22. April 2015 · Kommentare deaktiviert für „Fluchtverhinderung geht vor Flüchtlingsschutz“ · Kategorien: Mittelmeer · Tags:

Flüchtlingssterben auf dem Mittelmeer: Kommt der politische Richtungswechsel?

Nachdem in wenigen Tagen weit über 1000 Schutzsuchende und Migranten im Mittelmeer ertranken, bekunden die Spitzen der deutschen und europäischen Politik, das Massensterben beenden zu wollen. Doch der nun von der EU vorgelegte 10-Punkte-Plan beinhaltet wenig Neues – und skandalös Verfehltes.

„Wir werden alles tun, um zu verhindern, dass weitere Opfer im Mittelmeer vor unserer Haustür umkommen auf quälendste Art und Weise“, sagt Bundeskanzlerin Merkel. In der Bild-Zeitung, unter dem Titel „Stoppt das Drama jetzt!“. Dort interviewte das Boulevard-Blatt deutsche Spitzenpolitikerinnen und -politiker zur Flüchtlingskatastrophe. Vizekanzler Gabriel (SPD) ließ sich mit der Aussage zitieren, „wir brauchen Möglichkeiten einer legalen befristeten Zuwanderung in die EU, etwa durch besondere Kontingente.“ Bundesinnenminister De Maizière zitiert die BILD nun mit dem Satz: „Die Seenotrettung muss erheblich verbessert werden, sie muss schnell organisiert und europäisch finanziert werden.”

Werden nun die Kernforderungen von PRO ASYL und vielen anderen Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen nach legalen und sicheren Fluchtwegen und einer groß angelegten, europäischen Seenotrettungsmission erfüllt?

Immer dieselben Ablenkungsmanöver

Das scheint kaum wahrscheinlich. Schon die Zitate der Spitzenpolitiker und -politikerinnen in der Bild-Zeitung zeigen, dass die Maßnahmen, an die die Bundesregierung denkt, dieselben Ablenkungsmanöver sind wie immer: Schleuserbekämpfung, Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern, Stabilisierung der Situation in Libyen.

Noch immer tut man so, als seien die Schleuser die Ursache des Problems, und nicht nur eine Folge der Europäischen Abschottungspolitik, als könne man die Situation in Herkunftsländern wie etwa Syrien, Sudan, Somalia oder Eritrea kurzfristig verbessern und als könnten Flüchtlinge darauf vertrauen, dass in einem „stabilisierten“ Libyen, in Ägypten oder anderen Staaten Nordafrikas ihre Menschenrechte geachtet werden. Knapp: Man hofft, mit der populistischen Strategie, die Verantwortung für das Massensterben den Schleusern und die Aufnahme von Flüchtlingen Drittstaaten zuzuschieben, nochmal durchzukommen.

De Maiziéres Strategie des Sterbenlassens gerät unter Druck

Dennoch zeigt insbesondere die zögerliche Kehrtwende von Bundesinnenminister De Maiziére, dass seine Politik des bewussten Sterbenlassens von Flüchtlingen stark unter Druck gerät. Bis vor kurzem hatte De Maizière eine Wiederaufname von „Mare Nostrum“ vehement abgelehnt. Die italienische Rettungsmission, die innerhalb von einem Jahr weit über 100.000 Flüchtlingen das Leben rettete, hatte De Maizière als Beihilfe zur Schleuserei kritisiert und zusammen mit anderen EU-Kollegen abgesägt. Damit haben De Maizière und einige seiner EU-Amtskollegen das jetzt eingetroffene Szenario des Massenhaften Sterbens von Flüchtlingen auf dem Meer ganz bewusst in Kauf genommen. Jetzt, einige Tausend Tote später, scheint diese Haltung immerhin auch innerhalb der Bundesregierung unter Druck geraten zu sein.

EU legt Zehn-Punkte-Plan vor : Eine Friedhofsordnung für die Ränder des Mittelmeers.

Unter dem Eindruck der Flüchtlingskatastrophen trafen sich Vertreter der 28 EU-Staaten und der EU-Kommission gestern in Luxemburg. „Es ist unsere moralische Pflicht als Europäer, zu verhindern, dass diese Tragödien sich wieder und wieder ereignen“, erklärte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini bei dem Treffen, dem schon am Donnerstag ein weiterer Krisengipfel folgen soll.

Die Betonung der europäischen Werte steht jedoch im Gegensatz zu dem nun in Luxemburg vorgelegten Zehn-Punkte-Programm der EU-Kommission:

Punkt 1: Mehr Seenothilfe

Die Kommission schlägt eine finanzielle Aufstockung der Frontex Missionen „Triton“ und „Poseidon“ vor sowie eine mögliche Vergrößerung des Seenotrettungsgebiets.

Das klingt auf den ersten Blick gut. Doch die Stärkung von Frontex setzt auf Grenzsicherung. Die Aufgaben der Agentur liegen nicht vorrangig in der Seenotrettung, sondern in der Abwehr von Migrantinnen und Migranten. Statt einer Ausweitung des Frontex-Einsatzes müsste die EU dringend eine zivile europäische Seenotrettungsmission einrichten.

Zudem ist die dringend notwendige Ausweitung des Seenotrettungsgebiets bisher sehr vage formuliert. Es ist fraglich, ob das abgedeckte Gebiet die gleiche Größe haben wird wie bei Mare Nostrum. Die Schiffe der italienischen Rettungsmission waren bis nahe an die libysche Küste herangefahren und konnten so zahlreiche Menschenleben retten. Die auf Mare Nostrum folgende Frontex-Operation Triton wurde dagegen auf die Küstengewässer Italiens beschränkt. Infolge dessen starben nun allein in diesem Jahr weit über Tausend Flüchtlinge nahe der libyschen Küste außerhalb des Triton-Operationsgebiets.

Im Gespräch ist offenbar eine Verdoppelung der finanziellen Mittel von Triton. Dies würde allerdings immer noch nicht die Höhe der finanziellen Mittel erreichen, die für Mare Nostrum unter italienischer Führung zur Verfügung standen. Selbst während der Operation Mare Nostrum, deren Kosten sich auf rund 9 Millionen Euro monatlich beliefen, gab es etwa 3.000 tote Flüchtlinge auf See, so dass eine angemessene Ausstattung weit oberhalb dessen liegen müsste, was für Mare Nostrum ausgegeben wurde.

Punkt 2: Vernichtung von Schleuser-Booten

Die Kommission schlägt vor, die Boote von Schleusern zu beschlagnahmen und zu zerstören und verweist dabei auf die angeblich erfolgreiche Atalanta-Mission zur Bekämpfung der „Piraterie“ vor der somalischen Küste.

Piratenbekämpfung ist etwas grundsätzlich anderes als Seenotrettung. Bei vielen Fahrten sind die Schleuser gar nicht an Bord und Flüchtlinge müssen selbst behelfsmäßig navigieren. Welche Boote sollen also zerstört werden? Will man in Libyen Schiffe, die zur Überfahrt bereitstehen, in die Luft jagen und auf andere Weise unbrauchbar machen? Wer soll im chaotischen Libyen irgendwelche Aktionen an Land autorisieren oder hinnehmen müssen?

Ein mit der Atalanta-Mission vergleichbares Vorgehen im Mittelmeer würde auf jeden Fall eine massive Militarisierung der Seenotrettung mit sich bringen. Eine direkte Verbindung zwischen der Seenotrettung und einem militärischen Einsatz, der auf die Zerstörung der Flüchtlingsboote zielt, ist hochproblematisch. Es ist nicht auszuschließen, dass es unter Umständen bereits während einer laufenden Seenotrettung zum Einsatz militärischer Mittel kommen könnte.

Der Atalanta-Einsatz war zudem juristisch problematisch. Denn einerseits ergab sich die Frage, inwieweit beteiligte deutsche Polizeibeamte bei den Einsätzen an Grundrechte gebunden sind. Andererseits wurden festgenommene Piraten mitunter an Staaten ausgeliefert, in denen ihnen keine rechtsstaatlichen Verfahren eröffnet wurden. Dass die EU in der Mission Atalanta ein Vorbild sieht für die Rettung von Flüchtlingen, ist aus flüchtlings- und menschenrechtlicher Sicht hochgradig irritierend.

Punkt 3: Zusammenarbeit von EU-Ermittlern

Europol, Frontex und Eurojust sollen stärker bei ihren Ermittlungen gegen Schleuser zusammenarbeiten und regelmäßig ihre diesbezüglichen Informationen austauschen.

Diesen Informationsaustausch dürfte es längst intensiv geben, vermutlich mit begrenztem Ergebnis. Denn wer sich die kommerzielle Fluchthilfe lediglich als ein mafiaartig organisiertes Netz der organisierten Kriminalität vorstellt, der folgt schon der falschen Idee eines bestimmten Modus Operandi.

Die derzeitige Fokussierung auf die Bekämpfung von Schleusern ist ein durchschaubares Manöver, um von den eigenen Verfehlungen der EU abzulenken. Die Schleuser sind die Reaktion auf nicht vorhandene legale Einreisewege in die EU. Zudem wird die reine Dämonisierung der Schleuser dem komplexen Problem nicht gerecht. Angesichts derzeitiger Schleuserprozesse in Deutschland zeigt sich, wie unangemessen die Kriminalisierung von Fluchthilfe ausfallen kann.

Punkt 4: Schnellere Bearbeitung von Asylanträgen

Das Europäische Asylunterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) soll Teams nach Italien und Griechenland senden, wo beschleunigte Asylverfahren durchgeführt werden sollen.

Zunächst: Diese Asylverfahren müssten nach dem jeweiligen nationalen Recht durchgeführt werden. Der Wert von ins Ausland entsandten Beamten anderer Staaten dürfte deshalb begrenzt sein. Griechenland ist als Ort für solche Experimente völlig ungeeignet, denn wegen gerichtlich festgestellter systemischer Mängel des griechischen Asylverfahrens dürfen schon seit Jahren keine Flüchtlinge, denen es gelungen ist, über Griechenland andere Staaten zu erreichen, dorthin zurückgeschickt werden. Deutsche und Europäische Gerichte haben immer wieder auch systemische Mängel in Italiens Asylsystem diagnostiziert. Diese systemischen Mängel sind durch EASO Entscheider-Teams kaum aufzuheben.

Wie ein von EASO-Teams durchgeführtes Asylverfahren in den beiden Ländern aussehen kann, dass nicht nur schnell, sondern auch fair ist, ist unklar. Beschleunigte Asylverfahren setzen voraus, dass die Fälle einfach gelagert sind. Dies ist bei der Vielzahl der Herkunftsländer, komplexer Fluchtwege bis zu den jeweiligen Abfahrtshäfen und der Vielzahl der Verfolgungstatbestände in Herkunftsländern nicht der Fall.

Zu vermuten ist, dass versucht werden soll, ein Pseudo-Asylverfahren einzurichten, in dem binnen kürzester Zeit über den Daumen gepeilt wird, ob der Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wird. Im Hintergrund steht wahrscheinlich die Idee, ankommende Asylsuchende während dieser Zeit festzuhalten und binnen kürzester Zeit zurückzuschicken (siehe Punkt 8).

Punkt 5: Fingerabdrücke

Die EU-Staaten sollen sicherstellen, dass alle Flüchtlinge mit Fingerabdrücken erfasst werden. Dieser Punkt ist Makulatur, denn die EU sammelt ohnehin mit der EURODAC-Verordnung die Fingerabdrücke aller einreisenden Migranten. Es handelt sich hier daher nicht um eine Maßnahme, sondern um eine Ermahnung an die EU-Mittelmeeranrainerstaaten, die Fingerabdrücke auch wirklich zu erfassen, um eine Weiterreise zu verhindern. Dies haben sie bislang nicht immer getan, weil sie auf die Weiterflucht Asylsuchender zur Entlastung des eigenen Asylsystems hofften.

Punkt 6: Innereuropäische Umverteilung (Relocation) in Krisensituationen

Es sollen Möglichkeiten ausgelotet werden, ob Flüchtlinge in Notfällen über einen Sondermechanismus in Europa umverteilt werden können.

Damit wird einmal mehr implizit eingestanden, dass das Asylzuständigkeitssystem der Dublin-Verordnung gescheitert ist. Die Verordnung, die vorsieht, dass jenes EU-Mitgliedsland für all jene Flüchtlinge verantwortlich ist, die dort zuerst europäischen Boden betreten, ist unsolidarisch und flüchtlingsfeindlich. Dass es nur in Notfällen Ausnahmen geben soll, zeigt allerdings, dass die EU-Staaten sich nicht auf eine Alternative zu Dublin-III einigen können – auch wenn es solche durchaus gäbe.

Punkt 7: Resettlement-Pilotprojekt

Die Kommission schlägt ein EU-weites freiwilliges „Pilotprojekt“ zur Verteilung von Flüchtlingen vor. In einem ersten Schritt soll es 5000 Plätze für schutzbedürftige Personen geben.

Der Begriff „Pilotprojekt“ ist irreführend – denn Projekte zu diesem international „Resettlement“ genannten Vorgehen haben diejenigen EU-Staaten, die etwa syrische Flüchtlinge auf diese Weise aufnehmen, insbesondere Deutschland, längst durchgeführt. Der Begriff „Pilotprojekt“ soll offenkundig suggerieren, das Vorgehen sei noch unerprobt – offenbar um die lächerlich geringe Zahl von 5000 Aufnahmeplätzen zu rechtfertigen.

Angesichts von Millionen Flüchtlingen beispielsweise aus Syrien, die in den Nachbarstaaten ihres Heimatlandes vorübergehende Zuflucht gefunden haben, sind 5.000 Plätze nicht einmal der Tropfen auf dem heißen Stein. Dass die EU mit ihren etwa 500 Millionen Einwohnern nun nur 5.000 Aufnahmeplätze zur Verfügung stellen soll, nachdem Tausende vor ihren Grenzen ertranken, ist kaum zu fassen. Dabei könnten Resettlementplätze in angemesser Zahl – etwa in Verbindung mit einer Evakuierung von in Nordafrika festsitzenden Schutzsuchenden – durchaus tausende Menschen vor der lebensgefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer bewahren.

Punkt 8: Schnelle Abschiebung

Unter der Federführung von Frontex sollen „illegalisierte“ Einwanderer zügig in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.

Was ist daran neu? Frontex organisiert bereits Sammelabschiebungen für die EU-Staaten. Dass Abschiebungen durch Frontex hier nun als Reaktion der EU auf das Massensterben auf dem Mittelmeer erwähnt werden, lässt befürchten, dass bei den in Punkt 4 geplanten Schnellverfahren am Ende binnen kürzester Zeit Massenabschiebungen stehen sollen. Fragt sich nur: Wohin? Ein Großteil der Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, stammt aus Staaten wie Syrien, Eritrea und Somalia.

Punkt 9: Kooperation mit Drittstaaten

Die Kommission schlägt eine engere Zusammenarbeit mit Ländern rund um Libyen vor, insbesondere dem Niger.

Eine Zusammenarbeit mit Ländern rund um Libyen legt die Vermutung nahe, dass die EU alles tun will, um Flüchtlingen den Weg ans Mittelmeer in potentielle Abfahrtshäfen zu versperren. Dies knüpft an bereits länger existierende Versuche, Fluchtverhinderungsmechanismen von der Mittelmeerküste weg an die Südgrenzen der Mittelmeeranrainerstaaten bis hinein in die Sahelstaaten zu verlegen, an. Entsprechende Kooperationen gab es bereits mit Libyen unter Gaddafi.

Nach diesem Modell würde vermutlich technische Ausrüstung und Know-how zur Befestigung der jeweiligen Südgrenzen geliefert und – Beispiel Niger – die südlich angrenzenden Staaten in die Fluchtverhinderung eingebunden. So könnten Staaten wie Niger in EU-Auftrag Flüchtlinge etwa durch Ausreiseverhinderung aufhalten. Statt des spektakulären Sterbens auf dem Mittelmeer wäre die Folge eine Zunahme dessen, was jetzt schon stattfindet: Das stille Sterben auf den Fluchtwegen durch die Sahara.

Punkt 10: Verbindungsbeamte

Die EU plant die Entsendung von Verbindungsbeamten in Drittstaaten, die nachrichtendienstliche Informationen zu Migrationsströmen sammeln und die Rolle der Entsandten stärken.

Der letzte Halbsatz zeigt: Entsprechende Strukturen gibt es längst – im Rahmen der Vorverlagerung des EU-Grenzregimes nach Nordafrika und in andere Drittstaaten zur Verhinderung von Flucht und Migration.

Fazit: Fluchtverhinderung geht vor Flüchtlingsschutz

Auch wenn das Programm bisher nur eine grobe Skizze ist, die wohl angesichts der tödlichen Katstrophen nun vor allem erstmal Handlungsbereitschaft demonstrieren soll, zeigt sich, dass es der EU weiterhin um Fluchtverhinderung geht: Nur zwei der Maßnahmen zielen darauf, Flüchtlinge zu retten und in Sicherheit zu bringen. Eine dient eventuell der Aufweichung des problematischen Dublin-Verteilungssystems. Und ganze sieben der zehn Maßnahmen sind restriktiv, sie zielen auf Abschreckung, Kriminalisierung, Abschiebung und die Abwälzung von Verantwortung.

Von einer verantwortungsbewussten Rolle in der Flüchtlingspolitik, die einzunehmen der Hohe Kommissar der UNO für Menschenrechte die EU aufgerufen hatte, kann daher nicht die Rede sein. Der 10-Punkte-Plan ist nach dem Sterbebegleitungsprogramm Triton eine Art Friedhofsordnung für die Ränder des Mittelmeers.

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