29. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Wer sind die Beteiligten im Drama vor der libyschen Küste?“ · Kategorien: Italien, Libyen, Mittelmeer · Tags: , , ,

NZZ | 28.072017

Italien will Militärschiffe nach Libyen schicken, um die dortige Küstenwache beim Kampf gegen Menschenschmuggler zu unterstützen. Was geschieht eigentlich im Meer vor Libyen? Ein Überblick über die involvierten Akteure.

von Samuel Misteli

Die Lage vor der libyschen Küste ist auch in diesem Jahr dramatisch. Jeden Tag stechen Hunderte von Migranten in maroden Booten in See. Die meisten kommen nicht weit. Die Glücklicheren werden von europäischen Rettungsbooten aufgenommen; andere werden von der libyschen Küstenwache abgefangen; viele ertrinken. Mehr als 93 000 Flüchtlinge sind in diesem Jahr bisher über das Mittelmeer nach Italien gelangt. Über 2500 kamen ums Leben.

Die italienische Regierung hat nun einen Einsatz der Marine zur Unterstützung der libyschen Küstenwache beschlossen. Die Aktion soll den Menschenschmuggel an der Küste bekämpfen, zwischen 500 und 1000 Soldaten sollen sich beteiligen. Die Mission entstand auf Anregung der libyschen Regierung. Sie muss noch vom italienischen Parlament genehmigt werden.

Die Lage vor Libyen ist unübersichtlich. Schiffe von Hilfsorganisationen, EU-Missionen, der italienischen und der libyschen Küstenwache kreuzen im Mittelmeer. Selbst die rechtsextreme «Identitäre Bewegung» hat ein Boot gechartert, das Flüchtlinge an die libysche Küstenwache übergeben soll.

Wer sind die Akteure im Meer zwischen Libyen und Italien? Ein Überblick:

1. Die italienische Küstenwache

Die italienische Küstenwache steuert die europäischen Rettungseinsätze vor der libyschen Küste. Das Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) in Rom koordiniert die Schiffe, auch die der privaten Hilfsorganisationen. Von den 181 436 Migranten, die laut dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge 2016 nach Italien gebracht wurden, wurde etwa ein Drittel durch private NGO gerettet, 12 Prozent durch die EU-Grenzschutzbehörde Frontex, 10 Prozent durch die EU-Militäroperation «Sophia». Etwas weniger als die Hälfte der Einsätze leistete die italienische Küstenwache.

Die meisten Rettungen finden zwischen 12 und 40 Seemeilen vor der libyschen Küste statt. Bei Hilferufen wird das Boot aufgeboten, das die Unglücksstelle am schnellsten erreichen kann.

Die Koordination zwischen den verschiedenen an den Rettungsaktionen beteiligten Akteuren wird oft als ungenügend kritisiert. Mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zu verbessern, finden seit Mai 2016 halbjährliche Treffen statt zwischen der italienischen Küstenwache, der Marine und Vertretern der MRCC, der Operation «Sophia», Frontex, der Nato, der Handelsschifffahrt und der Hilfsorganisationen.

2. Die EU-Missionen

Die Europäische Union ist zwischen Italien und Libyen mit der Operation «Triton», der Grenzschutzbehörde Frontex sowie mit der Marine-Mission «Sophia» vertreten. Letztere soll vor allem Schlepper bekämpfen. Die beiden Operationen verfügen über Boote, Flugzeuge und Helikopter.

Die Schiffe der EU-Missionen bewegen sich in grösserer Entfernung zur libyschen Küste als früher. So operieren die Triton-Schiffe normalerweise höchstens 30 Kilometer von den italienischen Hoheitsgewässern entfernt, in einer Zone, die die schlecht ausgestatteten Flüchtlingsboote kaum erreichen können. Die Hilfsorganisationen, die viele der Rettungen nahe der libyschen Küste durchführen, werfen der EU deshalb vor, die Verantwortung bei der Seenotrettung auf sie abzuwälzen.

Die EU gab diese Woche bekannt, die Operation «Sophia» bis Ende 2018 verlängern zu wollen. Zuvor hatte die italienische Regierung die vorgesehene Verlängerung blockiert, weil sie sich von der EU im Stich gelassen fühlte. Letztlich stimmte aber auch Italien der Verlängerung zu, obwohl seine Hauptforderungen – insbesondere die Öffnung von Häfen für Bootsflüchtlinge in anderen EU-Staaten – nicht erfüllt wurden. Anfang Juli hatte die EU-Kommission zusätzliche Finanzhilfen versprochen, um Italien bei der Unterbringung der Flüchtlinge zu helfen.

3. Die Hilfsorganisationen

Derzeit sind auf dem Mittelmeer neun private Hilfsorganisationen mit zehn Booten im Einsatz. Unter ihnen befinden sich grössere Organisationen wie «Ärzte ohne Grenzen» und «Save the Children», sowie kleinere Organisationen wie «Jugend rettet» oder die maltesische Organisation «Migrant Offshore Aid Station». Letztere verfügen in der Regel über kleinere Boote, die nur wenige Flüchtlinge aufnehmen können. Oft sichern sie Flüchtlingsboote in Seenot, bis Hilfe eintrifft.

Die Boote der Hilfsorganisationen bewegen sich in der Regel nahe der libyschen Hoheitsgewässer. In den vergangenen Monaten wurde den NGO unter anderem von der Frontex vorgeworfen, ihre Rettungsaktionen würden Anreize für Schlepperorganisationen schaffen. Verschiedentlich wurden NGO gar beschuldigt, mit Schleuserbanden zusammenzuarbeiten. Belege dafür gibt es nicht.

Der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni hat die Hilfsorganisationen verteidigt: Diese würden Tausende von Menschenleben retten. Eine im März veröffentlichte Studie der Universität Oxford, die Rettungsaktionen über mehrere Zeitabschnitte verglich, kam zum Schluss, dass die Aktionen der NGO nicht zu vermehrter Flucht führten.

Stefano Argenziano, der bei Ärzte ohne Grenzen für die Rettungen verantwortlich ist, sagte gegenüber der New York Times: «Was wir tun ist weder die Ursache des Problems noch die Lösung. Es geht um die reine Notwendigkeit, Menschenleben zu retten.»

Die italienische Regierung führt derzeit Gespräche mit den NGO über die Einführung eines Verhaltenskodexes. Dieser soll klare Regeln für die Rettungsaktionen aufstellen. Die wichtigsten Forderungen: Die Schiffe der Hilfsorganisationen dürfen nicht in die Hoheitsgewässer Libyens vordringen; sie dürfen Flüchtlingsbooten, die in Seenot zu geraten drohen, keine Lichtsignale geben; sie dürfen aufgenommene Flüchtlinge nicht an andere Boote übergeben, sondern müssen sie selber in einen europäischen Hafen bringen; sie müssen EU-Grenzbeamte oder Polizisten mitnehmen, damit diese auf den Flüchtlingsbooten nach Schleppern suchen können.

Das Vorhaben hat bei den NGO zu Verunsicherung geführt. Sie kritisieren, dass sie kriminalisiert würden. Sie wehren sich insbesondere gegen die Forderungen, dass bewaffnete Polizisten auf ihren Booten mitfahren sollen und dass Transfers von kleineren Rettungsbooten auf grössere erschwert würden.

4. Die libysche Küstenwache

Weite Teile der libyschen Küste werden von Kriminellen und Rebellengruppen kontrolliert. Die Küstenwache gilt als korrupt, immer wieder wird auch über Verbindungen zu Milizen und Schlepperbanden berichtet. Die NGO Sea-Watch hat dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) Beweismaterial vorgelegt, das belegen soll, dass libysche Küstenwächter Flüchtlinge zum Teil unter Androhung von Waffengewalt nach Libyen zurückschaffen. In den letzten Monaten kam es zudem zu mehreren Konfrontationen der Küstenwächter mit Hilfsorganisationen.

Die EU hat im Rahmen eines Pilotprogramms damit begonnen, libysche Küstenwächter zu schulen. Unter anderem soll die Küstenwache auch mit neuen Booten ausgestattet werden. Die EU will zudem eine libysche Rettungsleitstelle einrichten. Diese könnte Rettungseinsätze koordinieren, mit dem Ziel, möglichst viele der Flüchtlinge noch in libyschen Hoheitsgewässern abzufangen. Für die Hilfsorganisationen ist dieses Vorhaben aufgrund der chaotischen Lage im Land hoch problematisch.

5. Die Schlepper

In Libyen sollen sich gegenwärtig bis zu einer Million Menschen aufhalten, die auf die Überfahrt nach Europa warten. Mehrere tausend Migranten werden in Internierungslagern festgehalten, wo ihnen unter anderem Folter und Vergewaltigungen drohen. Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Fatou Bensouda, sagte Anfang Mai, Libyen sei zu einem «Marktplatz für den Handel mit Menschen» geworden. Tatsächlich ist der Schmuggel mit Migranten zu einem lukrativen Geschäft für die zahlreichen kriminellen Banden und Milizen in Libyen geworden.

Im Rahmen der Operation «Sophia» wurden seit 2015 über 400 Schlepperboote zerstört. Statt die Flüchtlingsbewegungen einzuschränken, hatte die Aktion jedoch zur Folge, dass die Schlepper vermehrt instabile Schlauchboote einsetzen, mit denen die italienische Küste nicht zu erreichen ist. Die Boote sind in der Regel knapp zehn Meter lang und für den Transport von maximal 60 Personen vorgesehen. Die Schlepper schicken aber häufig bis zu 150 Flüchtlinge los. Zwei Drittel der in diesem Jahr aus dem Meer geretteten Flüchtlinge waren in Schlauchbooten unterwegs.

Die Schlepper haben auch erkannt, dass die europäischen Rettungsaktionen sich näher an die libysche Küste verschoben haben.Oft verwenden sie gerade genug Benzin, damit die Boote in internationale Gewässer gelangen können. Häufig montieren sie die Motoren auf See ab und kehren auf anderen Schiffen nach Libyen zurück, während die Migranten im Meer treiben und auf Hilfe warten.

Die Aussenminister der EU-Staaten beschlossen Mitte Juli Ausfuhrbeschränkungen für Schlauchboote mit Aussenbordmotoren, die für den Transport von Migranten genutzt werden können. Die Massnahme dürfte indes weitgehend wirkungslos bleiben, da die Schlepper die Boote vor allem aus China beziehen, unter anderem über die Internetplattform Alibaba.

 

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