11. März 2016 · Kommentare deaktiviert für Flüchtlinge: Neue Route könnte über Bulgarien führen · Kategorien: Balkanroute, Bulgarien

Quelle: derStandard

Das Bundeskriminalamt berichtet von verstärkten Aktivitäten. Flüchtlinge im Land fühlen sich durchaus wohl, von NGOs kommt aber massive Kritik

Kim Son Hoang aus Banya und Sofia

Im Herzen Bulgariens klingt im ersten Moment wie mitten im Geschehen. Vor Ort wirkt Banya aber doch relativ weit vom Schuss. Und mit knapp 4.000 Einwohnern kann man hier wirklich guten Gewissens von einem ruralen Ambiente sprechen. Auf einer Anhöhe am Rande der Ortschaft ragt zwischen der verschneiten Landschaft ein oranges, modern wirkendes, zwei- bis dreistöckiges Gebäude empor. Der Zaun rundherum und der Sicherheitsdienst lassen es schon erahnen, hier handelt es sich um ein brisantes Gebäude: Es ist das zweitälteste in Bulgarien errichtete Flüchtlingslager und mit Platz für 70 Personen auch gleichzeitig das kleinste der insgesamt sechs Einrichtungen. Viel mehr erfährt man hier aber nicht.

Dimitar Zahariev leitet seit sechs Jahren diese Einrichtung. Der Mann mittleren Alters empfängt einen im Besprechungsraum vor seinem Büro, voller verschiedener und bereits intensiv gebrauchter Sofateile. Dorthin gelangt man durch ein verfliestes Stiegenhaus, wo auch eine Tafel angebracht ist, die auf die Mitfinanzierung der EU hinweist. Außerhalb des Gebäudes ist unter der Schneedecke ein Spielplatz in respektabler Größe ersichtlich. Doch sowohl innen als auch außen fehlt etwas: Leben. Von Asylwerbern ist nichts zu sehen. Dabei war eigentlich mit Zahariev ausgemacht, mit Flüchtlingen sprechen zu dürfen. Davon will er aber nichts mehr wissen.

Er selbst stellt sich wenigstens zur Verfügung, doch seine Antworten haben überschaubare Aussagekraft: Seit 2013 gebe es beim „Migrationsdruck“ ein Auf und Ab, spontan sind es mal mehr, mal weniger Asylwerber, die von der türkisch-bulgarischen Grenze ins 150 bis 300 Kilometer entfernte Banya gebracht werden. Vorwiegend stammen sie aus Syrien, Afghanistan, dem Irak. Die meisten wollen weiter nach Sofia, und ob der derzeit 30 Kilometer lange Grenzzaun – er soll auf 160 Kilometer erweitert werden – hilft, kann man jetzt noch nicht sagen. Und nach internationaler Kritik an den Unterbringungsmöglichkeiten für Asylwerber in Bulgarien habe sich einiges geändert, versichert Zahariev, mittlerweile gebe es auch eigene Bereiche für Frauen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Selbst nachsehen darf man nicht.

„Gefahr einer unmenschlichen Behandlung“

Immer wieder steht Bulgarien in Sachen Flüchtlinge in der Kritik. Es geht um Rückweisungen an der Grenze zur Türkei, Misshandlungen und Diebstähle durch die Polizei, um nur einige Beispiele zu nennen. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR gab im April 2014 sogar die seltene Empfehlung an EU-Länder aus, Dublin-Rückschiebungen nach Bulgarien zu unterlassen. Begründet wurde dies mit systematischen Mängeln bei der Aufnahme von Asylwerbern und bei den Asylverfahren. Man laufe dort „Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein“.

Bulgarien reagierte. Die Flüchtlingsunterkünfte im ärmsten Land der EU wurden – auch mit Geldern aus Brüssel – saniert, die staatliche Flüchtlingsagentur personell beträchtlich aufgestockt. UNHCR und NGOs wussten dies öffentlich zu schätzen. Trotzdem bleiben noch genügend Probleme. Misshandlungen, Rückweisungen, wie gesagt, die Vorwürfe mehren sich, und dann wäre da noch die Sache mit der Integration.

Mögliche Alternative zur Balkanroute

Rund 27.000 Flüchtlinge sind nach offizieller Lesart im vergangenen Jahr von der Türkei nach Bulgarien gelangt. Der Großteil ist weitergereist, die Ziele lauteten Schweden, Österreich – und natürlich Deutschland. Jetzt, wo auf der Balkanroute die Grenzen geschlossen wurden, könnten die Fluchtbewegungen von der Türkei nach Bulgarien anstatt nach Griechenland zunehmen, um dann über Rumänien und Ungarn nach Mitteleuropa zu gelangen.

Von entsprechenden Aktivitäten von Schleppern berichtete Gerald Tatzgern vom österreichischen Bundeskriminalamt am Dienstag im Ö1-„Morgenjournal“. Schleppungen über Bulgarien und Ungarn nehmen zu, sagte er. „Wir haben dieses Risiko erkannt und ergreifen alle Maßnahmen dagegen“, sagte die bulgarische Innenministerin Rumjana Batschwarowa am Mittwoch zu einer möglichen Alternativroute durch ihr Land. Man verstärke die Möglichkeiten „organisatorisch und ressourcenmäßig“, um dies zu verhindern. Und Ungarn erklärte am gleichen Tag den Krisenzustand über das ganze Land und traf Vorbereitungen, um an der Grenze zu Rumänien notfalls rasch einen Zaun zu errichten.

Zur Erinnerung gerufen werden muss in diesem Zusammenhang noch eine Aussage des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, getätigt vor dem ersten EU-Türkei-Gipfel Ende November: „Wir können die Türen nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen.“

Unabhängig davon: Die Flüchtlinge, die im Land bleiben, wollen oder müssen – 2015 wurden etwa 5.300 Asylanträge positiv beschieden –, sind auf sich allein gestellt. 2013 lief das staatliche Integrationsprogramm aus, ein neues ist nicht in Sicht. Das bedeutet unter anderem keine Sozialleistungen und keine Sprachkurse, um sich in der bulgarischen Gesellschaft besser integrieren zu können. Dazu passt ins Bild, dass sich bei diversen Umfragen ein Großteil der Bevölkerung – mitunter bis zu 90 Prozent – gegen die Aufnahme von Flüchtlingen ausspricht.

Sorge um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

„Es gibt keine klaren Strategien, und die verschiedenen Ministerien sagen, sie seien für die Flüchtlinge gar nicht verantwortlich“, sagt Emanouil Patashev, Generalsekretär der Caritas Bulgarien. Iliana Savova, Leiterin des Bulgarischen Helsinki-Komitees, moniert vor allem, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vollkommen im Stich gelassen werden, für sie kein Vormund bestellt wird und sie daher überhaupt nicht in das Prozedere des Asylverfahrens hineinkommen. Und die Medien, sagt sie, verfassen oft regelrechte „Hassreden“ auf Flüchtlinge.

Von schlechter Behandlung wissen die beiden Syrer Elias Jabali und Eli Said nicht zu berichten. Ersterer lebt seit eineinhalb Jahren in Sofia, er kam mit dem Flugzeug. Sein Onkel lebt hier schon länger, da läuft Integration im familiären Kreis ab. Für Eli war der Weg in die EU beschwerlicher. Gemeinsam mit seinem Bruder ist er vor sechs Monaten aus seiner Heimatstadt Al-Hasakah im Nordosten Syriens geflohen, nachdem er „Menschen hat sterben sehen“. Umgerechnet 1.800 Euro hat er Schleppern gezahlt, um ihn nach Bulgarien zu bringen. Die türkisch-bulgarische Grenze hat er zu Fuß überquert, im Wald. Über die südbulgarische Stadt Harmanli kam er nach Sofia, wo er Asyl beantragte. Die Polizisten, sagt er, „haben mich gut behandelt“.

„Essen schlecht, Zimmer gut“

Den positiven Bescheid erhielt Said nach drei Monaten, es geht schnell bei Syrern. Nun steht er in knöchelhohen braunen Winterschuhen, ausgewaschener Bluejeans, einer unauffälligen erdfarbenen Jacke, zurückgegelten Haaren und modischer Brille vor einem Gebäude im arabischen Viertel Sofias. Untergebracht ist er im Asylheim Voenna Rampa, das Platz für 800 Personen bietet. Da ist das „Essen schlecht, das Zimmer aber gut“.

Die Bewohner putzen selbst, es ist sauber und man kann es dort aushalten, erzählt Said. Zwischendurch blitzen immer wieder seine Zähne auf, er lacht offensichtlich gerne, ist gut drauf. Sprachkurse erhält er von der Caritas, die in besagtem Gebäude im arabischen Viertel ein Beratungszentrum für Asylsuchende eingerichtet hat. Beratungszentrum klingt grundsätzlich groß und formell, in diesem Fall ist es eine schlicht eingerichtete Drei-Zimmer-Wohnung in einem Plattenbau. Hier gibt es neben Sprachkursen auch Rechtsberatung und Medikamente. Über diese Verbindung war es möglich, überhaupt mit Flüchtlingen zu reden, fernab staatlicher Institutionen.

Seit Anfang 2015 existiert dieses Beratungszentrum. Eigentlich hatte man es in einem nobleren Viertel errichtet, erzählt Projektkoordinator Ivan Cheresharov. Doch dahin kamen kaum Flüchtlinge. Hier, im bescheideneren arabischen Viertel fühlen sie sich aber wohl. Eli Said schaut regelmäßig vorbei, er macht Fortschritte in der bulgarischen Sprache, und an manchen Reaktionen erkennt man, dass er auch des Deutschen bruchstückhaft mächtig ist. Er will in Bulgarien bleiben, hier sei es warm und die Kultur ähnlich. Wie in Syrien will er auch hier als Friseur arbeiten. Er lächelt wieder, ist optimistisch, bald etwas zu finden.

Gedanken über das Glücklichsein

Auch Mohammed Al-Kazak lacht gerne, auch er ist Friseur, ansonsten ist sein Fall aber komplett anders gelagert. Der 34-Jährige, Goldkette um den Hals, Zottelbart, Teile seiner Brustbehaarung frei zur Schau stellend, macht sich viele Gedanken über sein Leben, das merkt man sofort. Er will hier glücklich werden, sagt er, doch was bedeutet Glück eigentlich, fragt er gleich rhetorisch hinterher. Seine Familie floh 1948 aus den palästinensischen Gebieten, geboren wurde er in Dubai. Wieso Dubai? Das sei „eine lange Geschichte“, lässt er diese Frage unbeantwortet. Auf alle Fälle befindet sich seine Familie derzeit in einem Flüchtlingslager im libanesischen Beirut. Die Zustände dort, sie sind „sehr, sehr schlecht“.

Drei Anläufe hat er gebraucht, dann konnte Al-Kazak 2013 mit einer kleinen Gruppe die türkisch-bulgarische Grenze überschreiten. Auf seinen Asylbescheid wartet er immer noch – er ist halt kein Syrer. Seine Chancen sollen nicht so gut stehen, heißt es. Auf alle Fälle mag er Bulgarien, „weil man hier auf Augenhöhe behandelt wird und weil man hier in Ruhe sein Geschäft aufziehen kann“. In Deutschland oder Österreich, hat er gehört, sei alles etwas komplizierter.

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