20. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Idomeni: Wenn Hoffnung alternativlos ist“ · Kategorien: Griechenland · Tags:

Quelle: Telepolis

Nach dem EU-Flüchtlingsgipfel haben die Flüchtlinge von Idomeni auch die letzte Hoffnung auf ein Öffnen der Grenze verloren. Das Ausharren im griechisch-mazedonischen Niemandsland ist für sie dennoch alternativlos

von Fabian Köhler

Am Ende verliert auch Suleiman die Beherrschung. Tagelang hat er seine Frau, die längst die Hoffnung aufgegeben hat, beschwichtigt und versucht, sie bei Laune zu halten. Aber nun kann auch er den Frust nicht mehr zurückhalten: „Sie haben uns vergessen. Einfach vergessen. Wenn sie uns wenigsten sagen würden, wir sollen in Syrien krepieren, aber nicht mal das tun sie“, schreit er in den überfüllten Raum, der mal ein Café war – damals als Europa noch grenzenlos war.

Über 10.000 Menschen leben wie Suleiman noch immer im griechisch-mazedonischen Niemandsland, dem Medien den Namen des kleinen Dorfs Idomeni gegeben haben. Seit Wochen hoffen sie hier darauf, dass sich das Versprechen auf ein sicheres Leben in Europa einlösen möge. Doch dieses gab ihnen bisher nur einen Alltag aus Schlamm, Lungenentzündung, überlaufenden Dixieklos und ein kleines bisschen Resthoffnung, dass sich das mit Nato-Draht verstärkte Tor am Ende der Bahngleise doch öffnen werde.

Seit Freitag hat Europa ihnen auch diese genommen: Die Spannung mit der die Flüchtlinge den Verhandlungen zwischen Türkei und EU entgegen fieberten, erinnerte ein bisschen an die entscheidenden Minuten während eines Fußballspiels. Nur ohne TV-Übertragung. Und ohne allzu große Hoffnung, dass die eigene Mannschaft siegreich aus dieser Partie gehen wird. „Hast du etwas von dem Treffen in Brüssel gehört“, ist den ganzen Tag über die meist gestellte Frage. Nein… Inschallah… Wir hoffen auf Merkel… Gäbe es in Brüssel tatsächlich eine Mannschaft, die für die Öffnung der Grenze spielt, Flüchtlinge wie Suleiman in Idomeni würden sie wahrscheinlich „Team Merkel“ nennen.

Die Flucht des Kurden Suleiman begann vor zwei Wochen in dem, was einmal der kurdische Teil Syriens war und der Krieg zu Rojava machte. Sie endete vor einem Jahr in Berlin. „Die wollten die Kopie unserer Heiratsurkunde nicht anerkennen“, redet er sich auch noch bei der dritten Wiederholung der Geschichte in Rage. „Die“ ist die Berliner Ausländerbehörde. Wegen dieser habe er zurückkehren müssen, um die Familienzusammenführung mit seiner Frau, die in Idomeni gestrandet ist, selbst in die Hand zu nehmen. Die Zusammenführung glückte – nicht in Deutschland, sondern in einem Zelt an der Zapfsäule für „Super Bleifrei“.

Die Grenze öffnet sich für den Güterzug, nicht für die Menschen

„Camp Tankstelle“ ist eines der vielen Camps im Umland von Idomeni, in das sich Flüchtlinge vor der Überfüllung und dem Schlamm erneut geflüchtet haben, das den unfreiwillig berühmt gewordenen Provinzbahnhof seit Wochen umgibt: Grüne Felder, die auch nicht wissen, wohin mit den Regenmassen der letzten Tage. Ein paar verlassene Traktoren, die der nächsten Ernte entgegenrosten. Die schneebedeckten Gipfel des Belasiza-Gebirges im Hintergrund, die zwischen Griechenland und Mazedonien zu einer Zeit die Grenze zogen, als es noch keinen NATO-Draht gab.

Idomeni gilt nun als Symbol dessen, was gemeinhin als Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik bezeichnet wird. Ein Versagen allerdings, auf das stets Verlass ist, wann auch immer an Europas Grenzen vermeintlich europäische Werte auf die Probe gestellt werden: Melilla, Lampedusa, Lesbos, Calais und nun Idomeni.

Am Bahngleis hat ein junger Mann aus Damaskus, die überall spürbare Resignation über das gebrochene Versprechen Europa versucht, in Worte zu fassen. „Wir haben den Krieg überlebt. Aber ihr lasst mich wünschen, ich hätte es nicht“, hat er auf ein Schild geschrieben. Den ganzen Tag steht er dort bis ihn am späten Nachmittag griechische Polizisten auffordern, den Weg frei zu machen. Für einige Minuten öffnet sich das Grenztor in Richtung Mazedonien: für den Güterzug, nicht für Menschen.

Bagger und Bulldozer verteilen immer mehr Resignation auf dem durchweichten Acker

Überall im Camp sind die Vergewisserungen dessen zu sehen, dass das hier nicht bald mit einem offenen Tor enden wird. Am Grenzzaun präsentiert ein Kurde stolz den Graben, den er um sein Zelt gegraben hat. Zusätzliche Entwässerungsrinnen sollen in den nächsten Tagen die Nachbarzelte miteinander und alles zusammen mit einem eigenen Wasserreservoir verbinden.

Zwei Männer schlagen Pfähle für Wäscheleinen in den Acker. Auf der anderen Seite des Camps ziehen Afghanen Bäume auf einem improvisierten Schlitten aus einem kargen Wäldchen durch den Matsch. Ein paar Meter weiter verteilen Bagger und Planierraupen noch mehr Resignation auf dem durchweichten Acker: Ein paar Stunden später ist das nächste Großzelt von Ärzte ohne Grenzen aufgebaut.

„Das machen die doch nicht, wenn sie nachher die Grenze öffnen wollen“, sagt Ahmad aus dem syrischen Hasaka. Mit vier Kindern und seiner Frau schaffte er es bis zur türkische Ägäis-Küste. Erst sank das Boot, dann ging das Geld aus. Seine Familie musste ohne ihn nach Deutschland. Er blieb in Idomeni zurück.

„Hast du etwas vom EU-Treffen gehört?“, fragt auch er am Abend bei einer Dose Bohnen aus dem Lagerfeuer. Die Antworten gibt er sich lieber gleich selber: „Inschallah“, „Ich muss aber…“, „Die können uns doch nicht…“. Alternativlosigkeit – vielleicht verbindet auch sie die Flüchtlinge mit „Team Merkel“.

Tragische Geschichten wie jene von Ahmad aus Hassaka finden sich in Idomeni mindestens einmal pro Zelt: Der 50-jährige Ali arbeitete als Polizist in Somalia. Als die Schabab-Miliz zum dritten Mal einen Anschlag auf ihn verübte, flüchtete er. Nun scheucht er morgens die Ratten aus dem Müll, um Brennbares gegen die Kälte zu sammeln.

Die 28-jährige Ranja arbeite als Apothekerin im syrischen Deir Azzur. Sie entkam dem IS, ihr Mann nicht. Nun schlägt sie sich allein durch: mit zwei Kindern und schwanger. Der 34-jährige Fatih trainierte Kickboxer in Syrien. Nun schlafen er, seine Frau und die beiden Kinder seit drei Wochen auf einem Tankstellenparkplatz.

Zurückkehren? Wenn du mir sagst, wohin

Das „Früher“, von dem er ständig spricht, scheint für viele Flüchtlinge so gegenwärtig, wie die überall zu spürende Frustration. Seit 10 Tagen läuft Fatih zweimal täglich fünf Kilometer bis zum Grenzzaun, nur um mit der immer gleichen resignierenden Nachricht umzudrehen. Ob er schon einmal darüber nachgedacht habe zurückzukehren? Seine Antwort beschreibt das Dilemma der meisten hier: „Wenn du mir sagst, wohin?“

Auch Abdullatif hat die Frage nach dem „Wohin“ für sich beantwortet. Nur wie er dahin kommen will, beantwortet er anders als die meisten. Es ist 23 Uhr am ersten Abend des Brüsseler Treffens, als er mit einer kleinen Gruppe Flüchtlinge aufbricht. „Hätte ich sterben wollen, wäre ich zu Hause bei meinen Eltern geblieben“, sagt er. „Gibt es Neues von der Grenze? Neues aus Brüssel…? Nein?“, fragt er ein letztes Mal und verschwindet hinter den ausrangierten Bahnwaggons.

Hinter ihm liegen zwei Jahre Flucht, und die bisher unerfüllte Hoffnung auf ein Leben. Nicht auf ein besseres, sondern überhaupt eines: Seine Schwester ist tot, seine Eltern zu alt und krank, um zu fliehen, seine ist Heimat zu zerstört, um zu bleiben. Es ist sein fünfter Ausbruchsversuch. Am Morgen danach sitzt Abdullatif wieder im Camp am Lagerfeuer aus brennenden Müll.

Erst am nächsten Morgen herrscht in Idomeni schließlich Gewissheit, dass auch weiterhin keine herrscht. Flüchtlingsabkommen heißt das, was EU und Türkei verhandelt haben, doch über die Flüchtlinge in Idomeni fällt kein Wort. Es ist der Morgen, an dem nicht nur Suleiman die Fassung verliert.

Fatih, der Kickboxer aus Aleppo, versucht einen Afghanen zu beruhigen, der droht, sich die Kehle durchzuschneiden. Samir, dessen einziges lebendes Familienmitglied sein in Schweden lebender Bruder ist, liegt schweigend mit dem Kopf auf der Tischplatte. Eine junge Mutter aus dem syrischen Hasaka hält ihr weinendes Kind in die Luft und schreit, wie man das ihrer Tochter nur antun könne.

Suleiman sitzt wenig später wieder am Zelt neben der Zapfsäule für „Super Bleifrei“ und antwortet nach einer langen Pause auf die Frage, auf die hier kaum einer eine Antwort hat: „Vielleicht kehren wir doch nach Kurdistan zurück. Oder gibt es doch Neues von der Grenze?“

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