09. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die Politik des Stacheldrahts“ · Kategorien: Balkanroute, Europa, Türkei

Quelle: Zeit Online

Während die EU mit der Türkei verhandelt, schaffen die Balkanstaaten Fakten. Dennoch: Gut möglich, dass am Ende eine gemeinsame Lösung der Flüchtlingskrise steht.

Von Ludwig Greven

Das Schlussdokument des EU-Türkei-Gipfels vom Wochenende enthält nur wenige konkrete Beschlüsse. In einem Nebenpunkt setzte sich Angela Merkel jedoch durch. Mit ihrer ganzen Restautorität als Europas Anführerin erreichte die Kanzlerin, bevor sich der Gipfel vertagte, dass aus der Deklaration der Satz gestrichen wurde: „Die Westbalkanroute ist geschlossen.“ Das wollte Merkel auf keinen Fall so stehen lassen, denn in ihren Augen hätte das die nationalen Alleingänge der Balkanländer, angeführt von Österreich, nachträglich anerkannt.

Doch die Balkanländer scherten sich nicht um die Wortklauberei: In der Nacht zum Mittwoch schlossen sie tatsächlich die Balkanroute, über die im vergangenen Jahr Hunderttausende nach Norden, vornehmlich nach Deutschland, gekommen waren, zuletzt aber nur noch wenige Hundert pro Tag. Und widerlegten so Merkel.

Die derzeitige Hauptfluchtroute für all die Syrer, Iraker, Afghanen und Nordafrikaner, die vor Krieg und Elend in ihren Ländern weglaufen und weiter in die wohlhabenden Länder Europas wollen, ist nun also endgültig versperrt. Leidtragender dieser Entwicklung ist Griechenland, wo bereits mehr als 30.000 Flüchtlinge gestrandet sind. Vor allem den rund 13.000 Verzweifelten, die vor dem griechisch-mazedonischen Übergang Idomeni unter katastrophalen Bedingungen ausharren, raubt die Entscheidung der Balkanländer die letzte Hoffnung. Und Griechenland ist nebenbei faktisch aus dem Schengenraum ausgesperrt.

Über das menschliche Leid hinaus treibt der Alleingang von Slowenien, Kroatien und den Nicht-EU-Staaten Serbien und Mazedonien einen weiteren Keil in Merkels Bemühungen, zu einer gemeinsamen europäischen Lösung zu kommen. Die EU ist nun mindestens dreigeteilt: in die Balkanländer sowie Ungarn, die sich mit Zäunen gegen jede Migration abgeriegelt haben; andere osteuropäische Staaten wie Polen, die Slowakei und Tschechien, die ebenfalls keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen, genauso wenig wie Österreich („Wir haben genug getan, jetzt sind andere dran“, sagt Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil von der SPÖ). Und eine dritte Gruppe von Mitgliedsstaaten, die Merkel als Koalition der Willigen dazu bringen will, Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen – wenn sich schon die anderen verweigern.

Für jeden Syrer ein anderer

Denn das ist der kritischste Punkt der geplanten Vereinbarung mit Ankara: Die Türkei will sich verpflichten, alle auf die griechischen Ägäis-Inseln gelangten Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug soll die EU jedoch zusagen, für jeden Syrer, der in die Türkei zurückkommt, einen anderen Syrer nach Europa zu bringen und dort zu verteilen.

Welche Größenordnung das annehmen kann, ist noch völlig unklar. Die EU hat schon vor Jahren ein Kontingent für ein solches Umsiedlungsprogramm (Resettlement) im Umfang von 60.000 Menschen beschlossen. Das wurde aber bislang nicht in Anspruch genommen – wegen der heiklen Verteilungsfrage. Ähnlich könnte es auch jetzt passieren, wenn mit Mehrheit beschlossen würde, dass die aus der Türkei umgesiedelten Syrer auf alle EU-Staaten verteilt werden sollen. Zahlreiche Länder würden sich dem verweigern. Schon die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in andere EU-Länder ist ein Flop. Gerade mal knapp 900 Geflüchtete wurden bislang woanders untergebracht.

Gemeinsame Verantwortung

An diesem Punkt, nämlich der von Merkel und Kommissionschef Jean-Claude Juncker immer wieder beschworenen gemeinsamen Verantwortung aller Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingskrise, dürfte es beim Gipfel in der nächsten Woche noch einmal hoch hergehen. Denn die Gegner dieses Konzepts, angeführt von Ungarns Premier Viktor Orbán, sehen diese Verantwortung nicht und weigern sich deshalb strikt, Flüchtlinge aufzunehmen, schon gar keine muslimischen.

Merkel setzt daher auf ihre Koalition der Willigen. Aber auch damit ist es nicht so weit her. Frankreichs Präsident François Hollande etwa, eigentlich Merkels wichtigster Verbündeter, zögert mit konkreten Zusagen – wegen der Präsidentenwahl im kommenden Jahr und den Wahlsiegen des rechtsextremen Front National. Die Kanzlerin, die selbst vor drei wichtigen Landtagswahlen steht, bei denen die AfD stark abschneiden dürfte, wird das also noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen.

Denn klar ist: den Deal mit der Türkei, sprich die Abschottung der türkischen Küste für Flüchtlinge, gibt es nur, wenn auch die EU ihren Teil erfüllt. Im Endeffekt wird Deutschland aufgrund seiner Größe den Hauptanteil tragen. Bereits in der Vergangenheit war es Vorreiter: Deutschland hat 20.000 vornehmlich christliche Syrer im Rahmen eines Umsiedlungsprogramms aufgenommen, dazu 11.000 weitere im Rahmen des Familiennachzugs.

Jetzt geht es aber um ganz andere Größenordnungen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR rechnet mit mindestens 400.000 syrischen Kriegsflüchtlingen, die in den nächsten zwei bis drei Jahren aus der Türkei, dem Libanon und Jordanien nach Europa gebracht werden müssten. Eine große Zahl, aber doch viel kleiner als die 1,1 Millionen Flüchtlinge, die allein Deutschland 2015 aufnahm.

Kompromiss möglich

Trotz aller Streitpunkte könnte es beim EU-Türkei-Gipfel in der kommenden Woche im Idealfall dennoch eine Einigung geben. Und zwar so: Die Türkei erhält zu den zugesagten drei Milliarden Euro die geforderten weiteren Finanzzusagen für die Versorgung der Flüchtlinge; die Visapflicht wird im Juni für bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgehoben und mehrere weitere Kapitel des Beitrittsprozesses werden eröffnet, darunter die zu den Menschenrechten und zur Pressefreiheit – gegen die die Türkei unter Erdoğan eklatant verstößt, zuletzt mit der Beschlagnahmung der regierungskritischen Zeitung Zaman und der zu ihr gehörenden Nachrichtenagentur Cihan. Damit wären die Kritiker ruhiggestellt und garantiert, dass es so schnell keine Fortschritte gibt. Und die EU übernähme keine Verpflichtung, die Türkei irgendwann tatsächlich aufzunehmen, was kaum ein Land will.

Die Türkei sorgt im Gegenzug dafür, gemeinsam mit Frontex und den Nato-Patrouillenschiffen, dass keine Flüchtlinge mehr auf die griechischen Inseln gelangen, und wenn doch, werden sie zurückgebracht. Alles andere sichern die Balkanstaaten. Damit wäre zumindest dieser Weg für Flüchtlinge versperrt. Und Deutschland und einige andere Länder erklären sich bereit, Syrer aus der Türkei direkt zu übernehmen.

Alle wären zufrieden

Merkel könnte dann am Ende sagen, dass doch noch eine europäische, wenn auch nicht gemeinsame Lösung erreicht sei und man sich nun daran machen könne, die Binnengrenzen wieder zu öffnen und den Schengenraum wieder in Kraft zu setzen, da die Außengrenzen nun gesichert würden. Die anderen, insbesondere Ungarn, Österreich und die Balkanländer, werden darauf verweisen, dass erst ihre nationalen Grenzschließungen die letztlich gefundene Lösung erzwungen hätten. Und alle könnten sich freuen, dass nun nicht mehr ständig und ungeordnet so viele Flüchtlinge kämen.

Dies wäre, wie gesagt, eine Lösung, mit der alle irgendwie zufrieden sein können. Ob es so kommt, ist bei der EU immer ungewiss. Es muss ja nur einer querschießen wie beim jüngsten Gipfel Viktor Orbán – und alles gerät wieder ins Wanken.

Alternativroute über das Mittelmeer

Und selbst diese Lösung hätte einen Haken: Sie gilt nur für die Route von der Türkei über den Westbalkan. Flüchtlinge, vor allem solche in großer Not, lassen sich von Hindernissen nur selten aufhalten. In Libyen sollen schon 200.000 Menschen auf den Frühling und eine riskante Überfahrt Richtung Italien warten. Die Gefahr ist deshalb groß, dass wir dasselbe Drama wie jetzt in Griechenland bald auch wieder in Italien und auf dem Mittelmeer erleben. In den zerfallenen Staat Libyen kann man aber, anders als in die Türkei, niemanden zurückschicken.

Dann ist also erneut europäische Solidarität verlangt, wenn man Italien nicht mit Hunderttausenden Flüchtlingen alleine lassen will. Der nächste Sondergipfel dazu kommt bestimmt. Spätestens, wenn wieder Hunderte Flüchtlinge ertrinken.

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