18. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge könnten bald über die „Kaukasus-Route“ kommen“ · Kategorien: Europa · Tags:

Quelle: Die Welt

Mit dem Türkei-Abkommen will Europa den Strom der Flüchtlinge stoppen. Das ist naiv, zeigt die Simulation einer Denkfabrik. Selbst im besten Szenario kommen 2016 noch fast eine Millionen Flüchtlinge.

Der nächste Gipfel ist immer der wichtigste. Diese banale Botschaft vermittelt die europäische Politik auch vor dem Spitzentreffen am Donnerstag und Freitag in Brüssel. Dort soll ein Abkommen mit der Türkei ausgehandelt werden, das die Flüchtlingskrise unter Kontrolle bringt. Wissenschaftler bezweifeln aber, dass das funktioniert: Ökonomen der renommierten Freiburger Denkfabrik SAT haben die Ströme der Menschen durch Europa für die „Welt“ simuliert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Deal das Problem nicht lösen wird.

Die geplante Vereinbarung sieht vor, dass die Türkei Flüchtlinge zurücknimmt, die auf den griechischen Inseln ausharren und in Europa keine Chance auf Asyl haben, etwa weil sie aus wirtschaftlichen Gründen gekommen sind – im Gegenzug erhält Ankara Milliardenhilfen und das Versprechen auf engagierte Beitrittsverhandlungen. Zugleich sollen jene Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, also vor allem Syrer und Iraker, in die EU einreisen dürfen.

Einige Staaten haben bereits Widerstand angekündigt, darunter Zypern, das von den Türken als Staat anerkannt werden möchte, ehe es zustimmt. Aber selbst wenn man sich einig wird – versiegen wird der Strom der Flüchtlinge nicht, wie die Freiburger Forscher sagen. Für die „Welt“ haben sie fünf Szenarien errechnet, wie sich die Zahl der Flüchtlinge entwickeln wird. Im besten Fall lässt sich die Zahl der Flüchtlinge – SAT zufolge – bis Ende 2016 auf 1,8 Millionen Menschen reduzieren, im schlimmsten wird sie auf 6,4 Millionen steigen. Sprich: Zu den rund eine Million Menschen, die Deutschland bereits erreicht haben, kommen noch einmal mindestens 800.000 hinzu, maximal sogar 5,4 Millionen. „Es gibt keinen Schalter, mit dem man die Flüchtlingsströme an- und ausknipsen kann“, sagt Thomas Arzt, Geschäftsführer von SAT.

SAT erstellte bisher vor allem ökonomische Modelle für Versicherungen, Autofirmen, Industriekonzerne, Einzelhändler oder Flughafenbetreiber. Nun wendet das Unternehmen seine Algorithmen auch auf politische und gesellschaftliche Zusammenhänge an. Sein Fachgebiet sind Zukunftsprognosen auf Basis mathematischer Simulationen. Das Modell für die Flüchtlingskrise hatte SAT erstmals auf dem Strategy Forum der Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt.

Den Experten zufolge zeigen die Verhandlungen mit der Türkei, dass die Regierungen die Dynamik der Ereignisse nicht verstünden. Die Entscheider konzentrierten sich nur auf einen Aspekt – die Schließung einer bestimmten Route – und blendeten viele andere Faktoren aus. Es könnten schnell neue Flüchtlingsrouten entstehen, etwa weil sich Konflikte in Afrika verschärfen oder die Menschen schlichtweg über andere Länder einreisen – wie Wasserläufe, die sich neue Wege suchen, wenn sie auf ein Hindernis treffen.

Szenario 1: Abkommen mit der Türkei

Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt ihre Hoffnungen bei der Lösung der Flüchtlingskrise auf ein Abkommen mit der Türkei. Die SAT-Simulation hingegen ergibt: Auch bei einer Einigung wird die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, steigen – bis Ende 2016 auf etwa 2,1 Millionen. Denn der Syrien-Konflikt ist durch eine Einigung mit der Türkei nicht gelöst.

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Und die Flüchtlinge, neben Syrern auch Afghanen, Iraker und Pakistaner, könnten sich über neue Routen durch Nordafrika oder den Kaukasus auf den Weg nach Westeuropa machen. Die Zahl von 2,1 Millionen ist laut SAT ein Maximalwert, der Projektion zufolge liegt der Durchschnittswert bei 1,3 Millionen. „Man muss immer mit dem Maximalwert planen, um auf alles vorbereitet zu sein“, sagt Arzt. Ein Autokonzern baue seine Fabrik auch immer für diesen Worst Case, um handlungsfähig zu bleiben.

Szenario 2: Frieden in Syrien

Alles kommt auf Syrien an – so lautet das Credo der Politik. Ende der Bürgerkrieg, sinke die Zahl der Flüchtlinge; gehe er weiter, werde sie wachsen. Die SAT-Simulation zeichnet ein anderes Bild: Selbst wenn von heute auf morgen Frieden herrschen würde in Syrien, kämen bis Ende 2016 etwa 1,8 Millionen Menschen in Deutschland an.

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Denn die Balkanroute bliebe in diesem Szenario wahrscheinlich offen – es fehlte ja der politische Druck, sie zu schließen – und ermögliche Irakern und Afghanen die Durchreise.

Szenario 3: Der Bürgerkrieg geht weiter

Gelingt es nicht, den Syrien-Konflikt zu beenden und so den Flüchtlingsstrom zu verringern, droht eine teilweise Schließung der Balkanroute. Die Politik diskutiert derzeit, die Strecke allein für Syrer und Iraker offen zu halten – also nur noch für jene Menschen, die aus einem Kriegsgebiet kommen. In diesem Szenario kommen bis Ende 2016 etwa 2,3 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland. Den übrigen Menschen auf der Flucht – etwa jenen, die sich aus wirtschaftlichen Gründen auf den Weg gemacht haben – bliebe dann eine Ausweichroute: über das Mittelmeer nach Italien.

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Das Modell der Freiburger Wissenschaftler basiert auf den Erfahrungen, die sie in zwei Jahrzehnten mit dynamischen Prozessen gemacht haben. Thomas Arzt zufolge verhalten sich – auf einer theoretischen Ebene – Flüchtlingsströme wie Wassermassen: Aus mehreren Quellen fließt das Wasser über verschiedene Wege in verschiedene Becken. Die Becken sind in diesem Modell die Staaten Europas, in die die Flüchtlinge streben. Die Ströme fließen immer anders, je nachdem, welche Kapazitäten die Becken haben und welche Wege durchlässig sind.

Szenario 4: Neue Konflikte in Afrika

Der Krieg in Syrien muss allerdings nicht die einzige Quelle für Flüchtlinge bleiben. „Obwohl eine Schließung der Balkanroute wie eine gelungene Lösung aussieht, könnte das sehr problematisch werden“, sagt Thomas Arzt. Dann nämlich, wenn es in Afrika neue gescheiterte Staaten gebe, sogenannte Failed States.

Die SAT-Strategen haben simuliert, was es hieße, wenn die bereits schwelenden Konfliktherde in Afrika eskalieren. Vor allem Nigeria mit seiner starken Abhängigkeit vom Öl und der Bedrohung durch den Boko-Haram-Terror gilt als Staat, der kippen könnte. Aber auch aus Ländern wie dem Tschad, Sudan oder Kongo sind größere Flüchtlingswellen zu befürchten. Kommt es dazu, würden sich viele Menschen zusätzlich auf den Weg machen und dabei vor allem das politisch instabile Libyen als Knotenpunkt auf dem Weg nach Europa nutzen. Nach dem Überqueren des Mittelmeeres wären dann Italien und Spanien die Regionen, über die die afrikanischen Migranten Deutschland erreichen.

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Zudem ist im Nahen Osten die Situation im Libanon, Jemen und in Ägypten stark angespannt. Bleibt der Syrien-Konflikt ungelöst, so bleibt dieser Flüchtlingsstrom also bestehen, zusätzlich werden Einwanderungsversuche vom afrikanischen Kontinent zu erwarten sein. Tritt dieses Szenario ein, prophezeit das SAT-Rechenmodell bis Ende 2016 etwa 3,7 Millionen Flüchtlinge in der Bundesrepublik.

Szenario 5: Offene Grenzen

Das Szenario von 3,7 Millionen Migranten setzt aber voraus, dass die Balkenroute für Nichtsyrer und Nichtiraker geschlossen wird. Bleiben die Grenzen auf dem Balkan durchlässig, ergibt die SAT-Simulation, dass rund 6,4 Millionen Menschen bis zum Ende dieses Jahres in Deutschland Zuflucht suchen.

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Die Freiburger Denkfabrik ist bislang die einzige, die weltweit Flüchtlingsströme nach solchen Modellen berechnet. Geschäftsführer Arzt, der auch Firmen wie Audi, Edeka oder den Flughafenbetreiber Fraport zu seinen Kunden zählt, hält es für einen Fehler der Politik, solche in der Wirtschaft erprobten Methoden nicht auch für die Lösung der Flüchtlingskrise einzusetzen.

Tatsächlich setzt sich in anderen Disziplinen die neue Weltsicht langsam durch. Denn hier verlieren Firmen viel Geld, wenn sie mit dem falschen Modell planen. Versicherungen wie die Münchener Rück nutzen solche Analysen, um die Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen einschätzen und damit in kostendeckende Versicherungspolicen übersetzen zu können. Viele Finanzfirmen wenden komplexe Risikomodelle an den Kapitalmärkten an. Große Konzerne optimieren ihre globalen Lieferketten. Sie müssen das Kunststück fertigbringen, auch bei kleineren Engpässen ihrer Zulieferer noch produzieren zu können. Gleichzeitig dürfen die Redundanzen nicht zu groß sein, weil das hohe Kosten verursacht.

Welche Folgen eine ausschließlich lineare Sichtweise haben kann, machten die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers und die folgende Finanzkrise deutlich, die die Weltwirtschaft an den Rand des Kollapses brachten. Damals konnte sich niemand ausmalen, dass plötzlich eine wichtige Finanzierungsquelle wegbricht – ein solches Szenario war in den Risikomodellen schlicht nicht vorgesehen. Heute könnte ein ähnlicher Fehler bei der Flüchtlingskrise vergleichbar fatale Fehlentscheidungen für die politische Stabilität Europas nach sich ziehen.

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