16. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Griechenland: Viel Verwirrung an der Grenze“ · Kategorien: Balkanroute, Griechenland, Mazedonien

Quelle: Telepolis

Der Versuch von Flüchtlingen, aufgefordert durch ein Flugblatt, nach Mazedonien vorzudringen, scheiterte

Wassilis Aswestopoulos

Am Montag, der „Kathara Deftera“, dem Beginn der Fastenzeit in Griechenland, hatten knapp 2000 Flüchtlinge in einer Verzweiflungsaktion versucht, auf eigene Faust und von einem dubiosen Flugblatt animiert, die Grenze zu überschreiten. Der Versuch scheiterte. Er löste jedoch zahlreiche politische Verwirrungen aus.

Mit kostenlosem Wi-Fi-Zugang möchte die griechische Regierung nun zur Räumung des wilden Lagers an der Grenze Griechenlands bei Eidomeni beitragen. Über den Internetzugang sollen die Flüchtlinge auf die arabischen Seiten der staatlichen Nachrichtenagentur Athens News Agency geleitet werden und dort lesen, dass ihr Ausharren vor Ort zwecklos ist. Noch sind die arabischen Seiten auf der Internetpräsenz der Agentur jedoch kaum auffindbar.

Tsipras bleibt in Athen

„Die Grenzen bleiben dicht. Diejenigen, welche die Balkanroute verschlossen haben, werden sie nicht wieder öffnen“, sagte Alexis Tsipras während der Pressekonferenz im Anschluss an den Staatsbesuch des Präsidenten Armeniens Sersch Sargsjan. Er rief die Flüchtlinge nochmals auf, Eidomeni zu verlassen. Tsipras bezeichnete diejenigen, welche am Montag ein Flugblatt mit einer angeblich sicheren Ausweichroute verteilten, als Verbrecher. Sie hätten „ein diplomatisches Chaos und mittelbar auch den Tod von drei Afghanen zu verantworten“. Tsipras machte jedoch erneut keinerlei Anstalten, einen Besuch in der Krisenregion anzukündigen.

Das Kommando Norbert Blüm

Um die Urheber des fraglichen, mit „Kommando Norbert Blüm“ unterschriebenen Flugblätter zu finden, durchsucht die griechische Polizei die Copy-Shops und Druckereien in Kilkis und Polykastro. Die Strafverfolger hoffen, über eine forensische Analyse an die fragliche Druckmaschine oder den Drucker zu kommen und darüber wiederum zu den Urhebern zu gelangen.

Hinsichtlich der Urheber werden wilde Vermutungen verbreitet. Es ist die Rede von autonomen Gruppen, einer gezielten Provokation und auch von einer Aktion einer der in Eidomeni anwesenden Flüchtlingshilfsorganisationen. Der Pressesprecher der ministeriellen Koordinierungsgruppe für Flüchtlinge, Giorgos Kyritsis, bemerkte im Rundfunk, dass auf dem in arabischer Sprache verfassten Flugblatt von griechischen Grenzschutzpolizisten die Rede ist. Weil dieser Ausdruck im Griechischen unüblich ist, meint Kyritsis, dass ausländische Gruppen hinter der Aktion stecken.

Den am Wochenende für eine Nacht im Lager campierenden Norbert Blüm verdächtigt dagegen niemand als Initiator der Anleitung zum illegalen Grenzübertritt. In seiner Argumentationskette schlüssig scheint jedoch der Verdacht, dass unter den Initiatoren auch Schleuser sein könnten. Denn diesen ist an einer weiteren Öffnung der für sie lukrativen Balkanroute besonders gelegen.

Der Text des Flugblatts

Gemäß der offiziellen Übersetzung, wie sie von amtlichen griechischen Stellen verbreitet wurde, steht in dem Flugblatt:

„Die Wahrheiten

1. Die griechisch-mazedonische (EJR Mazedonien) Grenze ist geschlossen und bleibt geschlossen.

2. Es wird keine Busse oder Züge geben, welche Sie nach Deutschland fahren werden.

3. Das Wahrscheinlichste ist, dass die, die in Griechenland bleiben, in die Türkei abgeschoben werden.

4. Wer auf illegalem Weg in die Staaten Zentral- und Osteuropas gelangen kann, wird dort verbleiben können (Deutschland nimmt noch Flüchtlinge auf).

5. Das Wahrscheinlichste ist es, dass das Camp von Eidomi in den nächsten Tagen geräumt wird. Sehr wahrscheinlich wird man Sie in Einrichtungen der griechischen Regierung bringen und von dort aus werden sie zurück in die Türkei verbracht.

Die Lösung

1. Der vor Ihnen aufgebaute Zaun soll Sie desorientieren, damit Sie glauben, dass die Grenzen geschlossen sind. Der Zaun endet in fünf (5) Kilometern von hier, wo es keinen Zaun, der Sie am Grenzübertritt nach Mazedonien (EJR Mazedonen) mehr gibt. Sie können dort durchgehen (Schauen Sie auf die Karte.

2. Wenn Sie in kleinen Gruppen oder allein marschieren, dann wird die Grenzpolizei oder das Militär Sie stoppen und zurück nach Griechenland bringen.

3. Wenn Sie sich aber sammeln und tausende Menschen gleichzeitig rübergehen, dann kann die Polizei sie nicht stoppen und zurückbringen.

Lasst uns am Montag um 14:00 h am Eingang des Camps treffen, damit wir die Grenze alle zusammen passieren. Bitte schauen Sie auf die Karte, damit Sie den Weg und den Treffpunkt kennen.“

Nicht in der amtlichen Übersetzung enthalten ist der auf dem Flugblatt gemachte Hinweis, dass das betreffende Papier weder Polizisten noch Journalisten gezeigt werden sollte.

Das Schicksal der illegalen Grenzübertreter

Zumindest unter den Fotografen ist bekannt oder wird so verbreitet, dass der von den Grenzschützern der EJR Mazedonien gestoppte Ausbruchsversuch von knapp 2000 Flüchtlingen aus dem Lager Eidomeni von niederländischen Helfern unterstützt wurde. Die Niederländer stellten das Seil, welches über den reißenden Strom des Flusses Axios gespannt wurde, damit die Flüchtlinge durchwaten konnten.

Die Fotografen und Journalisten, die zusammen mit den Flüchtlingen westlich von Eidomeni und nördlich des Grenzdorfes Chamilo einen der vielen oft von Schmugglern genutzten Schleichwege ins Nachbarland nutzten, hatten trotz einer in westlichen Staaten unangebrachten Behandlung noch das bessere Schicksal. Sie mussten einige Stunden ohne Gelegenheit zum Toilettengang ausharren und konnten nach Zahlung von 260 Euro und mit der Strafe eines sechsmonatigen Einreiseverbots das Land verlassen. Zumindest die griechischen Pressefotografen, welche das Bußgeld nicht entrichten wollten oder konnten, wurden auf Druck des griechischen Außenministeriums auch ohne Bezahlung wieder entlassen.

Sind sie wieder da?

Den Flüchtlingen hingegen widerfuhr ein schlimmeres Schicksal. Einige von ihnen fanden sich wieder im Lager Eidomeni ein. Vor allem die Männer unter ihnen waren mit sichtlichen Spuren von Faustschlägen übersät. Einer zeigte in den abendlichen Fernsehnachrichten sogar einen amputierten und bandagierten Finger.

mazedonien

Die Rückkehrer berichteten nicht nur von Schlägen und Misshandlungen, sondern auch von einem weiteren Ereignis. Demnach sollen die Soldaten der EJR Mazedonien die Menschen mit Militärlastern in die Nähe des Camps Eidomeni gebracht haben und dort den Grenzzaun durchschnitten und die Menschen zurück nach Griechenland gezwungen haben.

Interessant ist zudem, dass die griechische Regierung mit den Erklärungen des Vize-Verteidigungsministers Dimitris Vitsas die Rückkehr der Grenzübertreter bis zum Mittag heftig dementiert hatte. Dem Vorsitzenden der Koordinierungsstelle für Flüchtlinge Vitsas stand Pressesprecher Kyritsis bei. Er erklärte, dass die Regierung der Nachbarrepublik einen Antrag auf Rückführung stellen müsse und dieser dann von der Regierung geprüft werde. In späteren Verlautbarungen der Grenzkontrollstellen Doirani, Evzonoi und Florina hieß es, dass kein Flüchtling durch einen der Grenzübergänge gekommen sei. Die Nachrichtenagentur Reuters hingegen meldete die Abschiebung aller Flüchtlinge nach Griechenland.

Unzweifelhaft ist, dass der massenhafte Grenzübertritt die diplomatischen Spannungen zwischen Athen und Skopje noch weiter erhöht hat. Dem seit Jahrzehnten schwelenden Namensstreit hat sich nun der Streit über die Grenzsicherungen und die Frage, welcher beider Staaten einen illegalen Grenzübertritt aktiv förderte hinzugesellt.

Parteipolitische Streitereien

In Griechenland und von Griechen muss die Nachbarrepublik entweder mit ihrem von der UNO anerkannten vorläufigen Namen „Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien“ oder mit der englischen Abkürzung FYROM tituliert werden. Akzeptiert werden auch Benennungen nach der Hauptstadt, also Skopje. Ein Verstoß dagegen hat für jede im öffentlichen Leben stehende Person die Ächtung zur Folge.

Nun „schaffte“ es die EJR Mazedonien zumindest in allen internationalen Medien über die ständige Erwähnung als Mazedonien den gewünschten Wunschnamen zu etablieren. Schließlich sagt auch zu Deutschland kaum ein Journalist Bundesrepublik Deutschland oder wie zu Zeiten des DDR Fernsehens „BRD“. Zum Ärger der Griechen ist vielen ausländischen Journalisten in Eidomeni auch nicht bewusst, dass sie sich in der griechischen Region Zentralmakedonien befinden.

Offenbar im Eifer des Gefechts entfuhr Immigrationsminister Ioannis Mouzalas mitten im Chaos über das Drama der aus Griechenland flüchtenden Flüchtlinge in einem Interview der Halbsatz: „Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien“. Ein Affront für alle Nationalgesinnten, die sofort seinen Kopf forderten. Der Fraktionssprecher der PASOK-DIMAR Fraktion, Andreas Loverdos, forderte den Rücktritt Mouzalas und kann zu Recht darauf verweisen, dass seine Partei, die PASOK, unter Andreas Papandreou sogar wegen des Namensstreits ein jahrelanges Embargo gegen den Nachbarn verhängt hatte. Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis, der Vorsitzende der Nea Dimokratia, tat es ihm gleich. Mitsotakis entging dabei, dass sein eigener Vater 1993 das Premierministeramt verlor, weil er meinte, dass die EJR Mazedonien doch ruhig Mazedonien genannt werden sollte. „In zehn Jahren hat dann jeder den Streit vergessen“, meinte Konstantinos Mitsotakis einst.

Eher bizarr mutet jedoch an, dass Verteidigungsminister Panos Kammenos „als Koalitionspartner und nicht als Minister“ den sofortigen Rücktritt von Mouzalas forderte. Eine zwischenzeitliche Entschuldigung des viel Gescholtenen wollte niemand akzeptieren.

Den Rücktritt von Aristides Baltas hat hingegen noch niemand gefordert. Der Kulturminister sah sich bemüßigt zu bemerken, dass die Lage in Eidomeni keineswegs eine Schande für Griechenland, sondern vielmehr eine Ehre sei. So wurde es den ganzen Tag über in den griechischen Medien verbreitet. Vergessen wurde dabei Baltas‘ Zusatz, dass die Schande vielmehr den Ländern gebühre, die für die Grenzschließung verantwortlich seien, wogegen Griechenland sich zumindest bemühen würde, den Menschen zu helfen.

Eine Sichtweise, mit der sich der frühere Vizepremier Thodoros Pangalos keineswegs identifizieren kann. „Die Regierung Tsipras, ihre Minister und Mitarbeiter, diese Linksgesinnten, angebliche freiwillige Hilfsorganisationen, die aber von überall Geld erhalten – all die sind Mörder“, polterte Pangalos im Radiosender VimaFM. Er begründete dies mit seiner Sorge um die Kinder, die im Höllenszenario von Eidomeni von ihren Eltern in ungeeigneten Zelten untergebracht und lebensbedrohlichen Risiken ausgesetzt würden.

Weil darüber hinaus staatliche Flüchtlingslager mit sanitären Anlagen, warmen Essen und Betten zur Verfügung stehen würden, fragte sich Pangalos, „warum marschiert nicht das Militär dort ein und bringt die Menschen mit Gewalt in die Lager?“

Weder Pangalos, noch Baltas und erst recht nicht Tsipras haben das Lager Eidomeni aus der Nähe gesehen. Dagegen hat der kritisierte Mouzalas zahlreiche Inspektionen vor Ort durchgeführt – zuletzt am Dienstag zusammen mit dem EU-Immigrationskommissar Dimitris Avramopoulos. Beide Politiker befanden die vorgefundenen Zustände als untragbar.

Zu einem Besuch in Eidomeni hatte sich auch Oppositionsführer Mitsotakis entschlossen. Von dort aus twitterte er, dass „Eidomeni ein Schlag in die Magengrube des zivilisierten Europas“ sei. Mitsotakis forderte Pläne zur Räumung des Lagers und warf Tsipras vor, dass dieser sich noch nicht dorthin begeben hätte.

An der Situation im Lager selbst hat sich auch an diesem Tag nichts verbessert. Der Regen hält ununterbrochen an, der Schlamm wird immer tiefer. Allerdings deutet sich bereits jetzt ein zweiter „Fall Eidomeni“ an. Im Hafen von Piräus befinden sich bereits mehr als 4000 Flüchtlinge. In den Passagierterminals ist für viele von ihnen kein Platz. Sie zelten im gesamten Hafengelände bei auch in Piräus vorherrschendem starken Regenwetter und Kälte. Auf den griechischen Inseln warten derweil 9229 Menschen auf ihre Überfahrt nach Piräus.

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