12. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Syrische Flüchtlinge in der Türkei: An der Grenze droht der Tod“ · Kategorien: Syrien, Türkei

Quelle: Spiegel Online

Für Syrer wird die Flucht in die Türkei immer gefährlicher. Flüchtlinge berichten von Misshandlungen und Schüssen auf Kinder.

Von Anna Reimann und Raniah Salloum

„Seit diesem Jahr ist es sehr schwer geworden für Syrer, in die Türkei zu fliehen“, erzählt Amer Matar. Er muss es wissen: Lange pendelte er zwischen seiner Heimatstadt Rakka und der Türkei hin und her, um Handyaufnahmen aus der vom „Islamischen Staat“ (IS) kontrollierten Stadt zu schaffen. Inzwischen lebt er in Berlin und organisiert ein syrisches Filmfestival.

Matars Onkel wollte im Februar aus Rakka in die Türkei fliehen, zusammen mit seiner Frau und drei Kindern. Der Onkel harrte lange in der vom IS besetzten Stadt aus. Denn die Dschihadisten hatten vor zwei Jahren seinen ältesten Sohn festgenommen, und eigentlich wollte er nicht ohne ihn gehen. Doch als das Familienhaus bei Luftangriffen zerstört wurde, ging es nicht mehr.

„Mein Onkel hat einen Schleuser bezahlt, um in die Türkei zu kommen“, erzählt Matar. Anders können Syrer ihr Land kaum noch verlassen. „Letztes Jahr wollten die Schleuser 100 bis 200 Dollar. Dieses Jahr müssen Syrer 1000 Dollar bezahlen, um in die Türkei zu kommen“, sagt Matar. Eine ähnliche Preisentwicklung schilderten auch andere Syrer, die dieses Jahr in die Türkei geflohen sind, SPIEGEL ONLINE.

Doch Matars Onkel schaffte es nicht in Sicherheit. Noch im syrischen Grenzgebiet entdeckten türkische Sicherheitskräfte die Familie. „Mein Onkel wurde von ihnen vor den Augen seiner Frau und den Kindern erschossen“, erzählt Matar. „Seine Leiche blieb 48 Stunden im Grenzgebiet liegen, bevor seine Familie sie bergen durfte.“

Es ist ein Fall von vielen: Syrer, die in die Türkei fliehen wollen, werden von türkischen Sicherheitskräften an der Grenze geschlagen und zurückgeschickt. Immer wieder wird auf sie geschossen.

Wie viele Opfer gibt es?

Genau weiß dies keiner, es gibt nur Mindestzahlen: Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die sich auf Informanten in Syrien stützt, hat in den vergangenen vier Monaten 16 Tote dokumentiert, darunter drei Kinder.

Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) konnte mithilfe von Zeugenaussagen fünf Tötungen dokumentieren: Demnach wurden drei Flüchtlinge, darunter ein Kind, und ein Schlepper im März und April von türkischen Sicherheitskräften erschossen und ein weiterer Schlepper zu Tode geprügelt. 14 weitere Flüchtlinge erlitten Schussverletzungen, darunter auch drei Kinder zwischen drei und neun Jahren.

Andere Beobachter gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Zahlreiche Erschossene sollen im syrischen Kriegsgebiet begraben worden sein – ihre Fälle würden nie bekannt.

Über Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte haben auch Reporter von SPIEGEL ONLINE und SPIEGEL mehrfach berichtet.

Wer sind die Täter?

Die türkische Grenze wird hauptsächlich von Soldaten, aber auch von Polizisten bewacht. Letztere stehen laut HRW unter dem Kommando des Militärs. Ob Soldaten oder Polizisten – oder beide – auf die Fliehenden geschossen haben, ist nicht klar.

Gibt es einen Schießbefehl? Die Türkei bestreitet dies. Das Außenministerium in Ankara behauptete sogar noch Anfang April: Seit mehr als fünf Jahren verfolge die Türkei gegenüber Flüchtlingen aus Syrien eine Politik der „offenen Türen“ – daran gebe es keine Änderungen. Die Türkei hat seit 2011 rund drei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen.

Ein HRW-Sprecher sagte hingegen im Deutschlandfunk, es gebe offenbar einen Schießbefehl. „Zumindest schießen sie auf Flüchtlinge, die augenscheinlich Flüchtlinge sind, nämlich Kinder, achtjährige Mädchen, Frauen. Da handelt es sich nicht um IS-Kämpfer.“

Laut HRW erzählte ein Mitarbeiter eines syrischen Flüchtlingscamps, dass am 13. April türkische Sicherheitskräfte von Wachtürmen aus eine Lautsprecherdurchsage auf Arabisch gemacht hätten, dass sich niemand der Grenze nähern sollte, andernfalls würden sie erschossen.

Was bedeutet dies für den EU-Flüchtlingsdeal?

Die EU hat mit der türkischen Regierung ausgehandelt, dass alle in Griechenland ankommenden Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden – um im Gegenzug der Türkei dann wieder Kontingente abzunehmen.

Die Schüsse auf syrische Flüchtlinge durch türkische Grenzer machen erneut deutlich, wie problematisch das Abkommen ist. Menschenrechtler kritisieren immer wieder, dass die Türkei kein „sicherer Drittstaat“ sei – die neusten Berichte untermauern diese Einschätzung.

Selbst Syrer, die es bereits in die Türkei geschafft haben, sind offenbar nicht sicher. Die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ berichtete im April, dass die Türkei vor Kurzem damit begonnen habe, syrische Flüchtlinge massenweise in das Kriegsgebiet zurück zu zwingen.

Auf der syrischen Seite der Grenze harren derzeit Zehntausende Menschen aus, die wegen der heftigen Gefechte und Bombardierungen ihr Zuhause verlassen mussten. Bei Luftangriffen auf ein Flüchtlingslager nahe der Grenze starben im Mai mindestens 30 Menschen.

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