08. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Die neuen Wege der Flüchtlinge“ · Kategorien: Balkanroute · Tags:

Quelle: FAZ

Nach der Schließung der Balkanroute dürften die Migranten nach Alternativen suchen. Schlepper könnten wieder einmal die Profiteure sein.

Die Schließung der Balkanroute, über die die EU auf dem Gipfeltreffen am Montag in Brüssel heftig diskutiert hat, dürfte die Wirtschaft und Infrastruktur im ehemaligen Jugoslawien entlasten. Andererseits bedeuten die verschärften Grenzkontrollen zugleich, dass es auch aus der Region selbst immer weniger Migranten nach Österreich und Deutschland schaffen werden. Überdies könnte die Abschottung dazu führen, dass Schlepper und Flüchtlinge neue Wege nach Westeuropa suchen, etwa über Albanien und Bulgarien.

Ungarn hat auf diese Verschiebung der Route schon reagiert. Kürzlich kündigte Ministerpräsident Viktor Orbán den Bau eines Zauns an der Grenze zu Rumänien an. Ähnliche Sperranlagen existieren schon Richtung Serbien und Kroatien. Weil die Flüchtlinge von Griechenland jetzt aber nicht mehr nach Mazedonien und dann nordwärts reisen können, fürchtet Budapest, dass sie verstärkt von Griechenland über Bulgarien nach Rumänien strömen. Bulgarien hat zwar seine Grenze zur Türkei mit Stacheldrahtverhauen gesichert, nicht aber jene zu Griechenland.

In Albanien, das ebenfalls an Griechenland grenzt, ist die Lage noch ruhig. Die Grenzschutzorganisation Frontex sieht vorerst keine Zunahme illegaler Übertritte dort. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) – die anders als Frontex an der Grenze präsent ist – beurteilt die Situation ähnlich, beobachtet aber, dass die Grenzüberwachung wächst.

„Die Alarmbereitschaft und die Zahl der Patrouillen hat als Folge der Entwicklung an der griechisch-mazedonischen Grenze zugenommen“, sagt eine Sprecherin und bezieht sich damit auf die weitgehende Schließung des mazedonisch-griechischen Kontrollstelle Idomeni.

Tirana wäre nicht vorbereitet

In Albanien wären die Grenzübergänge Kapshitca und Kakavija betroffen, von wo aus sich die Flüchtlinge Richtung Montenegro im Norden durchschlagen könnten. Anschließend müssten sie aber Serbien oder Kroatien durchqueren, die gemeinsam mit Österreich und den anderen Staaten der Region beschlossen haben, den Transit auszutrocknen.

Eine andere Möglichkeit bestünde darin, von der albanischen Adriaküste aus nach Italien überzusetzen. Logistisch und nautisch gilt das gegen entsprechende Bezahlung als machbar. Wie es heißt, wäre Tirana auf einen Massenansturm aber nicht vorbereitet, die Grenzpolizei könne nur 400 Personen am Tag abfertigen.

Die neuen möglichen Wege der Flüchtlinge sind kompliziert, weshalb die Schlepper in Zukunft mehr Geld verlangen könnten. Schon jetzt ist der Menschenschmuggel ein einträgliches Geschäft: Nach Schätzungen von Frontex haben die Schleuser 2015 rund 4 Milliarden Euro eingenommen. Die kriminelle Professionalität sei hoch, die Verbrecher träten verstärkt über soziale Medien in Erscheinung. Viele Facebook-Seiten ähnelten Reisebüros, „mit Fotos, Informationen zum Preis und zur Route sowie nützlichen Reisetipps“.

Mehr als ein Drittel versuchte es in Deutschland

Bisher war die Westbalkanroute der Hauptweg der Flüchtlinge. Frontex verzeichnete dort 2015 rund 764.000 illegale Grenzübertritte, siebzehnmal mehr als im Vorjahr. Dem europäischen Statistikamt Eurostat zufolge stellten im vergangenen Jahr 1,26 Millionen Personen in der EU einen Erstantrag auf Asyl, 123 Prozent mehr als 2014. Mehr als ein Drittel von ihnen versuchte es in Deutschland. Bezogen auf die Einwohnerschaft, waren die Belastungen in Ungarn, Schweden, Österreich und Finnland noch größer.

Am wenigsten Asylbewerber nahmen, relativ betrachtet, Kroatien, die Slowakei, Rumänien, Litauen, die Tschechische Republik und Slowenien auf. Mit Ausnahme Litauens sind dies alles Länder, die entweder selbst auf der Balkanroute liegen oder die EU-Aufnahmequoten für Flüchtlinge ablehnen. In Kroatien wurden 2015 nur 140 Anträge gestellt, in Slowenien 260. Für die Nicht-EU-Länder Mazedonien und Serbien gibt es keine verlässlichen Daten, doch dürften sie noch unter denen der Nachbarstaaten liegen.

Indes könnten sich die Westbalkan-Staaten mit der Abschottung ins eigene Fleisch schneiden. Denn noch immer versuchen Tausende ihrer Bürger, in dieselben Länder auszuwandern wie die Kriegsflüchtlinge. Zwar sinkt die Zahl der Wirtschaftsmigranten. Aber 2015 kamen Eurostat zufolge fast 14 Prozent aller Asylbewerber aus Albanien, Bosnien-Hercegovina, dem Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien.

Wirtschaftliche Auswirkungen unklar

Von diesen 172.000 Personen stellten 70 Prozent einen Antrag in Deutschland; die Quote ist doppelt so hoch wie unter allen Antragstellern. Die Hauptherkunftsländer sind Albanien und das Kosovo. Aber auch aus Mazedonien, das sich derzeit so vehement gegen den Durchzug weiterer Fremder wehrt, verschlug es mehr als 9000 Menschen nach Deutschland.

Unklar sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Fluchtbewältigung auf die Balkanstaaten. Die Grenzbefestigung, die Registrierung der Flüchtlinge, ihre Unterbringung, Verpflegung und der Transport verursachten zwar Kosten, sagt Vladimir Gligorov, Balkanökonom am Wiener Forschungsinstitut WIIW und Sohn des ersten Staatspräsidenten der Republik Mazedonien. Aber durch den Konsum der Reisenden komme auch Geld zurück in die Kasse, außerdem trügen ausländische Geber Teile der Aufwendungen. Für Mazedonien schätzt Gligorov die Nettobelastungen auf bisher 30 bis 40 Millionen Euro.
„Rückstau wäre für den Balkan ein Albtraum“

Die Westbalkan-Staaten gelten als bettelarm. Nach WIIW-Zahlen beträgt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Mazedonien und Serbien kaufkraftbereinigt nicht einmal 11.000 Euro im Jahr. Der Durchschnittsbruttolohn erreicht etwa 500 Euro im Monat, die Arbeitslosenquote schwankt zwischen 17 und 27 Prozent.

Den Transit der Flüchtlinge könnten die Staaten zwar stemmen, nicht aber die Anstrengungen, falls die Menschen dort strandeten, sagt Gligorov. Deshalb hätten sich die Regierungen sofort zur Zusammenarbeit bereit erklärt, als Österreich Höchstaufnahmezahlen und Grenzkontrollen einführte: „Ein Rückstau wäre für den Balkan ein Albtraum. Die Länder kommen kaum mit sich selbst klar, geschweige denn mit Asylbewerbern.“

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