06. März 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge: Viele Wege führen nach Westen“ · Kategorien: Balkanroute · Tags:

Zeit Online | 06.03.2016

Die Balkanroute ist weitgehend dicht. Viele Flüchtlinge werden auf andere Routen ausweichen. Die Länder stellen sich schon darauf ein, die Schleuser ebenfalls.

Von Thomas Roser, Belgrad

In Lojane sind die professionellen Grenzgänger schon wieder im Geschäft. Halbwüchsige und schweigsame Lederjackenträger harren am Ortsausgang des mazedonischen Grenzdorfs an dem Feldweg nach Serbien auf ihre Kunden. Erst vor Einbruch der Dunkelheit sei mit der Ankunft der Flüchtlinge zu rechnen, die durch die Wälder den Weg über die grüne Grenze ins nahe Serbien suchen, erzählt im Dorfcafé ein braungebrannter Landwirt. Viele in Lojane würden sich zwar freuen, dass nun „endlich wieder Geld“ in das bitterarme Dorf komme: „Aber Menschenschmuggel ist für das Dorf kein gutes Geschäft. Wenn die Polizei die Leute schnappt, drohen mindestens vier bis elf Jahre Haft: Schon jetzt sitzen aus Lojane 30 Menschen im Gefängnis von Kumanovo ein.“

Die Abriegelung der mazedonisch-griechischen Grenze hat die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, vorläufig stark reduziert. Zehntausende Migranten hängen nun in Griechenland fest und kommen nicht weiter. Hält der Flüchtlingsdruck aus der Türkei aber an, werden die Schleuser versuchen, für ihre Kunden alternative Wege in das ersehnte Westeuropa zu erschließen. Denn ob Balkan-, Adria-, oder Ostroute: Die Erfahrung lehrt, dass die Flüchtlinge und die Schleuser auf Hindernisse sehr schnell reagieren.

Die Zahl der illegalen Flüchtlinge steige, die der offiziell eingereisten Immigranten hingegen sei „stark zurückgegangen“, umschreibt Radoš Đurović, Direktor des Zentrums für Asylsuchende im serbischen Belgrad, die Lage: „Insgesamt sind derzeit deutlich weniger Flüchtlinge auf der Balkanroute unterwegs. Doch hält der Druck aus der Türkei an, wird sich das nicht halten lassen: Die Leute werden weiter kommen – und sich andere Wege nach Westen suchen.“

Fluchtroute schon in der Vergangenheit mehrfach geändert

Nicht nur der Blick auf die Landkarte, sondern auch die Erfahrung bestätigt, dass vom Bosporus aus viele Wege nach Westeuropa führen. Der Verlauf der Balkanroute hat sich nicht nur während der derzeitigen Flüchtlingskrise bereits mehrmals geändert, sondern war auch schon in früheren Jahren einem steten Wandel unterworfen.

In den letzten Tagen sei zwar „noch kein verschärfter Druck“ auf Bulgariens Grenzen zu Griechenland oder der Türkei zu registrieren, berichtet Sofia Kitty McKinsey, die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR): „Aber in der Vergangenheit haben die Schlepper mit alternativen Routen sehr schnell auf jede Änderung der Lage reagiert.“ Sie können sich über Smartphones genauso schnell über Änderungen verständigen wie die Flüchtlinge.

Hilfsorganisationen, Medien und die verantwortlichen Politiker der Region spielen derzeit alle erdenklichen Szenarien möglicher Routenänderungen nervös durch: Denn die erhoffte Entlastung durch Abriegelung der eigenen Grenzen bedeutet in der Regel verstärkten Druck auf die der Nachbarländer. Im Wesentlichen wird über drei Szenarien möglicher Routen-Änderungen samt mehrerer Varianten spekuliert: neue Umleitungen auf der bisherigen Balkanroute; die Verlagerung der Flüchtlingsbewegungen auf eine südlichere „Adriaroute“ via Albanien; oder die verstärkte Nutzung und Verschiebung der „Ostroute“ über Bulgarien nach Rumänien – möglicherweise gar über die bisher kaum genutzte Schwarzmeerroute.

Sollte die EU die Türkei aber tatsächlich dazu bewegen, den Bootstransfer auf die griechischen Inseln effektiv zu unterbinden und gleichzeitig die „Umleitung“ der Fluchtroute nach Bulgarien zu verhindern, dürfte die Mittelmeerroute von Libyen nach Italien wieder in den Blickpunkt rücken: Schon jetzt sollen an Libyens Küste Zehntausende von Flüchtlingen nur auf den Frühling und besseres Wetter für die riskante Passage nach Lampedusa warten.

Umleitungen auf der Balkanroute

So wie die Abzäunung von Ungarns Grenzen zu Serbien und Kroatien im Herbst zu der Verschiebung der Balkanroute nach Westen führte, könnte es wegen der Abriegelung der mazedonisch-griechischen Grenze nun erneut zu Umleitungen kommen.

Radoš Đurović erinnert daran, dass die Schleuser bereits vor drei Jahren zeitweise den Umweg über Albanien nutzten: Als Mazedoniens Polizei 2013 verstärkt im Dreiländereck zu Serbien und Kosovo patrouillierte und mehrere Schlepper in Lojane verhaften ließ, sei der Flüchtlingstransfer eine Zeit lang über Albanien und Montenegro nach Serbien erfolgt: „Das war damals für die Schlepper einfach vorteilhafter.“ Die Wiederholung des Szenarios hält er genauso für vorstellbar wie die verstärkte Nutzung von bereits jetzt frequentierten lokalen Ausweichrouten an der serbisch-mazedonischen Grenze über den Kosovo.

Die Flüchtlinge suchen sich ihren Weg

Selbst an Ungarns hermetisch abgezäunter Grenze zu Serbien wurde vor Abriegelung der Balkanroute in Idomeni im Februar eine wieder deutlich steigende Zahl aufgefasster Immigranten vermeldet. Noch scheinen die im Norden Serbiens gestrandeten Flüchtlinge nach Einschätzung der Hilfsorganisation kaum den Umweg über das nahe Rumänien zu nehmen. Dass Ungarns Premier Viktor Orbán Ende Februar den baldigen Baubeginn des bereits mehrfach angekündigten Grenzzauns zu Rumänien angekündigt hat, scheint ein Beleg, dass erste Schleuser von Serbien aus den Umweg über Rumänien bereits vermehrt austesten: Zuvor hatte Budapest stets versichert, dass die verschwindend geringe Zahl illegaler Grenzübertritte an Ungarns Ostgrenze deren Abzäunung nicht rechtfertige.

Die albanische Adriaroute

Denkbar ist auch die Entwicklung von Alternativrouten, die das bisherige Haupttransitland Serbien völlig umgehen – wie die Adriaroute über Albanien. Von dort könnten drei Wege in den Westen führen: Über die Adria nach Italien, an der Küste entlang über Montenegro ins südkroatische Dalmatien oder über Montenegro und Bosnien und Herzegowina nach Nordkroatien.

Es zeichne sich ab, dass in Griechenland gestrandete Flüchtlinge vermehrt nach Albanien ausweichen könnten, berichtet Jasmin Redžepi von der mazedonischen Hilfsorganisation Legis in Skopje: Zumindest die eigentlich noch immer durchreiseberechtigten, aber in Idomeni blockierten Syrer und Iraker könnten über Albanien eine „neue legale Route“ entwickeln.

Szenen des Massenexodus der 90er Jahre, als Zehntausende Albaner Schiffe in der Hafenstadt Durres kaperten, dürften sich aber kaum wiederholen. Einerseits ist der Schiffsverkehr in der Adria leichter zu überwachen als in der Ägäis. Andererseits ist die Überfahrt nach Italien wesentlich länger als von der türkischen Westküste auf die vorgelagerten griechischen Inseln. „Mit Schlauchbooten ist das nicht zu machen“, so Redžepi. Die vor allem von kroatischen Medien immer wieder ins Spiel gebrachte Küstenroute hält wiederum Radoš Đurović für wenig realistisch: In Dalmatiens schmalen Küstenstreifen seien die Überlandstraßen von der Polizei „relativ leicht zu kontrollieren“. Kaum wirkungsvoll zu überwachen sei hingegen die Route von Albanien über Montenegro und Bosnien und Herzegowina nach Kroatien: „Einzelne Schlepper werden das probieren. Aber das ist eine sehr harte Route mit vielen Grenzen. Zehntausende werden das kaum versuchen.“

Die bulgarische Ostroute

Schon jetzt gilt die beschwerliche Ostroute durch Bulgarien als populärste Alternative zur ebenso riskanten wie kostspieligen Bootspassage über die Ägäis. Nicht nur die neuen Flüchtlingshindernisse an der mazedonisch-griechischen Grenze, sondern auch die Furcht, dass eine etwaige Abriegelung der Ägäisroute durch die Türkei die Flüchtlinge vermehrt in Richtung Bulgarien umleiten könnte, lässt Sofia entschlossen auf den Ausbau des Zauns an der EU-Außengrenze zur Türkei setzen.

Nicht nur Budapest, sondern auch Bukarest schließt offenbar eine nördliche Verschiebung der bisher von Bulgarien nach Serbien verlaufenden Ostroute nicht aus. Anfang Februar kündigte Bukarest die Einrichtung eines Flüchtlingslagers im nordwestrumänischen Tășnad im Grenzgebiet zu Ungarn an. Eine verstärkte Überwachung der bulgarisch-türkischen Grenze könnte dabei Schleusernetzwerke auch die bisher so gut wie kaum genutzte Schwarzmeerroute entwickeln lassen: Vom Bosporus ist Bulgariens Küste nicht weit entfernt.

Ob sich die Zahl der Flüchtlinge dauerhaft reduzieren lässt, hängt nach Ansicht von Đurović aber nicht nur von den Entwicklungen in Syrien, sondern auch von der Türkei und der EU ab. Sofern es Brüssel nicht gelinge, Ankara zu einem nachhaltigen Küstenschutz zu bewegen, sei allenfalls mit Routenänderungen, aber kaum mit einem Nachlassen der Flüchtlingsbewegungen zu rechnen: „Illegale Immigration ist wie ein Fluss. Wenn man versucht ihn aufzuhalten, schlägt er eine andere Richtung ein – aber fließt weiter.“

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