13. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlings-Deal mit der Türkei: Plan ohne Sinn und Verstand“ · Kategorien: Europa, Türkei · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Der geplante Austausch von Flüchtlingen mit der Türkei ist unlogisch, bestenfalls inkompetent, schlimmstenfalls aber zynisch zu nennen. Er kann nicht funktionieren.

Ein Gastbeitrag von Joachim Behnke

Beim EU-Gipfel vom 7. März wartete die Türkei überraschend mit einem Vorschlag auf, der von Angela Merkel als „Durchbruch“ bezeichnet wurde, aber auch von anderen Akteuren als ein Fortschritt in Hinsicht auf die Lösung des Flüchtlingsproblems angesehen wird. Positiv an diesem Vorschlag ist, dass die EU als EU über ihn diskutiert – und das Flüchtlingsproblem also als ein europäisches Problem behandelt, was es ohne Zweifel auch ist. Insofern kann man hierin in gewisser Weise eine Bestätigung der grundsätzlichen Haltung Angela Merkels sehen.

Allerdings hat diese Bestätigung bisher bestenfalls symbolischen Charakter, was womöglich für Merkel angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen tatsächlich auch das primär zu verfolgende Ziel darstellte. Es ist allerdings fraglich, inwiefern dieser Vorschlag auch von substanzieller Bedeutung sein könnte. Denn die in ihm enthaltene avisierte Lösung geht von Annahmen aus, die als äußerst zweifelhalt gelten müssen.

Ohne Kontingente unmöglich, mit Kontingenten unnötig

Der Kern des Vorschlags besteht darin, dass die Türkei alle illegal von der Türkei aus nach Griechenland eingereisten Flüchtlinge wieder zurücknimmt, wobei für jeden aus Griechenland in die Türkei zurückgesandten Syrer ein sich in der Türkei befindender Syrer legal über eine Luftbrücke nach Europa ausreisen kann.

Die offensichtliche konzeptionelle Lücke, darauf wurde schon von vielen Kommentatoren hingewiesen, besteht in der Nichtbehandlung der Frage, in welche Länder die legal nach Europa ausreisenden Syrer kommen würden bzw. nach welchem Kriterium sie den einzelnen Ländern zugeteilt werden sollen. Wenn man es nicht den Flüchtenden selbst überlassen will, ihr Zielland zu benennen, was aus der Sicht Deutschlands das bestehende Problem nicht mindern, sondern noch einmal verschärfen würde, müsste es ein Kriterium der Zuweisung geben, das für alle EU-Länder verbindlich deren Verpflichtungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen festlegt. Damit wären wir aber wieder bei der bekannten Kontingentlösung, die ohne Zweifel normativ begründet werden kann, deren Umsetzung aber derzeit am politischen Willen der betroffenen Länder scheitert.

Ein Gelingen des Türkei-Vorschlags setzt somit genau das Funktionieren des Mechanismus voraus, der auch bisher nicht erfolgreich umgesetzt werden konnte. Auf den Punkt gebracht: Der Türkei-Vorschlag ist sinnlos ohne die Kontingentlösung, wenn es diese aber gäbe, bräuchte es den Türkei-Vorschlag nicht.

Denn dann könnte man die Flüchtlinge auch genauso gut direkt über die einmal geplanten Hotspots aus Griechenland auf die europäischen Länder verteilen. Der Vorteil des Türkei-Vorschlags könnte dann bestenfalls darin bestehen, dass man sich hierbei eine effektivere Ausfilterung der syrischen Flüchtlinge verspricht, denen man eine legale Einreise nach Europa ermöglichen will (bzw. eine effektivere Negativauswahl von nichtberechtigten Personen wie zum Beispiel Menschen aus nordafrikanischen Ländern oder Afghanistan). Warum aber die türkische Verwaltung die durchaus nicht wenig anspruchsvolle Aufgabe der Registrierung und Auswahl, d.h. einer Priorisierung der Flüchtlinge nach ihren Ausreiseansprüchen, besser bewältigen können sollte als griechische Behörden, die hierbei zudem von europäischen Beamten unterstützt werden könnten, ist schwer nachvollziehbar.

Der zuletzt verbleibende „Vorteil“ der türkischen Lösung könnte dann nur noch darin gesehen werden, dass wir der Türkei diese Effektivität im Umgang mit den Flüchtlingen nur deshalb zutrauen, weil sie uns in letzter Zeit immer wieder auf überzeugende Weise ihr sehr robustes Rechtsverständnis bewiesen hat, auf dessen Basis sich die Türkei wesentlich leichter damit tun könnte, sich über Ansprüche von Menschen und Gruppen hinwegzusetzen, die wir diesen, nach europäischem Recht und im Wunsch ein bestimmtes Selbstbild aufrechtzuerhalten auf europäischem Boden, nicht verweigern könnten.

Anreize, die sich ihrer eigenen Grundlage berauben

Noch schwerwiegender an dem Vorschlag aber ist, dass er nach vernünftigem Ermessen gar nicht funktionieren kann. Denn er versucht eine bestimmte Form der Verhaltenssteuerung durch das Setzen von Anreizen zu erzielen, die sich im Falle ihres erfolgreichen Wirkens gleichzeitig ihrer eigenen Grundlage berauben würden.

Der geplante Mechanismus ist ein Abschreckungsmechanismus, der syrische Flüchtlinge davon abhalten soll, die gefährliche Fahrt über die Ägäis nach Griechenland zu unternehmen. Diese Flüchtlinge sollen dann in die Türkei zurückgesandt werden und würden für ihre Unternehmung dadurch bestraft, dass sie auf der Priorisierungsliste ganz nach unten gesetzt würden. Die erfolgreiche Abschreckung soll das Geschäft der Schlepper unterminieren und den syrischen Flüchtlingen die Gefahr einer Überquerung der Ägäis ersparen.

Der Entwurf dieses Mechanismus kann sich allerdings entweder nur einer gehörigen Portion von Inkompetenz und Ignoranz verdanken oder einer nicht unbeträchtlichen Portion von Zynismus im heuchlerischen Gewand eines wohlwollenden Paternalismus. Denn wenn er tatsächlich funktionieren sollte, also die syrischen Flüchtlinge erfolgreich davon abhalten sollte, nach Griechenland überzusetzen, dann gäbe es ja auch keine syrischen Flüchtlinge mehr, die legal von der Türkei nach Europa ausreisen könnten. Denn damit die auf der Priorisierungsliste oben stehenden Syrer erfolgreich in europäische Länder umgesiedelt werden können, darf der Fluss der illegal nach Griechenland reisenden Flüchtlinge nicht abreißen.

Es könnte also theoretisch sogar ein ganz neues Geschäftsmodell entstehen, das den Beruf des Schleppers ins Gegenteil verkehren würde, nämlich das des „Flüchtlingsreisenden“. Die auf der Priorisierungsliste oben stehenden Syrer würden nun ihr Geld besser nicht in Schlepper investieren, sondern in „Flüchtlinge“, die durch ihre Reise nach Griechenland den ansonsten verstopften Abfluss nach Europa wieder freimachen würden.

Das Dilemma, in dem sich die syrischen Flüchtlinge untereinander befinden, entspricht einer Anreizsituation, die der sehr ähnlich ist, die in der Spieltheorie als „Chicken Dilemma“ bezeichnet wird. Flieht keiner mehr nach Griechenland von der Türkei aus, dann kann auch keiner nach Europa ausreisen. „Opfern“ sich hingegen einige, indem sie nach Griechenland aufbrechen, öffnen sie das Tor für die anderen Flüchtlinge für die Umsiedlung nach Europa.

Man könnte sich daher rein theoretisch auch eine Art informellen „Generationenvertrag“ zwischen den verschiedenen Kohorten der Flüchtlinge vorstellen, nach dem die jeweils neu in der Türkei landende Generation sich als erstes nach Griechenland aufmacht, um von dort wieder zurück in die Türkei abgeschoben zu werden, damit die vorhergehenden Generationen sich nach Europa begeben können. Die zurück abgeschobene Generation rückt nun auf der Warteliste nach oben und hofft auf die nächste Generation von Flüchtlingen, die erst in die Türkei kämen, um sich von dort aus prompt zu ihrem Zwischenaufenthalt in Griechenland aufzumachen.

Solche Generationenverträge funktionieren in der Realität allerdings nicht einmal in geschlossenen Gesellschaften und können dort bestenfalls durch Erzwingung, wie im Fall unseres Rentenversicherungssystems, durchgesetzt werden. Doch so unrealistisch diese Lösungen des vorliegenden „Koordinationsproblems“ der Flüchtlinge auch sein mögen, sie zeigen jedenfalls überzeugend die völlig inkonsistente Anreizstruktur des vorgeschlagenen Mechanismus auf. Der Vorschlag kann nicht funktionieren und er wird nicht funktionieren.

Bestenfalls Zeitgewinn per Scheinlösung

Angela Merkel hat sich mit ihrem Kampf und Einsatz für eine europäische Lösung des Flüchtlingsproblems unser aller Anerkennung verdient. Doch der türkische Vorschlag ist keine Lösung, sondern lediglich eine Mogelpackung. Er ist ihrer nicht würdig und er ist Europas nicht würdig.

Der türkische Vorschlag mag im Interesse von manchen sein, weil er als Scheinlösung womöglich ein weiteres Hinausschieben echter substanzieller Lösungen akzeptabel erscheinen lässt und manchen Akteuren die Peinlichkeit erspart, schon jetzt einen Offenbarungseid in der einen oder anderen Richtung leisten zu müssen. Vielleicht ist der mit der Scheinlösung erkaufte Zeitgewinn sogar tatsächlich positiv zu bewerten. Dennoch wird er es Europa nicht ersparen, sich früher oder später eindeutig positionieren zu müssen.

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