20. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Migration: Jugend an die Macht!“ · Kategorien: Europa, Lesetipps

Quelle: Zeit Online

Unsere Debatte über die Flüchtlingskrise wird von älteren Intellektuellen bestimmt. Sie schüren Ängste, wo Offenheit vorherrscht. Ihre Verzagtheit erweist sich als gefährlich. Ein Plädoyer für mehr Zuversicht

Von Richard David Precht und Harald Welzer

Unlängst auf einer Veranstaltung zur Offenen Gesellschaft im Deutschen Theater in Berlin meldete sich eine 17-jährige Schülerin. Sie wundere sich, sagte sie, was „die Älteren“ alle für eine Panik hätten wegen der Flüchtlinge. „Ich sag denen: Hey, Leute, das ist jetzt einfach ’ne neue Phase, das ist nichts Schlimmes!“ Ein guter Satz. Moderne Gesellschaften bekommen ihre Modernisierungsimpulse nicht von innen heraus. Denn im Innenraum sitzen ja die, die sich in den Verhältnissen gut eingerichtet haben und an nichts so wenig interessiert sind wie an Veränderung.

Warum hat sich der Kapitalismus seine ganze Geschichte hindurch modernisiert, woher rührt seine im Vergleich zu anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen ungeheure Modernisierungsfähigkeit? Er hat gewissermaßen einen eingebauten Dynamo in Gestalt von geopolitischen Wandlungsprozessen, natürlichen und politischen Katastrophen, aufbegehrenden Gruppen, was ihn beständig zu Modernisierungen zwingt, zu denen Marktmechanismen allein nicht führen. Zur Modernisierung moderner Gesellschaften braucht es Impulse durch soziale Bewegungen, die die kapitalistische Welt nicht nur gerechter, sondern auch überlebensfähig machen.

Nur ein Drittel der Jugendlichen möchte die Zuwanderung begrenzen

Die Frage nach flüchtenden, aus- und einwandernden Menschen ist eine Frage von epochaler Bedeutung. Sie wird für die nächsten Jahrzehnte bestimmend bleiben und ist damit viel zu groß, zu wichtig und zu ernst, als dass man sie nach den Freund-Feind-Bedürfnissen von Männern diskutieren könnte, die nicht mehr so recht in die Zeit passen. Sich vor „Überrollung“ und „Flutung“ zu fürchten, wie es Peter Sloterdijk tut (ZEIT Nr. 11/16), ist in einer multipolaren Welt mit ökologischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten von gestern. Man würde sich von Denkern wie ihm und Rüdiger Safranski gerne mehr Frische und mehr Mumm wünschen und vor allem mehr Beherztheit. Wie viel könnten sie dabei von den Jüngeren lernen! Die Shell-Jugendstudie vom vergangenen Jahr fragte junge Menschen nach ihrer Haltung zur Zuwanderung. Noch nie zeigten sich die 15- bis 24-Jährigen so aufgeschlossen wie heute: Nur noch etwas mehr als ein Drittel der Jugendlichen wünscht sich, dass sich die Zuwanderung verringert. Vor zehn Jahren wollten das noch 58 Prozent. So schnell verändert sich die Welt. Und im selben Jahrzehnt ist zugleich das Politikinteresse bei den 15- bis 24-Jährigen von 39 auf 46 Prozent gestiegen.

Man sollte diese Werte in Beziehung zu jener sozialen Bewegung setzen, der man das unpolitische Wort „Willkommenskultur“ angeheftet hat. Im vergangenen Spätsommer betrachtete eine Bevölkerungsmehrheit die „Flüchtlingsfrage“ ganz und gar phobiefrei. So trieb sie die Politik im Modus der gelebten Verantwortungsübernahme vor sich her. Obwohl Politik und Medien beständig argwöhnten, dass „die Stimmung kippt“, gab die Mehrheit unverdrossen zu Protokoll, dass sie für die Aufnahme von Flüchtlingen sei. Man kann dieses unglaubliche praktische Engagement in der Flüchtlingshilfe als Sternstunde der Demokratie und der offenen Gesellschaft würdigen. Doch die mediale und politische Optik fokussierte sich in äußerster Detailverliebtheit auf erstens „Probleme“ und zweitens „Rechtsextreme“. Und beides wurde dabei in der Ökonomie der Aufmerksamkeit ebenso aufgewertet, wie es die atemberaubende Demokratiefähigkeit der Mehrheit abwertete.

Wenn man wohlwollend ist, nimmt man an, dies sei absichtslos geschehen. Doch die rasante begriffliche Aufrüstung von Cicero bis FAZ lässt daran leider zweifeln. Sie hat den Diskurs über eine große gesellschaftliche Herausforderung immer weiter hysterisiert. Statt mit der normativen Kraft des Faktischen haben wir es mit einer normativen Kraft des Fiktiven zu tun. In Staaten wie dem Libanon ist jeder Fünfte ein Flüchtling. Jordanien gibt ein Viertel seines Staatshaushaltes für Flüchtlingshilfe aus. In Deutschland ist nicht mal jeder Vierzigste ein Flüchtling, und die Staatsausgaben für Zuwanderer liegen im niedrigen einstelligen Bereich. Trotzdem konstatieren Kommentatoren „Staatsversagen“. So hält das völlig fiktive Bild eines kollabierenden und überrannten Landes dafür her, harte Maßnahmen zu fordern. Wer hier die öffentliche Ordnung kollabieren sieht, redet wohlgemerkt von Deutschland im Jahr 2016 und nicht von Syrien, Afghanistan oder Somalia. Nicht die Realität, sondern Übertreibung und Phantasma begründen die immer stärkere begriffliche Aufrüstung.

Jede gesellschaftliche Herausforderung ging und geht einher mit Umbrüchen und mit Überforderungen. Und immer wieder gibt es Menschen, die das Gefühl haben, „nicht mehr mitzukommen“. Das produktiv Verstörende hat die Überforderten noch immer gegen jeden Modernisierungsschub wettern lassen. Die Geschichte der Frauenbewegung, die Initiative zur Abschaffung der Sklaverei oder die blutigen Querelen im Kampf um humane Arbeitsbedingungen geben davon beredtes Zeugnis. Stets wurden von ihren Gegnern der Verfall der Sitten und eine Katastrophe mit unabsehbaren Folgen konstatiert. Am Ende aber hat jede soziale Bewegung das Leben in unserer Gesellschaft lebenswerter gemacht.

Die Migrationsbewegung, die wir derzeit erleben, ist keine sozialrevolutionäre Vereinigung. Aber sie ist eine Herausforderung an unsere kapitalistische Gesellschaft, die neue Impulse setzt, weil sie zum Umdenken zwingt. Weil sie uns dringlich vorführt, was wir alle wissen: wie unfair die Chancen auf ein erfülltes Leben in der Welt verteilt sind. In diesem Bewusstwerden von Unfairness liegt ihr gesellschaftlicher Sprengstoff. Wie früher die Sklaverei, die Frauenfrage oder die Arbeiterfrage haben wir die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen lange als naturgegeben betrachtet. Aber sie ist ebenso wenig naturgegeben wie einst die Rolle der Sklaven, der Frauen oder der Arbeiter. Die weltweit wachsende Zahl von Flüchtlingen ist eine soziale Tatsache, und das 21. Jahrhundert zwingt uns, sie ernster zu nehmen als zuvor.

Diese soziale Tatsache ist durch Abschottung nicht aus der Welt zu schaffen. Das allerdings heißt, dass wir unsere eigenen Werte ernster nehmen müssen als bisher. Das wird im Detail gewiss nicht bedeuten, alle Menschen aller Länder bei uns aufzunehmen. Aber es bedeutet die Übersetzung der Flüchtlingsfrage in eine, die sich direkt an uns selbst richtet: Was können und was müssen die reichen Gesellschaften des Westens tun, um ihren eigenen Werten zu entsprechen?

Die Außenpolitik ist schuld, sie befand sich zu lange im Fahrwasser der USA

Fragestellungen dieser Größenordnung wecken Ängste. Es sind naheliegende Ängste, denn von Lösungen sind wir, trotz des beherzten Einsatzes der Kanzlerin, weit entfernt. Es sind gerechtfertigte Ängste vor einem Anwachsen von Kriminalität, wenn es uns nicht gelingt, eine Integrationspolitik zu machen, die diesen Namen auch verdient. Doch eine pauschale Lösung gibt es nur in Märchen. In der Realität muss man der Herausforderung auf verschiedenen Feldern begegnen. Dabei wird klar, dass das Flüchtlingsthema genau dort Probleme sichtbar macht, wo sie ohnehin vorhanden sind und jetzt lediglich virulenter werden.

Ein erstes Feld wäre die Bildungspolitik. Schon lange zweifeln nur noch wenige daran, dass unser Bildungssystem den Anforderungen der Gegenwart und der Zukunft nicht mehr gewachsen ist. Immer wieder haben wir daran herumgeflickt wie an einem alten Sonntagsanzug, haben Knöpfe ergänzt und Borten darangenäht. Aber all diese sogenannten Reformen haben nichts daran geändert, dass bereits die Integration von Migrantenkindern der zweiten und dritten Generation so gut wie nicht gelingt.

Das Desaster ist Bildungsforschern und Kultusministern bekannt, und doch fehlt allerorten der Mut zum Neubau unseres Bildungssystems. Wörter wie „Chancengerechtigkeit“ und „Potenzialentfaltung“ bleiben heiße Luft, solange wir mit einem Schulsystem operieren, das für beides nicht gemacht und gedacht ist. Um wie viel größer wird diese Misere werden, wenn Hunderttausende von Flüchtlingskindern in unseren Schulen keine echte Chance haben werden? Ohne Zweifel werden wir die allgemeine Bildungspflicht des Staates auf eine Kindergartenpflicht ausweiten müssen. Wir könnten endlich unser völlig überholtes dreigliedriges Schulsystem einebnen, das Hauptschüler zu nicht benötigten Restschülern abstempelt. Und wir könnten das Lernen in den Schulen so individualisieren, dass jeder nach allen Kräften gefördert wird, statt alle über einen Kamm zu scheren, demotiviert durch den Maßstab des Mittelmaßes. Wie all dies in der Praxis funktioniert, ist längst bekannt und erprobt. Und doch fehlt der Ruck, der durch das Land gehen müsste, um diese Aufgabe anzupacken.

All das wird umso besser gehen, wenn es – auf einem zweiten Feld – gelingt, all das Wissen und Können produktiv zu machen, das wir auf kommunaler Ebene bei der Integration der letzten Jahrzehnte erworben haben. Man denke nur an die Menschen, die während der Jugoslawienkriege zu uns gekommen sind. Und an die vielen Ex-OBs und Ex-Staatssekretäre, die hier ihre Erfahrungen gesammelt haben; Menschen, die heute keiner fragt und ernsthaft mit einbezieht, so als wären Migration und Integration etwas völlig Neues, das niemand bei uns kennt.

Ein drittes Feld ist die Außenpolitik. Das Thema ist so umfangreich, dass es hier nur auf wenige Sätze kondensiert skizziert werden kann. Man wird der deutschen Außenpolitik auch mit viel gutem Willen gewiss nicht nachsagen können, dass sie sich um Migrationsprävention gekümmert hat. Über Jahrzehnte hinweg hat sie offensichtlich nicht mal das Problem gesehen und vorhergesehen. Wir haben unsere Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten im Fahrwasser amerikanischer Interessen gesehen, und alle Abweichungen – etwa die Nichtbeteiligung am letzten Irakkrieg – kosteten viel Kraft. In Zukunft wird zumindest ein Kerneuropa mehr und mehr eine Außenpolitik machen, die das Interesse Europas verfolgt. Dass politisch nicht zu Ende gedachte Kriege der USA nicht nur Grausames in den betroffenen Ländern anrichten, sondern zudem Europa mit Millionen flüchtender Menschen konfrontieren, sollte spätestens von nun an nicht mehr vernachlässigt werden dürfen.

Ein viertes Feld ist die Entwicklungshilfepolitik. Wir finanzieren mit der Gießkanne in hundert Ländern irgendwelche kleinen Projekte. Doch diese nahezu symbolischen Hilfen bleiben politisch wirkungslos; ein Versuch, mit der Luftpumpe die Windrichtung zu ändern. Statt des Gießkannenprinzips brauchen wir eine Entwicklungshilfe, die sich auf einige wenige Länder konzentriert, gut abgestimmt mit den ausgewählten Ländern anderer EU-Staaten. Der erfahrene Praktiker Rupert Neudeck spricht in diesem Zusammenhang davon, Staaten zu „adoptieren“: gemeinsame Kabinettssitzungen abzuhalten, Geld und Know-how zur Verfügung zu stellen, bei Planungen des Staates als Partner dabei zu sein. Nur so lassen sich Länder wie etwa jene südlich der Sahara tatsächlich entwickeln.

Wer Mauern baut, muss auch bereit sein, auf Unschuldige zu schießen

Gegen all diese Vorschläge gibt es gute und schlechte Einwände. Sie sind den Verfassern in breitem Umfang bekannt. Doch wer etwas erreichen will, sucht sich Ziele; wer etwas verhindern will, sucht Gründe. Im Augenblick scheinen wir noch immer gelähmt zu sein von der Diktatur der Gründe über die Ziele. Unser öffentlicher Diskurs weiß immer sofort, wogegen er ist, aber fast nie, wofür. Das Schöne an den Einwänden, am Nörgeln und Unmöglichreden ist, dass es so risikolos ist. Und die Risiken sind in der Tat hoch. Wie bei allen gesellschaftlichen Umbrüchen stellt sich auch in der Migrationsdebatte die Frage, inwieweit die Verteilung des Wohlstands gerechtfertigt ist. Das schürt die Angst vor Abstrichen, Verzicht und Verlust. Wie naheliegend und wie idiotisch zugleich, dafür gerade jene verantwortlich zu machen, die – anders als wir – die augenblicklichen Verlierer der Weltgeschichte sind!

Aus sozialpsychologischer Perspektive mutet die vollkommen hysterisierte Diskussion allfälliger Real- und Fantasieprobleme mit „den Flüchtlingen“, die Klage über die „Willkommenskultur“, die dringend von einer „Verabschiedungskultur“ (FAZ) abgelöst werden müsse, wie ein gespenstisches Realexperiment zum Phänomen der shifting baselines an. Gemeint ist die unbemerkte Verschiebung der normativen Maßstäbe, die man an Geschehnisse anlegt. Das Phänomen ist an vielen unguten historischen Beispielen ausführlich beschrieben. Die Referenzrahmen der Wahrnehmung und Deutung von Ereignissen und Situationen wandeln sich oft erstaunlich schnell, und alle halten sich auch dann noch für moralisch integer, wenn sie schon längst der Gegenmenschlichkeit und ihren Maßnahmen zustimmen. Man kann zur Illustration die Geschichte eines Deutschen von Sebastian Haffner lesen oder in der Gegenwart beobachten, wie unter dem mutwilligen Einsatz intellektueller Stichwortgeber ein „Flüchtlingsproblem“ so ins Maßstablose vergrößert wird, dass am Ende die „Lösung“ der „Krise“ nicht etwa in der Modernisierung der Zuwanderungspolitik und des staatsbürgerlichen Selbstverständnisses, sondern in der Schließung der Grenzen imaginiert wird.

Ist denn nicht klar, dass diese Schließung mit Stacheldraht, Beton und Zement das, was wir für normal halten, noch weiter verschiebt? Wer Mauern baut, muss auch bereit sein, gegebenenfalls von ihnen herunter auf Unschuldige zu schießen, und – shifting baselines – auch daran werden sich nicht wenige Menschen im Land gewöhnen. Was wird dann der nächste Schritt sein? Was mit einem Grenzzaun beginnt, bringt schnell das moralische Fundament ins Rutschen, auf dem wir stehen. Am Ende werden diese Mauern archäologisch wichtige Monumente sein, Relikte einer Kultur, die es nicht schaffte, ihre dynamischen Spannungen konstruktiv zu lösen.

In der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück. Man kann sich vieles wünschen, was früher einmal besser gewesen sein soll. Aber wenn man es einfordert, wird der Rahmen des Sagbaren und Denkbaren und damit des Wünschbaren so verschoben, dass die gegenmenschlichen Ressentiments und verbalen Versatzstücke, die zuvor nur am rechten Rand heimisch waren, in die Mitte der Gesellschaft migrieren und diese selbst verändern.

Wir haben gute Gründe, uns vor dieser Migration rechter und menschenfeindlicher Vorstellungen, Begriffe und Maßnahmen zu fürchten. Bei all den Problemen, vor denen die offene Gesellschaft im 21. Jahrhundert steht, geht es gar nicht dümmer, als stilistisch tümelnd bis zur Selbstkarikatur darauf zu insistieren, dass die Welt sich bitte nicht verändern möge.

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