24. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Europas Kampf um die Kontrolle“ · Kategorien: Europa, Lesetipps

Quelle: Telepolis

Seit Jahrzehnten setzt die EU auf „Lösungen“ für Flüchtlinge in Lagern und Gefängnissen autoritär regierter Länder und macht damit Menschenrechte zum Privileg

Gabriela Simon

Trotz aller Skepsis gegenüber dem Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei ist die Erleichterung bei den politisch Verantwortlichen nicht zu übersehen. Der deutsche Innenminister Thomas de Maiziére sieht einen „Wendepunkt in der Flüchtlingskrise“, Angela Merkel glaubt nun fest daran, „dass Europa es schaffen wird“. Die Überzeugung, man könne für das „Problem“ Flüchtlinge eine „Lösung“ finden, die es den Europäern erlauben würde, zur Tagesordnung zurückzukehren, hat mit diesem Pakt neue Nahrung bekommen.

Die Probleme der Flüchtlinge wird das Abkommen mit Sicherheit nicht lösen. Für sie steht nun der Sicherheitsapparat der Türkei bereit, der bekanntermaßen nicht gerade zimperlich agiert. Er soll gegen Menschen, die in europäischen Ländern Asyl suchen wollen – wozu sie nach der Genfer Konvention und nach Artikel 14 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung berechtigt sind – mit Zwangsmaßnahmen vorgehen: sie an den Küsten aufhalten, sie aus Griechenland zurück- und in Gewahrsam nehmen.

Für die Europäer hat diese „Lösung“ den verführerischen Nebeneffekt, dass das Leid der von Europa abgewiesenen Flüchtlinge aus ihrem Blickfeld verschwindet. Sie werden nicht mehr allabendlich in den Nachrichten damit konfrontiert. Wie viele Reporter sind schon dabei, wenn Flüchtende an der türkischen Küste festgenommen werden? Wer berichtet aus den Lagern, in denen sie landen?

Gelöst wird so vor allem ein Problem, das der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk im vergangenen Sommer definierte, als er den Europäern den Einsatz „wohltemperierter Grausamkeit“ gegen die Flüchtenden empfahl. Das Hauptproblem sei, so meinte er, dass sich die Europäer als „gutartig“ definierten und dass Grausamkeiten von einer „entsprechenden Publizistik“ „denunziert“ würden. Wie praktisch, dass die „entsprechende Publizistik“ in der Türkei viel besser kontrolliert wird!

Das alles ist nicht neu. Auch in den vergangenen Jahrzehnten haben sich europäische Regierungen wenig um die Menschenrechte gekümmert, wenn es darum ging, Flüchtlingen den Weg nach Europa zu versperren. Sie haben sie auf andere Kontinente verfrachtet und dadurch unsichtbar gemacht. Viele Jahre lang bediente man sich zu diesem Zweck der repressiven Regime von Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ben Ali in Tunesien. Vor allem aus Italien und Spanien wurden tausende Flüchtlinge direkt in die Lager in der libyschen Wüste und in tunesische Abschiebegefängnisse gebracht. Von ihrem weiteren Schicksal erfuhr man in Europa wenig.

Doch das könnte diesmal anders sein. Die europäische Öffentlichkeit ist sensibilisiert. Das Ausmaß der Anteilnahme an der Thematik, am Schicksal der Menschen, die es bis hierher schaffen und derer, die an europäischen Grenzzäunen hängenbleiben, ist größer als je zuvor. Noch nie sind uns die globalen Probleme so nah gekommen. Noch nie haben sie die Gemüter in Europa so sehr bewegt. In die eine und in die andere Richtung.

Mitgefühl und Angst, Hilfsbereitschaft und Abwehrreflexe sind nah beieinander. Es ist klar, dass auch diejenigen, die noch mehr Abschottung und Härte wollen, nun ihre Interessen artikulieren, auf die Straße gehen und sich wählen lassen. Seltsam wäre es eher, wenn sie das nicht täten. Und, so paradox es sein mag, gerade die Fremdenfeinde und Rechtspopulisten provozieren einen Klärungsprozess über politische und moralische Grundorientierungen in der europäischen Politik, über die Frage, ob Realpolitik und Menschenrechte nicht nur innerhalb der Staaten Europas, sondern auch im Verhältnis zu den Anderen, den Fremden, den fernen Ländern, zusammengehen.

Das Problem mit den universellen Menschenrechten

Die Asyl- und Migrationspolitik war schon immer ein Testfall für die „europäischen Werte“. Meistens ging der Test negativ aus. Im Jahr 1991, zwei Jahre nach der großen Zeitenwende von 1989, startete die EU eine erste gemeinsame migrationspolitische Initiative mit osteuropäischen Staaten, genannt „Budapester Prozess„.

Der damalige deutschen Innenminister Wolfgang Schäuble hatte das Projekt ins Leben gerufen, um die „irreguläre“ Migration in Europa zu stoppen. Osteuropa war damals noch nicht Teil der EU, und die zunehmende Ost-West-Wanderung innerhalb Europas war der deutschen Regierung ein Dorn im Auge. Die Berliner Mauer war gefallen, der eiserne Vorhang zerrissen, die große Freiheit wurde gefeiert und die Botschaft von der „Universalität der Menschenrechte“ ging als Versprechen um den Globus.

Und dann kam es zu einem abrupten Wandel im europäischen Wertesystem. Denn mit dem „Budapester Prozess“ verfolgte die EU im Kern das Ziel, den Menschen aus Osteuropa, die – begleitet vom einhelligen Jubel der westlichen Welt – ihre Reisefreiheit gerade erst gewonnen hatten, den Weg nach Westeuropa gleich wieder zu versperren.

Damals wurde der bis dahin ehrenwerte „Fluchthelfer“ zum kriminellen „Schlepper“ oder „Schleuser“ deklariert. Die Ausreisefreiheit, lange Zeit eines der höchsten Güter im Katalog der Menschenrechte, mutierte zu einer unerwünschten Quelle illegaler Grenzüberschreitungen, zu einem lästigen Problem, das man irgendwie in den Griff bekommen wollte. Dieser Bruch im europäischen Wertesystem war so nachhaltig, dass einige nordafrikanische Staaten, wie zum Beispiel Marokko und Algerien, noch viele Jahre später von der EU dazu gebracht wurden, den Straftatbestand der „illegalen Ausreise“ einzuführen, der dort bis heute existiert.

Auf den internationalen Märkten brach währenddessen die Zeit der großen Freiheit an. Da wurde liberalisiert und dereguliert, eine dynamische Phase der Globalisierung setzte ein, in der auch die Wirtschaftsmacht EU eine sehr aktive Rolle spielte. Westeuropäische Unternehmen eroberten rasch die Märkte Osteuropas. Im Süden konzentrierte man sich zunächst auf Nordafrika und rief zu diesem Zweck ein weiteres multinationales Dialogprojekt ins Leben: den „Barcelona-Prozess“. Er sollte den Weg in eine Euromediterrane Freihandelszone ebnen und die Märkte südlich des Mittelmeers weit über die WTO-Verpflichtungen hinaus öffnen und liberalisieren.

In beiden Politikfeldern nahmen die Weltmachtambitionen und Herrschaftsstrategien der EU konkrete Gestalt an. Beide entwickelten ihre jeweils eigene Dynamik von Entgrenzung und Freiheitsbeschränkung. Das Design einer ganzen Epoche der Globalisierung wurde damals gestaltet. Und es zeigte sich schnell, dass die Entgrenzung der wirtschaftlichen Globalisierung nicht mit den universellen Menschenrechten konform läuft.

Denn die Verlierer der Globalisierungsprozesse sollten im Schatten bleiben. Im Schatten des Wohlstands und eines maßlosen Lebensstils, der es vielen Europäern beispielsweise erlaubt, nach Lust und Laune in ferne Länder zu fliegen, während die Bürger dieser fernen Länder in Europa vor verschlossenen Türen stehen. Wenn sie die Grenzen der globalen Apartheid überwinden wollen, verfrachtet man sie vorzugsweise in die Dunkelfelder autoritärer Regime, abseits von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und einer funktionierenden Öffentlichkeit.

Im Barcelona-Prozess kam die EU relativ schnell voran. Mit Tunesien konnte sie bereits 1995 ein Assoziierungsabkommen unterzeichnen, mit Marokko im Jahr 2000, mit Algerien 2002, mit Ägypten 2004. Alle diese Abkommen enthielten Freihandelsvereinbarungen, die in anschließenden Verhandlungen mehr und mehr erweitert und vertieft wurden.

Bald nach ihrem Inkrafttreten setzte in Nordafrika ein rasanter wirtschaftlicher Wandel ein, in dem viele Menschen ihre Existenzgrundlagen verloren. Auch Länder wie Marokko, denen vielfach eine erfolgreiche Modernisierungspolitik bescheinigt wird, verzeichnen seitdem hohe Arbeitslosenraten und zunehmenden Migrationsdruck.

Es sind die typischen Folgen einer ungeschützten Modernisierung. Um dem Konkurrenzdruck der EU-Agrarwirtschaft standzuhalten, musste sich die marokkanische Landwirtschaft rasch industrialisieren. Tausende Kleinbauern schmissen das Handtuch und wanderten in die Städte ab. Dort war die marokkanische Industrie einem brutalen Wandel ausgesetzt. Viele Unternehmen der Textilbranche, eine Hauptstütze der marokkanischen Wirtschaft, konnten die Öffnung der Märkte nicht überleben. Stattdessen lassen heute europäische Firmen wie Zara, S.Oliver, Mango, Otto und Brax in Marokko produzieren. Die europäische Textilindustrie nutzt die billigen marokkanischen Arbeitskräfte und schwärmt dabei in den höchsten Tönen vom „Sourcing-Standort“ Marokko.

Viele Einheimische jedoch verloren auf diesem Standort den Boden unter den Füßen. Die Zahl der marokkanischen Familien, die nur dank der Überweisungen von Migranten überleben können, nahm stetig zu. Über drei Millionen Marokkaner leben mittlerweile im Ausland, dreimal so viele wie vor 15 Jahren. Ihre Überweisungen werden insgesamt auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt.

Ökonomen sprechen oft von einer „Mobilisierung“ der Bevölkerung im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Öffnung und Modernisierung, von einer „Freisetzung von Arbeitskräften“ durch „Transformationsprozesse“. Tatsächlich handelt es sich um Enteignungsprozesse, die eine Fluchtbewegung in die Armenviertel der großen Städte auslösen. Solange sich die Wirtschaft dynamisch entwickelt, können die sozialen Folgen aufgefangen werden. Wenn jedoch das Wachstum ins Stocken gerät, gibt es für die meisten Menschen kein Zurück mehr, nur noch ein Weiter, zum Beispiel Richtung Europa.

Auffanglager, Polizeistationen und Überwachungssysteme

Es hat also eine gewisse Logik, dass die EU in denselben Weltregionen, in denen sie wirtschaftlich expandierte und nationale Ökonomien aufbrach, auch ihre Abschottungspolitik vorantrieb. Den „mobilisierten“ Teilen der Bevölkerung sollte der Weg nach Europa versperrt werden. Im Juli 2006 initiierte die EU den „Rabat-Prozess“ mit zahlreichen Ländern Nord-, West- und Zentralafrikas. 2014 folgte der „Khartum-Prozess“ mit den Ländern am Horn von Afrika. Möglichst viele der beteiligten Länder sollen in die europäische Migrationsagenda eingebunden werden und mit der EU „Mobilitätspartnerschaften‘“ vereinbaren.

Mit ihren „Mobilitätspartnern“ entwickelt die EU in der Regel gemeinsame Aktivitäten zur Grenzüberwachung, zum Auskundschaften von Migrationsrouten und beim Kampf gegen Schleuser. Im Lauf der Jahre entstand so vor allem in Nordafrika ein Netz von Auffanglagern, Polizeistationen und Überwachungssystemen. Die EU gewinnt dabei direkten Einfluss auf grundlegende Staatsfunktionen und auf die Bewegungsfreiheit der Bürger anderer Kontinente, deren Aufbruch Richtung Europa bereits im Heimatland oder in einem Transitland gestoppt werden soll.

Sie zahlt afrikanischen Regierungen viel Geld dafür, dass sie Migranten festnehmen, einsperren und zurückschieben. Im Rahmen einer solchen Kooperation gehen etwa marokkanische Behörden seit Jahren mit großer Brutalität gegen schwarzafrikanische Migranten vor, die über Marokko nach Europa gelangen wollen. Die Flüchtlinge, derer man habhaft wird, werden in Auffanglager deportiert und häufig gefoltert und misshandelt.

In Niger, auch ein wichtiges Transitland für Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika, baut die EU ein „multifunktionales Zentrum“ auf, das als Auffanglager für Flüchtlinge dienen soll. Ergänzend errichtet die deutsche staatliche Entwicklungshilfeorganisation GIZ Grenzposten und bildet Grenzpolizisten aus.

In Mauretanien sind spanische Polizeikräfte direkt im Einsatz, um Flüchtlinge daran zu hindern, auf die Kanarischen Inseln überzusetzen. Beamte der Guardia Civil führen mit den mauretanischen Kollegen gemeinsame Patrouillen durch, in Küstengewässern, in Häfen, im Landesinneren. Sie können sogar eigenhändig Migranten festnehmen und den nationalen Behörden übergeben. Ähnliche Kooperationen gibt es mit Senegal und Kap Verde. Sie sind größtenteils von der EU finanziert, im Rahmen des Projekts „Seahorse Atlantic“. Ein Arrangement nach mauretanischem Vorbild strebt die EU heute offenbar auch in Libyen an.

Auch die Türkei steht schon lange auf der Agenda der EU-Migrationspolitik. Ein Rücknahmeabkommen mit dem Land am Bosporus existiert seit Dezember 2013. Darin verpflichtet sich die Türkei, ab Oktober 2017 alle Flüchtlinge, die über ihr Territorium nach Europa kamen, wieder aufzunehmen.

Die aktuelle Flüchtlingswelle hat lediglich das Procedere beschleunigt und den Preis, den die türkische Regierung verlangen konnte, in die Höhe getrieben. Was von der deutschen Bundeskanzlerin als „europäische Lösung“ der Flüchtlingskrise gepriesen wird, ist nichts anderes als die Fortsetzung der Flüchtlingspolitik, die von der EU seit Jahrzehnten betrieben wird. Sie ist tatsächlich eine „türkische Lösung“ europäischer Probleme, ähnlich wie die „mauretanische“, die „marokkanische“ oder die einstige „libysche“ Lösung.

Der offensichtliche Vorteil dieser Kooperationen für die EU ist, dass die Verletzungen der Menschenrechte außerhalb Europas stattfinden, wo nur wenige Bilder an die Öffentlichkeit kommen. Das erleichtert das kollektive Verdrängen. Die Öffentlichkeit wird ruhiggestellt – eine Methode, die man eigentlich eher von autoritären Staaten kennt. Und die EU kann nach wie vor ihr Image als zivile Macht pflegen, die Menschenrechte achtet, während sie ein Netzwerk der Kontrolle und Repression gegen jene finanziert, die den Schutz ihrer Menschenrechte in Europa suchen wollen.

Europa verteidigt globale Strukturen der Ausbeutung und Kontrolle

Die große Aufbruchsbewegung aus den syrischen Kriegsgebieten, aus Irak und Afghanistan, hat die EU trotz all ihrer globalen Kontrollstrukturen unvorbereitet getroffen. Diesmal waren es die Europäer, die die Erfahrung eines Kontrollverlustes machten. Für viele in Europa sieht es jetzt so aus, als wollten die europäischen Staaten nur das Eigene kontrollieren: das eigene Territorium, die eigenen Grenzen. Tatsächlich verteidigt Europa damit aber auch eine globale Struktur der Ausbeutung und der Kontrolle über andere Erdteile und die Lebenschancen anderer Menschen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat die europäische Wirtschaft ihre Kontrolle über die Ressourcen anderer Kontinente systematisch ausgebaut, über die Märkte, die Bodenschätze, das Ackerland, die Fischgründe und die Arbeitskräfte. Gleichzeitig baut sie internationale Strukturen auf, um die Politik in diesen Ländern zu beeinflussen und die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger einzuschränken.

Vor welchen Alternativen steht Europa heute aus dieser Perspektive? Die Europäer könnten sich dafür entscheiden, einen globalen Wandel mitzugestalten, der sich ohnehin am Horizont abzeichnet. Die Flüchtlinge sind in gewisser Weise seine Vorboten.

Die expansive, marktradikale Phase des globalen Kapitalismus stößt zunehmend an wirtschaftliche, soziale und ökologische Grenzen. Ein Indiz dafür ist, dass sich die Weltwirtschaft von der Finanzkrise des Jahres 2008 nie mehr richtig erholen konnte. Der Planet ist abgegrast. In Europa, Japan und den USA kann ein geringes Wirtschaftswachstum nur noch mit Hilfe einer expansiven Geldpolitik durch die Zentralbanken aufrechterhalten werden. Einige Länder des globalen Südens, die ihre Ökonomien geöffnet und modernisiert haben, setzen hart in der Wirtschaftskrise auf.

Europa ist der Kontinent, der im vergangenen Jahrhundert jenes berühmte „europäische Sozialmodell“ entwickelt hat, in dem die unteren Klassen ihre Teilhabe an der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung Stück für Stück verbessern konnten. Ist es nicht ungefähr das, was heute im globalen Maßstab auf der Tagesordnung steht?

Im Rahmen dieser Option müsste sich Europa wieder am eigenen Wertesystem orientieren und die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte zum Maßstab des eigenen Handelns machen. Das gilt in der Außenwirtschaftspolitik, aber auch im Umgang mit den Flüchtlingen. Anstelle von Zwangsmaßnahmen, Kriegsschiffen und Grenzzäunen brauchen die Flüchtlinge menschenwürdige Lebensbedingungen, Gesundheitsversorgung, Bildung und Lebensperspektiven – überall dort, wo sie sind. Hier könnte auch kurzfristig viel erreicht werden, wenn man die humanitären Organisationen der UN regulär durchfinanzieren würde, statt sie zu chronisch unterfinanzierten Bittstellern zu degradieren. Die Zahl der Menschen, die unbedingt nach Europa kommen wollen, würde dadurch ganz von selbst kleiner werden.

Die andere Möglichkeit ist, dass Europa sich weiterhin abschottet, sein Wertesystem endgültig verschrottet und die globale Spaltung immer weiter vertieft. Viele Europäer versprechen sich davon heute mehr Sicherheit und die Wahrung ihrer Besitzstände. Aber wie sicher kann das zukünftige Leben in Europa sein, wenn die weltweiten Gegensätze immer schroffer werden, wenn es immer mehr gewaltsame Eruptionen gibt? Auch das ist also ein Experiment mit äußerst unsicherem Ausgang.

Nicht zuletzt sind da noch die Flüchtlinge selbst, die längst zu Akteuren des Weltgeschehens geworden sind. Sie werden ja nicht weniger. Die europäische Abschottungspolitik führt dazu, dass immer mehr von ihnen in Lagern leben müssen, in Ländern, in denen sie eigentlich nicht bleiben wollen. Wie werden sie reagieren?

Die Flüchtlingsbewegung ist bis jetzt im Wesentlichen als Bewegung im körperlichen Sinne sichtbar. Menschen bewegen ihren Körper und ein paar Habseligkeiten von einem Land ins andere. Das kann sich jedoch schnell ändern. Ansätze politischer Flüchtlingsinitiativen haben sich schon vor Jahren gebildet. Flüchtlinge sind Menschen, die über all ihre Unterschiede hinweg gemeinsame Interessen haben. Sie wollen, dass ihre Rechte als Flüchtlinge respektiert werden. Durch ihre Fluchtbewegung stehen sie auch für die Interessen unzähliger Menschen des globalen Südens an einer fairen Verteilung von Lebenschancen. Hier könnte die erste weltweite Bewegung entstehen, die den Strukturen des globalen Kapitalismus entgegentritt.

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