12. März 2017 · Kommentare deaktiviert für „Migration in Afrika: Wäre es nicht besser, fortzugehen?“ · Kategorien: Afrika, Lesetipps

Zeit Online | 09.03.2017

Jetzt wollen die Europäer die Fluchtursachen in Afrika bekämpfen. Vier neue Bücher über den Kontinent berichten von Leid, Vitalität und Ausbeutung.

Von Christiane Grefe

Warum bricht Tom Burgis in Tränen aus? Der Reporter der Financial Times weint zu Beginn seines neuen Buchs über Afrika. Das wirkt zunächst befremdend. Doch dann erzählt Burgis, wie er sich im Krankenhausbett an die Bilder von den Opfern eines Massakers in Nigeria erinnert hat, über das er Monate zuvor berichtet hat. Die professionelle Distanz des Journalisten hat das Schuldgefühl überlagern, nicht aber verdrängen können: das Schuldgefühl, selbst am Leben zu sein.

Als er genesen ist, sieht sich Tom Burgis umso mehr in der Verantwortung: Er will die Wurzeln der Barbarei in Nigeria ergründen. Geht es dort wirklich um „ethnische Rivalitäten“? Mit dieser Erklärung will er sich nicht zufriedengeben. Er will tiefer bohren: Welche Rivalitäten genau? Das Ergebnis ist eine atemberaubende Reise durch jenen Teil des afrikanischen Kontinents, „den die Welt als ihre Mine benutzt“. Unterwegs von Nigeria über Angola und den Kongo bis nach Äquatorialguinea, trifft Burgis Täter und Opfer im grausamen Kampf um Rohstoffe.

Das minutiös recherchierte Buch Fluch des Reichtums ist das wichtigste unter vier neu erschienenen Werken, die von der Welt jenseits des Mittelmeers und der Sahara berichten – und zeigen, wie nahe uns Afrika ist. Jahrelang interessierten solche Themen vor allem Fachleute. Das ändert sich gerade. Auch wenn bislang nur ein geringer Teil der Zuwanderer, die nach Europa ziehen, aus Afrika stammt: Es werden mehr werden, und die Dramen auf dem Mittelmeer haben ein banges Interesse am Nachbarkontinent wachsen lassen. Auch am Kabinettstisch rückt die Afrikapolitik vom äußeren Rand näher an den Mittelpunkt des Regierens. In den Flughafenlounges afrikanischer Hauptstädte stellten sich jüngst nacheinander Kanzlerin, Außen- und Entwicklungsminister und viele andere europäische Politiker ein. Was aber hieße es, den Kampf gegen die Fluchtursachen realistischer zu führen als mit fragwürdigen Migrationspartnerschaften und unausgegorenen Marshallplänen? Was sind die Ursachen, welche liegen in Europa und welche in Afrika?

Eine Ursache heißt Landflucht. Sie lässt in vielen afrikanischen Ländern anarchische Megacitys wachsen. Wie sich diese Städte künftig entwickeln, das wird entscheidend für ein womöglich besseres Leben werden. Al Imfeld, seit Jahrzehnten einer der bekanntesten Afrikakenner im deutschsprachigen Raum, legt dazu eine originelle Mischung aus Skizzenbuch und Manifest vor. Seine Beobachtungen, Erfahrungen und historischen Assoziationen fügen sich zu der anregend unfertigen Collage: AgroCity.

„Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten“ – die zentrale These des Buches von Asfa-Wossen Asserate, Die neue Völkerwanderung, klingt eher wie der ewige Ruf nach den weißen Helfern, die wissen, wie’s geht. Doch weit gefehlt: Tatsächlich zielt der Autor auf einen handfesten politischen Kurswechsel. Konkret fordert er ein Ende der „Appeasement-Politik gegenüber Afrikas Potentaten“ und faire Handelsregeln. Der Mann weiß, wovon er redet. Er ist nicht nur Publizist, sondern berät auch Unternehmen, die in afrikanischen Ländern Geschäfte machen. Außerdem war er selbst auf Asyl angewiesen: Als Großneffe des letzten Kaisers Haile Selassie konnte er, damals Student in Deutschland, nach der Machtübernahme des Militärs 1974 über Jahre hinweg nicht in sein Land zurückkehren. Die Gründe für eine drohende Völkerwanderung reichen in seinen Augen von der Korruptheit und der Menschenrechtsverachtung afrikanischer Regierungscliquen über die Folgen des Klimawandels bis hin zur Landnahme großer Konzerne. Energisch kritisiert der Autor Europas „skandalöse Landwirtschafts- und Handelspolitik“. Gegen die global aktive, teils subventionierte EU-Konkurrenz kämen Afrikas Bauern und Firmen nicht an. Entwicklungspolitiker legten zu oft „Konjunkturprogramme für die heimische Wirtschaft“ auf, statt afrikanische Unternehmen zu unterstützen. Der erzwungene Freihandel sei so gerecht wie „ein Fußballspiel zwischen Real Madrid und der Schulmannschaft von Bole Bamboi“. Er verstärke die dramatische Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit junger Menschen in vielen Ländern. Asserate schreibt bitteren Klartext: Derzeit bekämpfe Europa statt der Fluchtursachen die Flüchtlinge selbst. Dabei kämen 86 Prozent der Menschen, die weltweit umherziehen müssen, anderswo unter als in Europa, und zwar zumeist in deutlich schwächeren Staaten.

Die Flüchtenden landen auch, ja vor allem in Afrika – davon erzählt Winnie Adukule. Ihr Heimatland Uganda gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und hat mehr als eine Million Geflohene aus den Nachbarstaaten aufgenommen. Ins Zentrum ihres Buches Flucht stellt die Rechtsanwältin zehn Interviews, die sie in Kampala und in einem Lager geführt hat. Flüchtlinge aus Burundi, dem Kongo und dem Südsudan kommen zu Wort; Menschen, von denen viele seit Jahren gestrandet sind. Aber auch Rückkehrer aus Europa oder Kanada erzählen von ihren Eindrücken, von Erfolgen und Misserfolgen. Journalistisch professionell sind diese Gespräche nicht geführt. Sie leben von dem Eindruck, dass hier afrikanische Nachbarn untereinander reden, fern von europäischen Zuhörern. Man erfährt von unfassbarem Leid, lernt aber auch die Vitalität im alltäglichen Überlebenskampf kennen. Adukule kritisiert die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik zweifach: „Pauschal abzuweisen oder auszuweisen“ sei ebenso falsch, wie „tatenlos zuzuschauen, dass Menschen in ihr Unglück rennen, weil sie Luftschlössern hinterherlaufen“. Zugleich redet sie den jungen Afrikanern ins Gewissen, deren Engagement in ihren Heimatländern gebraucht werde. Auch wenn jeder Mensch das Recht habe, „seinen Ort auf der Welt frei zu wählen, wo er glücklich zu werden meint“: Weglaufen sei dennoch keine Lösung. „Für den Einzelnen vielleicht, aber nicht für alle.“ Mit diesem Appell an die Verantwortung repräsentiert die Autorin eine wachsende, gut ausgebildete und selbstbewusste Generation, die für mehr Demokratie und Wohlstand in Afrika streitet und den entwicklungspolitischen Patentrezepten aus dem Westen eigene Initiativen entgegensetzen will. Auch Asserate setzt auf dieses „andere Afrika“. Seine Beschreibung der Oppositionsbewegungen vom Senegal über Burkina Faso bis Tansania hätte man sich ausführlicher gewünscht. Warum aber misslingt es in anderen Ländern, verkrustete Regime zu bekämpfen?

Ins Dickicht der Globalisierung

An dieser Stelle kommt das Buch des Reporters Tom Burgis noch einmal ins Spiel. Er sagt: Wo der Staatshaushalt wie im Tschad zur Hälfte mit den Einnahmen aus Bodenschätzen gefüllt werde, fehle den Bürgern das Druckmittel, den Staat durch einen Steuerboykott zu schwächen. No taxation without representation: Die flammende Logik der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, schreibt Burgis, gelte auch umgekehrt. „Da die Herrscher der Rohstoffstaaten nicht von der Bevölkerung finanziert werden, fühlen sie sich ihr auch nicht verpflichtet.“ Der direkte Zugriff auf die Einnahmen durch den Export von Erdöl, Kupfer, Coltan, Kobalt, Diamanten oder Uran hält die Kleptokraten an der Macht. Auch deshalb leben im reichen Ölförderstaat Angola 40 Prozent, in Nigeria trotz der Abermilliarden aus Bohr- und Förderlizenzen sogar zwei Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze.

Burgis beschreibt präzise die Symptome einer Wirtschaft, die einseitig am Export von Rohstoffen festhält. Hohe Wechselkurse machen die einheimischen Industrien konkurrenzunfähig, die Versorgung funktioniert nur durch Importe. Wenige Nutznießer scheffeln Reichtum in einem Meer der Armut. Immer wieder lodern regionale Konflikte um rohstoffträchtige Landgewinne auf. Dabei werden religiöse und ethnische Spannungen häufig brutal instrumentalisiert. Das Massaker, das Burgis erlebt hat, ist nur ein Beispiel dafür.

Doch es greift zu kurz, allein die afrikanischen Machthaber anzuprangern. Burgis betont: Irgendjemand legt schließlich etwas in die aufgehaltenen Hände hinein oder hilft dabei, Abermillionen Rohstoff-Dollar außer Landes zu transferieren. Wie einst die europäischen Forscher in den afrikanischen Dschungel dringt der Autor ins Dickicht der Globalisierung vor. Dort, wo „kriminelle Geschäfte und internationaler Handel sich überschneiden“, entlarvt er weltweite Komplizenschaften. Die Spuren der Kunden, Strohmänner und Berater der Rohstoffwirtschaft führen nach New York, London, Paris, Zürich, Hongkong, Peking oder Macau, zu Strohfirmen in Panama oder Banken in der Schweiz, in Portugal, London, den USA. Der Lkw-Flotten-Besitzer, vor dem alle zittern, der Ölmanager an der Spitze der Regierung, der undurchsichtige chinesische Mittelsmann: Anhand von Fallstudien zeigt der Autor, mit welchen Korruptionspraktiken, Verschleierungstricks und Patronage-Manövern afrikanische Potentaten und ihre Geschäftsfreunde über komplexe Netzwerke vom Handel mit Rohstoffen und knappen Alltagswaren profitieren. In bester britischer Journalismustradition verkneift Burgis sich jedes Empörungspathos. Erst am Schluss bringt er das Thema Flucht auf. Die Tausenden „jämmerlich seeuntüchtigen Boote“ auf Europakurs, deren Insassen oft zurückgeschickt würden, notiert er nüchtern, reisten auf den gleichen Routen wie die mit Rohöl beladenen Tanker, die ungehindert passierten.

Und die Lösungen? Burgis deutet sie höchstens indirekt an. Kleptokraten aller Länder hätten es demnach schwerer, gäbe es mehr Korruptionskontrolle, mehr Transparenz auf den Finanzmärkten und verbindliche Menschenrechtsregeln für Minenbesitzer und ihre Kunden. Und gäbe es mehr Bürger und Konsumenten, die für all dies politisch stritten und zugleich ihre Shopping-Gewohnheiten überdächten. Darauf verweist der Epilog, er handelt von der Straße in London, in der Burgis heute wieder lebt. In den Geschäften, die Mobiltelefone, Autos oder Laptops aus afrikanischen Rohstoffen verkaufen, endet der rote Faden seines Buchs. Er verbindet „ein Massaker in einem abgelegenen afrikanischen Dorf mit den Freuden und Bequemlichkeiten, die wir in den reicheren Teilen der Welt genießen“. Nein, auf die Dauer werden Europäer nicht folgenlos ausblenden können, was bei den Nachbarn geschieht.

  • Tom Burgis: Der Fluch des Reichtums. A. d. Engl. v. Michael Schiffmann; Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2016; 352 S., 24,– €, als E-Book 17,99 €
  • Asfa Wossen-Asserate: Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten; Propyläen Verlag, Berlin 2016; 224 S., 20,– €, als E-Book 18,99 €
  • Winnie Adukule: Flucht. Was Afrikaner außer Landes treibt; Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2016; 240 S., 14,99 €, als E-Book 9,99 €
  • Al Imfeld: AgroCity – die Stadt für Afrika. Rotpunktverlag, Zürich 2016; 224 S., 29,90 €

Kommentare geschlossen.