkgerät griff und einen Notruf absetzte: Mayday. Die Iuventa, die an jenem Tag vor der libyschen Küste trieb und überladen war mit Flüchtlingen, gehört zur Organisation Jugend Rettet, sie ist ein kleines Schiff, gerade groß genug, um ein paar Verletzte an Bord zu nehmen. Normalerweise versorgt sie Flüchtlinge auf dem Meer mit Rettungswesten, Wasser und Erster Hilfe, bis größere Schiffe sie unterstützen und die Menschen aufnehmen. An diesem Sonntag aber gab es niemanden, der helfen konnte.

Dass die Iuventa am Ostersonntag lange keine Hilfe bekam, hat zum einen mit dem Ende der italienischen Rettungsmission Mare Nostrum zu tun: Seit es die nicht mehr gibt, patrouillieren weniger staatliche Rettungsschiffe nahe den libyschen Gewässern, dort also, wo die meisten Notrufe abgesetzt werden und die meisten Menschen ertrinken. Zum anderen ist die Zahl der Flüchtlinge, die von Nordafrika aus nach Europa kommen, gestiegen. Fast 40.000 waren es laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk von Januar bis Mitte April 2017, deutlich mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres, und die Schönwettersaison hat noch nicht mal begonnen.

Einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen mag, gibt der Bericht des Iuventa-Kapitäns vom vergangenen Sonntag: Schon im Morgengrauen war sein Schiff umringt von seeuntauglichen Schlauchbooten, hatten die Helfer Hunderte Flüchtlinge auf Rettungsinseln versorgt. Dann näherte sich ein Holzkahn mit mehr als 700 Flüchtlingen. Der Kapitän versuchte auszuweichen. Die Menschen auf dem Kahn aber sprangen panisch ins Wasser. Einige ertranken, andere kletterten auf das überfüllte Rettungsschiff. Schlechtes Wetter zog auf, mannshohen Wellen, starker Wind. Die Iuventa, belagert von Hunderten Menschen, war manövrierunfähig geworden.

Mehr als 7.000 Menschen trieben allein am Osterwochenende in den Wellen zwischen Libyen und Italien, in schlaffen Gummibooten und wackligen Kähnen. So viele wie nie zuvor. Die italienischen Rettungsschiffe, die der Iuventa- Kapitän um Hilfe gebeten hatte, wurden unterwegs aufgehalten von Hunderten weiteren Flüchtlingen, die Schiffbruch erlitten hatten. Andere Rettungsboote, die in der Nähe patrouillierten, waren ebenfalls völlig überlastet. Auch das deutsche Rettungsschiff Sea-Eye setzte einen Notruf ab. Und die Besatzung eines maltesischen Rettungsschiffs brach nach mehr als 40 Stunden Dauereinsatz erschöpft zusammen. „We have lost all words“, twitterte die Crew – Sprachlosigkeit auf dem Mittelmeer.

In Berlin und Brüssel dagegen überbieten sich Politiker mit Floskeln, die den Eindruck erwecken, die EU hätte ihr Flüchtlingsproblem im Griff: Fluchtursachen werden bekämpft, Grenzen geschützt, Migrationspartnerschaften geschlossen. Der Balkan? Abgeriegelt. Afrika? Dank großer diplomatischer Bemühungen und noch größerer Geldbeträge bald ebenso kooperativ wie die Türkei, die der EU für einige Milliarden Euro bereits die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten vom Hals hält.

Dazu die Bilder reisender Politiker, die so aussehen, als betriebe Europa nun eine nachhaltige Migrationspolitik. Allen voran: die deutsche Regierung. Der Entwicklungshilfeminister fliegt nach Burkina Faso und an die Elfenbeinküste, verspricht Wirtschaftspartnerschaften und Geld, fordert Freihandelszonen, Unterstützung für Investoren und kündigt einen „Marshallplan für Afrika“ an. Die Bundeskanzlerin fliegt nach Tunesien und Ägypten, nach Niger und Mali und verkündet, die Lebensbedingungen der Menschen verbessern zu wollen.

Was die Floskeln nicht verraten: Das alles braucht Zeit. Und bis es so weit ist, wird weitergestorben. Womöglich noch mehr als zuvor. Private Rettungsorganisationen berichten, sie würden immer öfter von den Schiffen der EU alleingelassen. Die Kommission in Brüssel beteuert zwar, das Retten von Menschenleben auf See habe „oberste Priorität“; auch am Osterwochenende seien mehr als 1.000 Menschen von Schiffen der EU-Grenzbehörde Frontex geborgen worden. Interne Frontex-Papiere, die vor einigen Wochen an die Öffentlichkeit gelangten, zeigen jedoch, dass sich die Schiffe gezielt hinter jene Zone zurückziehen, in der die meisten Menschen ertrinken.

Zugleich warf der Frontex-Chef spendenfinanzierten Rettungsschiffen wie der Iuventa vor, Flüchtlinge bewusst anzulocken. In einigen EU-Staaten wird den Helfern sogar unterstellt, sie würden von Schleppern bezahlt. Tatsächlich kalkuliert die Schleppermafia jeden, der vor der libyschen Küste Flüchtlinge rettet, in ihre Rechnung ein: Schon lange füllt sie die Motoren ihrer Schlauchboote nur mit so viel Benzin, dass die Flüchtlinge es gerade eben in internationale Gewässer schaffen – in jene Gewässer, in denen Rettungsschiffe patrouillieren. Dieses Dilemma weiter auszuhalten hieße vor allem: Menschenleben zu retten. Denn der Rückzug der Rettungsschiffe wirkt nicht in erster Linie abschreckend, wie es sich die EU erhofft, sondern tödlich. Die Zahl der Ertrunkenen steigt. Und die Zahl der Flüchtlinge nimmt trotzdem zu.

Langfristig mag die EU auf nachhaltige Hilfe setzen. Kurzfristig setzt sie auf unterlassene Hilfeleistung.

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