07. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Warum ich kein Europa hinter Stacheldraht will“ – Fotokommentar in der Bild · Kategorien: Balkanroute, Europa, Griechenland, Mazedonien · Tags: ,

idomeni

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Von JULIAN REICHELT

Das eigentlich so sorglose, sagenhaft reiche Europa hat sich schon immer schwer getan, seine Geschichte zu erzählen. Wer sind wir eigentlich? Die USA haben den Mythos vom „American Dream“, vom Tellerwäscher zum Millionär. Europa hat den Mythos von der Verordnung zur Bananenkrümmung und Brüssel, das nicht mal jene überzeugend erklären können, die von dort aus Politik machen.

Nun gibt uns die Flüchtlingskrise die Chance, unsere Worte von Werten und offenen Grenzen mit Inhalt zu füllen.

Wir reagieren mit Stacheldraht und Verrat an unseren Werten.

Europa ist abgeriegelt, tote Kinder werden an unsere Strände gespült, um Ruhe zu haben, machen wir schleichend unseren Frieden mit dem Menschheitsverbrecher Assad in Syrien. Das Volk der Europäer von 500 Millionen fühlt sich überwältigt und bedroht von einer Million verzweifelten Menschen.
Europas Osten will Flüchtlingen keinen Schutz gewähren, weil sie zu Allah beten. In Europas Westen will die vom Terror erschütterte Weltmacht Frankreich seine Geschichte muslimischer Zuwanderung am liebsten vergessen und beenden.

Wir sind bereit, den Weg der Türkei in den religiös-autoritären Gewaltstaat (keine Alkoholwerbung, keine Pressefreiheit) mit Milliarden zu begleiten und zu beschleunigen, solange das dortige Regime uns nur die Flüchtlinge abnimmt. Wir belehren die Griechen, ihre Außengrenzen besser zu schützen, obwohl Griechenland mehr Inseln (3000) hat, als Ungarn derzeit Flüchtlinge aufnehmen soll (rund 2100). In Panik verfallen wir schrecklichen Worten („Herrschaft des Unrechts“, Horst Seehofer über Merkel) und schrecklichen Herrschern (Putin), die für uns wider unsere Werte das Problem lösen sollen, irgendwie.

Tag für Tag erdulden und ertragen wir Fotos, die wir vor einigen Monaten noch für ungehörig, obszön und unerträglich gehalten hätten: Die Bilder in diesem Artikel zeigen Kinder, die in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze lagern. Es ist ein europäisches Niemandsland. Ein Ort, der so allem widerspricht, wofür wir zu stehen glauben.

Ja, ich weiß, dass auch viele junge Männer dort sind. Ich weiß auch, dass diese jungen Männer mit ihrem viel zu oft wütenden Glauben und all den abstumpfenden Gewalterlebnissen in ihrem Leben vielen Menschen in Europa Angst machen. Ich verstehe das.

Es hat einen Grund, dass Millionen Menschen der islamischen Welt entkommen und in unserer christlich geprägten Welt Zuflucht suchen wollen. Zusammengefasst: Alles, was hier blüht, ist dort in einem Abgrund aus Gewalt, Unterdrückung, Glaubensirrsinn und Korruption kollabiert. Nichts davon gehört nach Europa.

Aber ich sehe auch all diese Bilder und empfinde das Europa, das sie erlaubt und zulässt, unerträglich. Kinder, die auf freiem Feld in der Dunkelheit sitzen und auf einer Leinwand einen Zeichentrickfilm sehen, während Europa über Stacheldraht zu ihnen hinüber blickt.

Ein Syrer, der sein Kind in die Luft wirft, während das Kind dabei zu lachen scheint – diese Erleichterung nach den Jahren des Krieges und nun die Ungewissheit auf dieser Wiese. Kinder, die unter Planen im Regen kauern. Schmutzige kleine Hände, die eine Orange, ein Brot halten. Kinder, die sich am Feuer wärmen.

Wohin sind wir gekommen in Europa?

Heute treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU zu ihrem nächsten Flüchtlingsgipfel. Natürlich kann es nicht darum gehen, alle Flüchtlinge einfach nach Deutschland, Österreich und Skandinavien durchzuschleusen. Aber es darf auch nicht sein, dass Orte wie Idomeni auch nur wenige Tage weiter bestehen. Nicht 2016, nicht auf dem reichsten Kontinent in der Geschichte der Menschheit.

Ich frage mich, warum Europa sich so schwer tut, seine eigene Story zu erkennen. Wir sind der Kontinent, der die furchterregendste, scheinbar unüberwindbarste Grenze aller Zeiten überwunden hat.

Wir sind reicher geworden, weil wir die wirtschaftlich Armen und politisch Unterdrückten aufgenommen haben. Und niemand soll behaupten, das sei alles so viel einfacher gewesen, weil wir alle Christen sind. Kaum ein Kontinent kannte so viel Hass, Abneigung und Vorurteile wie Europa. Unsere Offenheit ist unsere Erfolgsgeschichte. Zäune und Stacheldraht werden diese Geschichte kaum fortschreiben.

Wer seit Jahren Europas Hilfsmilliarden kassiert, muss nun auch Europas Last mittragen. Eine „Wertegemeinschaft“, die sich nicht darauf einigen kann, wie sehr unsere Werte auch für fremde Kinder gelten, braucht kein Mensch. Wir müssen uns entscheiden zwischen höchsten Idealen und höchsten Zäunen.

Das syrische Kind, das von seinem Vater in die Luft geworden wird, kann in ein paar Jahren zu einer stolzen oder zu einer verlorenen, verratenen Generation Europas gehören.

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