18. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Afrika: Europa ist nicht das Zentrum der Flüchtlingskrise“ · Kategorien: Afrika

Quelle: Zeit Online

Flüchtlinge gehören in Afrika zum Alltag. Obwohl die Not oft groß ist, sind die Binnengrenzen auf dem Kontinent für Schutzbedürftige offener als in der EU.

Ein Gastbeitrag von Joël Glasman und Hanno Brankamp

Die Zukunft liegt in Afrika„, schrieb der Soziologe Trutz von Trotha in der ZEIT. Das war im Jahr 2000 und viele Leser reagierten mit Skepsis. Doch von Trotha war kein Utopist. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Afrika in der Vergangenheit verharre, argumentierte der Siegener Professor, dass der Kontinent ein Laboratorium für neue Gesellschaftsformen sei. Einige der sozialen Phänomene, die sich heute in Afrika beobachten ließen, würden bald auch auf anderen Kontinenten zu sehen sein.

Eine solche Voraussage war riskant, denn selten treten Ereignisse ein wie prognostiziert. Gesellschaften sind zu komplex und die Instrumente der Soziologie zu stumpf. Doch das, was in Europa als akute Flüchtlingskrise wahrgenommen wird, gibt von Trotha in gewisser Weise recht. Lange Flüchtlingskolonnen, verunsicherte Politiker und neu entstehende Flüchtlingslager, die wir aus der Afrikaberichterstattung der 1980er und 1990er kennen, prägen heute das Bild Europas und seiner Grenzregionen.

Doch zu selten schauen wir über den europäischen Tellerrand hinaus. Wir wundern uns über Zustände, die schon jahrzehntelang den Alltag unserer nichteuropäischen Nachbarn bestimmen. Im Kontext internationaler Fluchtbewegungen ist Europa nur eine Provinz. Es ist einer von vielen Orten, an denen Flucht und Vertreibung historisch deutliche Spuren hinterlassen haben.

Laut der UNHCR Mid-Year Trends 2015 und des IDMC Global Overview 2015 befanden sich 2015 mehr als ein Viertel der weltweit fast 60 Millionen Geflüchteten in Afrika, das entspricht 15,4 Millionen Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen. Letztere sind Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes gewaltsam vertrieben wurden. Fast 75 Prozent der Flüchtlinge Afrikas fallen in diese Kategorie. Sie führen meist ein ähnlich prekäres Leben wie Menschen, die auf ihrer Flucht internationale Grenzen überschreiten. Doch steht ihnen rechtlich nicht immer derselbe Schutzstatus zu.

In Afrika versorgt das UNHCR die Flüchtlinge

Es leben derzeit mehr geflüchtete Menschen in Subsahara-Afrika als im Nahen Osten und Nordafrika (14,9 Millionen), in Asien und Ozeanien (8,7 Millionen) oder auf dem amerikanischen Kontinent (7,7 Millionen). Europa ist mit etwa 6,3 Millionen Geflüchteten das Schlusslicht. Es ist Afrika, nicht Europa, das im Zentrum globaler Fluchtbewegungen steht. Wer der globalen Flüchtlingskrise auf die Spur kommen will, darf deshalb nicht nur nach Calais und Idomeni, sondern muss auch nach Dadaab und Goma schauen.

In Europa werden Flüchtlinge in der Regel von staatlichen Institutionen registriert, verwaltet und versorgt. In Afrika übernehmen meist das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und seine Partnerorganisationen diese Aufgaben. Das Prinzip ist einfach: Afrikanische Staaten öffnen ihre Grenzen für Flüchtlinge, die internationale Gemeinschaft trägt die Kosten für Unterbringung und Versorgung.

Dies bedeutet auch, dass Afrikas Binnengrenzen für Schutzbedürftige de facto offener sind als der europäische Schengenraum. Doch finanzielle Ressourcen sind ständig knapp und Flüchtlinge werden mitunter in entlegene Massenflüchtlingslager verbannt. Afrika gilt darum heute als „der Kontinent des Flüchtlingslagers„. In Europa leben 14 Prozent der registrierten Flüchtlinge in Lagern und Asylunterkünften – in Afrika sind es dagegen 83 Prozent.

Flüchtlingslager gelten unter Experten als mangelhafte Lösung und führen oft zu steigender Gewalt, Krankheiten und eingeschränkter Mobilität. Wer außerhalb solcher Lager lebt, ist dazu meist gänzlich vom Versorgungsnetz und Hilfsgütern abgeschnitten. Metropolen wie Kampala, Nairobi und Daressalam verheißen oft – trotz Marginalisierung und Illegalität – ein selbstständigeres Leben. Doch urbane Flüchtlinge galten bis vor Kurzem für internationale Hilfsorganisationen als nahezu unsichtbar.

Kontinent der Flüchtlingslager

Dabei ist Sichtbarkeit entscheidend, denn im globalen Konkurrenzkampf der Hilfsbedürftigkeit geht Hilfe vor allem dorthin, wo es auch Medienberichterstattung gibt. Während sich Europa Anfang 2015 auf die Ankunft Tausender Syrer, Afghanen und Iraker konzentrierte, rutschte Burundi in eine politische Krise, die zum Massenexodus von über 250.000 Menschen führte, vor allem ins benachbarte Tansania.

Im Zuge des Konflikts in der Zentralafrikanischen Republik wurden im Jahr 2013 über 900.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Davon flohen fast 200.000 in die Nachbarstaaten Kamerun, Tschad, Republik Kongo und Demokratische Republik Kongo. Auch der Südsudan geriet zwei Jahre nach der Unabhängigkeit vom Sudan bereits Ende 2013 erneut in einen Bürgerkrieg. Im Zuge der Kämpfe wurden mehr als 1,5 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben, gut 730.000 flüchteten nach Kenia, Äthiopien, Uganda und Sudan. Aufgrund von globalen Budgetengpässen mussten UN-Hilfsprogramme jedoch Nahrungsmittellieferungen an diese Betroffenen reduzieren oder streichen.

Auch in Afrika wird die Freizügigkeit eingeschränkt

Entgegen einer verbreiteten Annahme kommt die Mehrheit der afrikanischen Flüchtlinge also nicht nach Europa, sondern sucht Zuflucht in Nachbarstaaten. Somalia, Sudan, Südsudan, die Demokratische Republik Kongo und die Zentralafrikanische Republik sind zurzeit verantwortlich für die stärksten Fluchtbewegungen Afrikas. Äthiopien, Kenia, Tschad und Uganda nehmen dagegen die meisten Flüchtlinge auf. Afrikanische Länder beherbergen damit proportional deutlich mehr schutzbedürftige Menschen als europäische Länder – in Deutschland stellen Flüchtlinge gerade mal 0,27 Prozent der Bevölkerung, im Tschad sind es 4,1 Prozent.

Doch auch in Afrika wird die Freizügigkeit von Flüchtlingen vielerorts eingeschränkt. Zurückweisung, Abschiebungen, Internierung und polizeiliche Repression gegen Flüchtlinge sind auch hier alltäglich. In Kenia zum Beispiel richteten sich staatlich organisierte Razzien, Deportationen und Inhaftierungen im April 2014 insbesondere gegen Flüchtlinge aus Somalia. Die Regierung von Uhuru Kenyatta droht zudem routinemäßig immer wieder mit der Schließung der Flüchtlingslager Dadaab und Kakuma.

Trotz solch doppelbödiger Rhetorik gehören Flüchtlinge in Afrika zur Normalität. Einige Gesellschaften – wie die Ruandas oder Burundis – können aufgrund von generationenübergreifenden Fluchterfahrungen sogar als refugee societies bezeichnet werden. Jede Stadt, jedes Dorf, jede Familie hat ihre Flüchtlinge und viele sind selbst schon einmal geflohen.

Dabei zeigt die afrikanische Erfahrung deutlich: Die wirtschaftlichen und sozialen Kosten von Abschottungspolitik und Flüchtlingslagern werden gewöhnlich unterschätzt, der Preis für lokale Integration und Mobilität wird hingegen überbewertet. Trutz von Trothas Intuition war richtig. Der Blick auf Afrika lohnt sich und sei es auch nur, um zu begreifen, dass die europäische Krise nicht ganz so außergewöhnlich ist wie wir glauben.

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