19. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Das neue Flüchtlings-Regime in der Ägäis“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: NZZ

Tausende Asyl-Experten sollen in der Ägäis Flüchtlinge in Schnellverfahren in die Türkei zurückweisen. Doch wenn die irregulären Überfahrten nicht rasch zurückgehen, fällt der Plan in sich zusammen.

von Niklaus Nuspliger, Brüssel

Für EU-Rats-Präsident Donald Tusk war es keine einfache Aufgabe. Viele EU-Regierungschefs hatten in den letzten Tagen rechtliche Bedenken geltend gemacht, grundsätzliche Kritik am geplanten Flüchtlings-Deal mit der Türkei geübt, praktische Fragen aufgeworfen oder politische Hürden aufgebaut. Dennoch gelang es Tusk am Freitag in mehreren Verhandlungsrunden mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, einen Kompromiss zu schmieden, der am Ende für alle 28 EU-Regierungschefs akzeptabel war. Davutoglu sprach nach der Einigung von einem «historischen Tag»: «Heute erkennen wir, dass die Türkei und die EU dasselbe Schicksal, dieselben Herausforderungen, dieselbe Zukunft haben.»

Heikle Forderungen Ankaras

Als Knackpunkte in den Verhandlungen entpuppten sich weniger die Modalitäten der Flüchtlings-Kooperation als die türkischen Gegenforderungen. Zwar gelang zur in vielen EU-Ländern umstrittenen beschleunigten Visa-Liberalisierung für türkische Bürger relativ rasch ein Einvernehmen. Man kam überein, dass Ankara alle 72 für die Visa-Freiheit nötigen technischen und politischen Kriterien auch tatsächlich erfüllen muss – ob das die Türkei auch rechtzeitig bis zur geplanten Liberalisierung im Juni schafft, ist fraglich. Kommt die Visa-Freiheit für die Türken, müsste die Schweiz als an Schengen-Dublin assoziierter Staat mitziehen.

Problematischer war Ankaras Forderung nach der Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel für den EU-Beitritt. Um ein drohendes Veto Zyperns abzuwenden, begnügte sich Davutoglu am Ende mit der Eröffnung eines von der zypriotischen Blockade nicht betroffenen Kapitels zum Thema Budget bis Mitte Jahr. Ein weiteres Problem betraf die türkischen Milliardenforderungen für die Versorgung von Flüchtlingen. Da sich Davutoglu beklagte, dass das EU-Geld zu langsam fliesse, sollen innert einer Woche rasch finanzierbare Projekte in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung identifiziert werden. Sind die bereits gesprochenen drei Milliarden Euro aufgebraucht, sollen bis 2018 weitere drei Milliarden fliessen.

Der «1-für-1-Plan»

Im Mittelpunkt der Einigung steht aber der «1-für-1-Plan» zur Flüchtlingskrise. Im Grundsatz sollen alle Flüchtlinge, die über die Türkei die griechischen Inseln erreichen, umgehend zurückgeschickt werden. Im Gegenzug wollen die EU-Staaten für jeden zurückgenommenen Syrer einen anderen Syrer aus der Türkei aufnehmen – im Rahmen eines legalen Einreiseprogramms. Der Deal tritt bereits am Sonntag in Kraft – wer ab dann nach Griechenland kommt, fällt unter das neue Regime. Mit den ersten Rückführungen rechnet die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Anfang April. Der «1-für-1-Plan» ist Ausdruck des von Merkel geforderten Paradigmenwechsels: Die irreguläre Migration soll in legale Bahnen geleitet, das Geschäftsmodell der Schlepper soll durch neue Anreize zerstört werden. Die Logik dahinter: Droht einem Syrer die konsequente Rückschaffung, wird er sich gegen die Fahrt im Schlepperboot entscheiden, zumal er eine Chance hat, in der Türkei zu warten und legal und sicher in die EU einreisen zu können.

Die EU-Regierungschefs haben sich bemüht, die Zweifel an der Legalität des Plans zu zerstreuen. Explizit wird im Beschluss darauf hingewiesen, dass jeder Asylsuchende in Griechenland ein individuelles Verfahren erhält, dass Völkerrecht eingehalten wird und dass es keine kollektiven Rückführungen geben wird.

Was passiert nun aber mit einem Flüchtling, der aus der Türkei auf die griechischen Inseln reist? Wer kein Asylgesuch stellt, wird sofort zurückgeschafft. Wer Asyl beantragt, erhält ein Schnellverfahren, doch in der Regel wird sein Gesuch als «unzulässig» abgelehnt. Denn für einen Flüchtling, der bereits in der Türkei vorläufigen Schutz erhalten hat, gilt das Land neu als «erstes Asylland». Das heisst: Er wird zurückgeschickt. Für Flüchtlinge, die in der Türkei noch nicht registriert worden sind, gilt das Land neu als «sicherer Drittstaat». Das heisst: Sie hätten in der Türkei Schutz beantragen können und werden in der Regel auch zurückgeschickt – wobei ein Rekurs in diesem Fall aufschiebende Wirkung hätte. Damit das alles legal ist, forderten die Europäer von Davutoglu Garantien. Die Türkei sichert zu, niemanden in ein Land auszuschaffen, in dem er an Leib und Leben bedroht ist, und Flüchtlinge entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention zu behandeln – ohne diese aber formell auf alle Flüchtlinge anzuwenden. Die EU will auch das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge in die Rückführungen involvieren, um dem umstrittenen Plan einen legitimeren Anstrich zu verleihen.

Eine «Herkulesaufgabe»

Sobald die ersten Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden, müssten die EU-Staaten auch unmittelbar Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen. Doch wie gross die Bereitschaft dazu wirklich sein wird, muss sich ebenfalls noch weisen. Die Osteuropäer setzten durch, dass die Aufnahme letztlich freiwillig bleibt und auf von den EU-Staaten bereits gemachte Zusagen zur Aufnahme von insgesamt 72 000 Flüchtlingen limitiert bleibt. Reicht diese Zahl nicht aus, wird der «1-für-1-Mechanismus» beendet. Soll der Plan nicht rasch in sich zusammenfallen, müssen die irregulären Überfahrten in der Ägäis sofort stark zurückgehen. Als noch vager erscheint das Versprechen der EU-Staaten, der Türkei über ein freiwilliges Resettlement-Programm weitere Flüchtlinge abzunehmen, sobald es zu einer substanziellen Reduktion der irregulären Überfahrten kommt.

Der Plan verfolgt insofern einen gesamteuropäischen Ansatz, als er die Flüchtlingsströme nach Griechenland reduzieren und das Land nicht in ein EU-Auffanglager verwandeln will. Gleichzeitig steht Griechenland vor einer «Herkulesaufgabe», bei der es europäische Hilfe braucht, wie EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker einräumte. «Dies ist die grösste logistische Herausforderung, mit der sich die EU je konfrontiert sah», betonte Juncker. Die EU-Staaten und die Europäische Asylbehörde EASO müssen innert Tagen rund 4000 Asyl-Experten für die rasche Abarbeitung der Asylanträge auf die Ägäis-Inseln entsenden. Auch hinter die logistische Realisierbarkeit des Plans ist also ein grosses Fragezeichen zu setzen.

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