19. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flucht aus Afghanistan: Wer bleibt, hat schon verloren“ · Kategorien: Afghanistan

Quelle: NZZ

Fast jeder in Afghanistan träumt von einem besseren Leben im Ausland. Der Risiken sind sich die Ausreisewilligen durchaus bewusst. Doch der Wunsch zur Flucht ist stärker.

von Volker Pabst, Kabul

Einer der geschäftigsten Orte Kabuls ist das Passbüro. Frühmorgens schon, wenn die Stadt noch schläft, bilden sich Schlangen vor dem gelblichen Bau. Längst nicht allen gelingt es, auf Anhieb einen Pass zu beantragen. Vielen fehlt ein Dokument, ein Stempel, eine Unterschrift. Eine veritable Dienstleistungsindustrie in den Strassen um das Amt schafft Abhilfe. Unter bunten Sonnenschirmen stehen auf Klapptischen alte Computerdrucker, mit denen sich für einige Afghani Kopien erstellen lassen. Einige Meter weiter beglaubigen Notare die Dokumente. «Das Geschäft läuft gut», erklärt Hamid, der bei der Ausstellung von Grundbesitzurkunden behilflich ist, die einen Passantrag beschleunigen können. «Die Leute wollen weg. Sie brauchen Pässe.»

Dubai, Thailand, Deutschland

Weg wollen viele, doch nicht alle zieht es nach Europa. Yasin, ein dreissigjähriger Mann in der traditionellen Kleidung der Paschtunen, erzählt, er brauche einen Pass, weil er in Dubai als Chauffeur arbeiten wolle. Jan Mohamad ist einige Jahre jünger und vertritt das städtisch-moderne Afghanistan. Er hat eben sein Wirtschaftsstudium abgeschlossen und will nun mit Freunden in Thailand ein Unternehmen gründen.

Eine grosse Zahl an Afghanen, besonders solche aus der schiitischen Minderheit der Hazara, versucht in Iran ihr Glück. Das Ende der internationalen Sanktionen lässt auf verbesserte Verdienstmöglichkeiten für Gastarbeiter im westlichen Nachbarland hoffen. Und natürlich leben weiterhin Millionen von afghanischen Flüchtlingen in Pakistan.

Dennoch, Europa und vor allem Deutschland sind für viele die Wunschdestination. Afghanen stellen nach Syrern die zweitgrösste Gruppe an Migranten, die 2015 nach Europa eingewandert sind. In Deutschland kamen im vergangenen Jahr 154 000 der registrierten Neuankömmlinge aus Afghanistan, zirka 15 Prozent aller Zuwanderer.

Afghanistan verliert durch die Massenflucht besonders jene Kräfte, die es für den Wiederaufbau des Landes dringend bräuchte. Doch die Regierung unternimmt wenig, um die Emigration einzudämmen oder Ausgewanderte zurück ins Land zu holen. Ohnehin gibt es in Afghanistan kaum Arbeitsplätze, und viele Afghanen leben in bitterer Armut. Um unrealistische Vorstellungen über das Leben als Flüchtling in Deutschland zu zerstreuen, die in Afghanistan kursieren, liess die deutsche Botschaft im vergangenen Jahr in Kabul Plakate aufhängen: «Du willst nach Deutschland? Überleg es dir gut!», lautete die Botschaft.

Hakum Khan kennt die deutsche Kampagne. Auch vom Stimmungsumschwung in Europa angesichts der Ströme an Zuwanderern hat er gehört. Dennoch zweifelte er keinen Moment daran, dass sein jüngerer Bruder Ismail sein Glück versuchen sollte. «Was gibt es da zu überlegen? Natürlich kann man in Europa auch scheitern. Und die Reise ist gefährlich. Das Leben hier ist aber gefährlicher.» Ismail Khan hatte bis zum weitgehenden Abzug der internationalen Truppen Ende 2014 auf der Nato-Basis in Mazar-e Sharif im Norden des Landes gearbeitet. Irgendwann schnappte er Gerüchte auf, dass man ihn als «Agenten» der Amerikaner bezeichne, was ihn zum Ziel für Anschläge der Taliban macht.

Reise in Etappen

Der erste Schmuggler brachte Ismail Khan nach Iran, ein zweiter in die Türkei. Von dort ging es übers Meer. Nur die wenigsten Schlepper organisieren die ganze Tour von Afghanistan in Richtung Westen, die meisten Migranten hangeln sich von einem Schlepper zum nächsten und bezahlen etappenweise. Die gesamte Reise kostet zwischen 4000 und 25 000 Dollar, abhängig von Komfort- und Sicherheitsleistungen.

Ismails Boot ist in der Ägäis zweimal fast gekentert, einmal lief es auf einen Felsen auf. Gerettet wurden die Insassen schliesslich von der griechischen Küstenwache. Wie es danach weiterging, weiss Hakum nicht genau. Am 22. Januar, nach zwei Monaten, sei Ismail aber in der Schweiz in einem Auffanglager angekommen – oder in Schweden? Auf alle Fälle habe er es geschafft.

Ismails Gefährdung in Afghanistan ist unbestritten, er dürfte Asyl erhalten. Das bedeutet nicht, dass seine Flucht nicht auch ein ökonomisches Motiv hat. Hakum erklärt, die Familie habe 7000 Dollar investiert, damit wenigstens einer im Westen Fuss fassen könne. Besitz sei verkauft, Land verpachtet worden, um das Geld aufzuwerfen. Er wäre selber gerne gegangen, sagt Hakum. Als einziger Verdiener in der Grossfamilie musste er aber bleiben.

Ähnliches erzählt Janaghar. Sein Bruder Amanullah brach vor zwei Monaten nach Europa auf. Bessere Aussichten auf Asyl hätte wohl Janaghar selber, der früher in einem von Indern besuchten Hotel als Wachmann arbeitete. Heute beschützt er eine ausländische Internetfirma in Kabul.

Existenzsicherung

Die Verbindung zu Ausländern und seine Vergangenheit an der Seite des legendären Kommandanten der Nord-Allianz, Ahmad Shah Massud, machen ihn zu einem Gegner der Taliban und somit zu einer stark gefährdeten Person. Doch 25 Personen hängen von Janaghars Gehalt ab, zudem ist er Familienoberhaupt. Deshalb wurde Amanullah geschickt. Die persönliche Gefährdung ist nur ein Faktor von vielen. Vor allem geht es um die Existenzsicherung der afghanischen Grossfamilie.

Würde Janaghar in Europa als Flüchtling anerkannt, während sein Bruder vielleicht nur als Wirtschaftsmigrant gelten wird? Macht das die Flucht Amanullahs weniger legitim? In den Augen ihrer Familie sicherlich nicht. Die Kategorien des westlichen Asylrechts spielen angesichts der afghanischen Realität keine Rolle. Zwar gibt es Inseln oberflächlicher Normalität, dennoch kann niemand sich dem ständigen Ausnahmezustand entziehen.

«Natürlich wissen wir, wie risikoreich die Reise nach Europa ist und wie schwer der Neuanfang dort», erklärt Janaghar. «Die einen schaffen es, die anderen nicht. Doch wer hierbleibt, der hat schon verloren.»

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