12. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Von Dublin bis Idomeni“ · Kategorien: Balkanroute

Quelle: Frankfurter Rundschau

Die Geschichte der Balkanroute – von ihrem Geburtstag am 4. September 2015 bis zu ihrer vollständigen Schließung.

Nach Stunden des Wartens kommt die erlösende Nachricht: Alle dürfen weiter, nach Österreich. Es war der 4. September 2015 – der Geburtstag der „Balkanroute“, die vorgestern vollständig geschlossen wurde. Bis zu jenem Tage hatten die Behörden in Ungarn. Österreich und Deutschland einer Fiktion angehangen: Für die Tausende, die inzwischen täglich über Mazedonien und Serbien in die EU einreisten, galt formal noch immer das „Dublin-Abkommen“: Jeder Kriegsflüchtling musste danach in dem EU-Land Asyl beantragen, das er zuerst betrat.

Für die meisten war das Land des ersten Eintritts zwar Griechenland. Weil Athen mit der Zahl der Flüchtlinge aber schon lange überfordert war, hatte der Europäische Gerichtshof das Abkommen für Griechenland aber schon lange ausgesetzt. Für Bulgarien, das zweite Einfallstor, galt das de facto ebenfalls. Wenn immer etwa eine deutsche Behörde einen Asylbewerber nach Bulgarien schicken wollte, urteilten deutsche Gerichte: Nicht zumutbar. Italien schließlich, wo bis ins Frühjahr die meisten Kriegsflüchtlinge angekommen war, winkte die allermeisten einfach nach Norden durch. Weil Ankommende in Italien gar nicht erst registriert wurden, konnte niemand sie dorthin zurückschicken.

Auch Ungarn hatte bis wenige Tage zuvor durchgewinkt. De facto, nicht de jure: Zwar musste, wer über Ungarn in die EU einreiste, dort formal auch einen Asylantrag stellen. Kaum ein Flüchtling aber erlebte dort auch nur sein Erstgespräch; alle reisten weiter über die noch unkontrollierte Grenze nach Österreich und Deutschland. Erst als die Regierung unter Viktor Orbán beschloss, das nur noch fiktive Dublin-Abkommen tatsächlich umzusetzen, wurde der Budapester Ostbahnhof zur Tausende zur Falle.

Kettenreaktion auf dem Balkan

Wirklich durchsetzen ließ Dublin sich nicht mehr; das war allen klar. Die Staaten an der Südgrenze der Union, vor allem Griechenland und Italien, hatten schon seit Jahren um Hilfe gerufen. Wäre es im letzten Sommer noch nach dem Buchstaben des Abkommens gegangen, hätte Ungarn neben seinen zehn Millionen Einwohnern heute auch mehr als eine Million Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten aufnehmen müssen. Auch Orbán nutzte die Dublin-Vorschriften nur, um sie ad absurdum zu führen und den Flüchtlingsstrom von Ungarns Grenzen wegzulenken. Als Budapest dann in den nächsten sechs Wochen dann die Grenze zum Nicht-EU-Land Serbien schloss, zogen die Flüchtlinge stattdessen durch Kroatien – ebenfalls ein „Dublin-Land“ und nicht einmal halb so groß wie Ungarn. „Dublin“ war, wenn nicht tot, dann doch scheintot: Erst wenn der Strom abgeschwollen wäre, so die vage Hoffnung in Berlin, würde die alte Regelung in veränderter Form wieder gelten können.

Die „Balkanroute“ über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich wurde zur „Flüchtlingsautobahn“. Nachdem Ende August in einem Schlepper-LKW in Österreich mehr als 70 Leichen gefunden wurden, halfen Uno-Flüchtlingshilfswerk und EU den Balkanstaaten, die Reise sicher und zu geringen Kosten zu organisieren. Das Schlepperwesen trocknete aus. Der Strom wurde streng kanalisiert. Alle Einreisenden wurden registriert. Alle kamen in Bussen und Zügen über die Grenzen, niemand watete mehr durch Bäche oder schlug sich durchs Gestrüpp. Das linderte die Strapazen. Es schuf aber auch die Voraussetzung dafür, den Strom zu kanalisieren, zu kontrollieren und bei Bedarf irgendwann abzuschalten. Slowenien und Österreich begannen frühzeitig, sich für diesen Fall zu rüsten, und bauten Zäune.

Mitte November begann die „Aktion Abschaltung“: Überraschend schloss das kleine Mazedonien seine Grenze zu für alle Flüchtlinge außer für Syrer, Iraker und Afghanen. Wer den Startschuss zu der Aktion gegeben hat, ist bis heute unklar. Mazedonien berief sich auf Serbien, das angeblich seine Grenze geschlossen und den Nachbarn so gezwungen hatte, es ihm gleichzutun. Serbien reichte die Verantwortung weiter nach Kroatien, Kroatien nach Slowenien. Die Slowenen dementierten. Nirgends gibt es ein Gesetz, nur polizeiliche Direktiven. In allen beteiligten Hauptstädten sind solche Entscheidungen Chef- und geheime Kommandosache. Auf dem Balkan wurde und wird Berlin als Urheber der rätselhaften Kettenreaktion verdächtigt.

Berlin setzte auf eine „europäische Lösung“ jenseits des unsinnigen Dublin-Abkommens. Wie die aber aussehen konnte, blieb unklar – und erst recht, wie man eine Lösung hätte durchsetzen wollen. In das Vakuum stießen dann Mitte Januar die Österreicher: Nach der Kölner Silvesternacht drohte in Wien die Stimmung zu kippen. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), bis dahin auf Merkel-Linie, ergab sich seinem konservativen Koalitionspartner.

Mit einer Balkantour ergriff der junge Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) das verlassene Steuerrad der EU-Flüchtlingspolitik. Österreich setzte auf die Furcht der allesamt noch kleineren Balkanländer zunutze, sie könnten zur Sackgasse werden und mit Zehntausenden Flüchtlingen sitzen bleiben. Seit vorgestern, Mitternacht, bleibt die mazedonische Grenze geschlossen. Eine Rückkehr nach Dublin ist nicht in Sicht. Weil sich aber auch keine Alternative abzeichnet, macht jedes Land, was es will.

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