14. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für «Schlammschlacht» rund um die Flüchtlingsretter · Kategorien: Europa, Libyen, Mittelmeer · Tags: , , ,

NZZ | 13.07.2017

Die vor Libyen tätigen Nichtregierungsorganisationen sehen sich als Opfer einer Schmutzkampagne. Nun setzten sie sich gegen den von Italien geplanten Verhaltenskodex für Flüchtlingsretter zur Wehr.

von Niklaus Nuspliger, Brüssel

Die Vertreter der Nichtregierungsorganisationen (NGO) nahmen am Mittwoch im EU-Parlament in Brüssel kein Blatt vor den Mund: Es laufe eine «Schlammschlacht» gegen die NGO, beklagte Judith Sunderland, Direktorin der Europaabteilung von Human Rights Watch. Ins gleiche Horn stiess Marco Bertotto von der italienischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen: Er sprach von einer «Kampagne zur Delegitimierung und Kriminalisierung» der Organisationen, die mit Booten Flüchtlinge und Migranten in Seenot retteten und damit die Arbeit der EU-Staaten leisteten.

In der Tat ist die Rolle der zivilen Retter im zentralen Mittelmeer immer mehr in den Fokus der Auseinandersetzung um die flüchtlingspolitischen Notmassnahmen gerückt. Aus Rom oder aus der EU-Grenzschutzagentur Frontex gab es zumindest implizite Vorwürfe, die NGO betätigten sich als Handlanger der Schlepper oder steckten mit diesen gar unter einer Decke. Bei der dringlichen Anhörung im EU-Parlament blieben solche Vorwürfe aus. Sowohl Sandro Gallinelli, Kapitän bei der italienischen Küstenwache, als auch Fabrice Leggeri, Direktor der europäischen Grenz- und Küstenwache (Frontex) sprachen sich aber für klarere Regeln für alle Rettungsschiffe aus. Vergangene Woche hatten bereits die EU-Innenminister in Tallinn dem Plan der Regierung in Rom zur Ausarbeitung eines Verhaltenskodex für NGO politisch ihren Segen gegeben.

Immer näher an Libyen

Leggeri führte aus, dass sich das Gebiet der Seenot-Rettungen in den letzten Monaten kontinuierlich nach Süden verschoben habe. Hätten die Rettungen 2015 noch auf halber Strecke zwischen Libyen und Sizilien stattgefunden, würden die Schiffbrüchigen heute nur unmerklich ausserhalb der libyschen Territorialgewässer aufgegriffen. Der Hauptgrund: Die Gummiboote der Migranten sind je länger, je weniger fahrtüchtig. Paradoxerweise hat dazu laut einem neuen Bericht des britischen Oberhauses die EU-Operation Sophia beigetragen, die robustere Schlepperboote aus Holz zerstört hat. Fakt ist weiter, dass die NGO ihre Aktivitäten immer näher an oder gar in die libyschen Gewässer verlegt haben, weshalb der Vorwurf im Raum steht, sie stellten einen «Pull-Faktor» dar. Dies, zumal die NGO bei manchen Regierungen ohnehin im Verdacht stehen, sie wollten die Migration aus prinzipiellen Gründen befördern.

Bertotti von der Organisation Ärzte ohne Grenzen wehrte sich gegen die Vorwürfe und verwies auf die Diskussionen vor zweieinhalb Jahren. Nach der Einstellung der italienischen Rettungsoperation «Mare Nostrum» Ende 2014 nahm die Zahl der Überfahrten nicht ab, sondern zu. Nach einer verheerenden Bootskatastrophe vor Lampedusa beschlossen die EU-Regierungschefs im Frühling 2015 darum, die Frontex-Operation «Triton» aufzustocken und wieder näher an die libysche Küste zu verlegen.

Heute aber verfolgt die EU trotz der anhaltenden Kritik der NGO das explizite Ziel, die Migranten und Flüchtlinge mithilfe der libyschen Küstenwache von der Abfahrt abzuhalten. Dies ist mit ein Grund dafür, dass der italienische Entwurf des Verhaltenskodex den NGO Manöver in libyschen Küstengewässern untersagen will. Laut Leggeri ist überdies besonders wichtig, dass Sicherheitskräfte etwa für Ermittlungen gegen Schlepper Zugang zu den NGO-Schiffen erhalten. «Für Frontex gibt es keinen Widerspruch zwischen der Rettung von Menschen und der Durchsetzung des Rechts», betonte er.

Erschwerte Rettungsarbeiten

Laut einer EU-Quelle dauern die Arbeiten am Verhaltenskodex an, zumal Italien auch die NGO konsultieren muss. Judith Sunderland von Human Rights Watch lehnte den Entwurf des Dokuments aber bereits dezidiert ab. Dieser würde die Rettungsarbeiten erschweren statt effizienter machen, betonte sie. Ein Verbot, Flüchtlingsbooten in Seenot mit Scheinwerfern den Weg zu weisen, erhöhe die Gefahr von Todesfällen. Und die Forderung, alle aufgegriffenen Migranten direkt an Land zu bringen, statt grösseren Schiffen zu übergeben, reduziere die Kapazitäten für die Lebensrettung. Die Drohung, Boote unkooperativer NGO nicht mehr anlanden zu lassen, ist für Sunderland politisch motiviert, da Italien den Druck auf die EU-Partner erhöhen wolle. Sie zeigt aber auch, wie hoch das Eskalationspotenzial in der Kontroverse um die NGO ist.

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