06. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Der Chefdirigent der Rettungseinsätze“ · Kategorien: Italien, Libyen, Mittelmeer · Tags:

NZZ | 05.07.2017 | [pdf]

Im Sommer laufen die Telefone in der Einsatzzentrale heiss. Täglich werden Dutzende von Migrantenbooten geortet und Retter aufgeboten.

von Andrea Spalinger

Seit November 2015 ist Vincenzo Melone Chef der italienischen Küstenwache. Mit dem Job ist eine grosse Verantwortung verbunden. Seine Männer und Frauen koordinieren sämtliche Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer. 2016 wurden unter Aufsicht des Admirals in 1424 Einsätzen 178 415 Bootsflüchtlinge geborgen. In den ersten vier Monaten des laufenden Jahrs waren es 36 422. Für Mai und Juni hat die Küstenwache noch keine Zahlen publik gemacht. Die Zahl der Einsätze hat mit den besseren Wetterbedingungen aber stark zugenommen. Laut dem UNHCR sind in diesem Jahr bereits 84 879 Migranten in Italien an Land gegangen.

Bis zu fünfzig Einsätze am Tag

Der 64-jährige Römer sagt, er fühle sich wie der Chefdirigent eines grossen Orchesters, der diverse Akteure dazu bringen müsse, so schnell und effizient wie möglich Leben zu retten. Dazu braucht es gute Netzwerke und modernste Technik. Das Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) befindet sich in einem unauffälligen Palazzo in dem unter Mussolini errichteten römischen Stadtviertel EUR. In zwei Einsatzräumen wird mit allen möglichen Satelliten- und Radarsystemen gearbeitet. Verkehr, Wellengang und Wetterbedingungen auf dem Mittelmeer werden in Echtzeit verfolgt. Auf den Monitoren sichtbar sind freilich nur grössere Schiffe. Die Position von Gummibooten und Fischkuttern, in welche Schlepper Migranten in Libyen pferchen, muss erst ermittelt werden.

An hektischen Sommertagen müssen bis zu fünfzig Rettungsaktionen für 10 000 Personen in Seenot koordiniert werden. Dann versuchen hier Dutzende von Beamten, Schiffbrüchige zu orten. Sämtliche Notrufe von Flüchtlingsbooten, die in Libyen in See gestochen sind, werden an die Römer Zentrale weitergeleitet. Manchmal kommen sie direkt, manchmal über Umwege. Häufig setzen die Boote selber mit Satellitentelefonen Notrufe ab. Manchmal melden sich auch Augenzeugen, die beobachtet haben, dass ein Boot losgefahren ist. Manchmal bekommt die Zentrale Hinweise von Verantwortlichen auf Rettungsbooten und anderen Schiffen oder von Piloten aus Flugzeugen.

Die Boote der Migranten seien meist in so schlechtem Zustand und derart überfüllt, dass sie den Wellen auf hoher See nicht lange standhalten könnten, erklärt Melone. Deshalb gehe man in jedem Fall von einer Notsituation aus. Seien die Boote erst einmal geortet, müsse sein Team ein Schiff finden, das sich in der Nähe befinde und für einen Rettungseinsatz infrage komme. Leider komme die Hilfe nicht immer rechtzeitig, fügt er hinzu. Laut dem UNHCR sind in diesem Jahr bereits 2179 Migranten ertrunken, das heisst deutlich mehr als im vergangenen Jahr.

Migrationswelle wie noch nie

Die Küstenwache hat ihre Flotte in den letzten Jahren stark modernisiert. Mit 11 000 Beamten kann sie die Rettungseinsätze aber längst nicht mehr alleine schultern. Bis Ende Oktober 2014 hatte sie zusammen mit der Marine in der Operation «Mare Nostrum» Migranten in Sicherheit gebracht. Dann übernahm die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Die Koordination läuft jedoch weiter über das MRCC in Rom, und die Italiener leisten noch immer einen beträchtlichen Teil der Einsätze. Von den rund 180 000 geretteten Bootsflüchtlingen 2016 wurden laut Statistik je 36 000 von der italienischen Küstenwache und von der Marine geborgen.

«Ich bin stolz auf das, was meine Truppe und mein Land leisten», sagt der Kommandant. «Ich würde mir aber schon mehr Unterstützung aus anderen europäischen Ländern wünschen.» Schiffe von EU-Staaten, die im Auftrag der Frontex oder der später dazugekommenen European Union Naval Force (Eunavfor) unterwegs sind, sehen ihre Aufgabe vor allem im Grenzschutz und in der Bekämpfung des Schlepperwesens. Aber auch sie sind zu Rettungseinsätzen verpflichtet, wenn sie sich in der Nähe eines Boots in Seenot befinden. Frontex- und Eunavfor-Schiffe brachten 2016 36 000 Migranten in Sicherheit. Private Hilfsorganisationen retteten 47 000 Personen, Handelsschiffe 14 000, diverse andere Retter mehrere tausend.

Im laufenden Jahr ist eine starke Zunahme der Zahl der Einsätze zu verzeichnen und gleichzeitig ein deutlicher Rückgang des Engagements von Frontex und Eunavfor. Ohne Nichtregierungsorganisationen wären die Rettungen schlicht nicht mehr zu bewältigen, sagt ein Mitarbeiter der Küstenwache, der nicht namentlich genannt werden will. Auch Handelsschiffe müssten zudem wieder vermehrt in die Pflicht genommen werden.

Die Guardia Costiera gibt es seit 152 Jahren, das heisst fast so lange wie das vereinigte Italien. Ihre Hauptaufgaben sind die Sicherung des Seeverkehrs, die Verfolgung von Straftaten im Küstenbereich und auf hoher See sowie der Umweltschutz. Seit einigen Jahrzehnten nehmen Rettungseinsätze jedoch immer mehr Ressourcen in Anspruch. In den letzten 25 Jahren habe die Küstenwache fast eine Million Menschen gerettet, sagt der Kommandant. Migration übers Mittelmeer sei kein neues Phänomen. Anfang der neunziger Jahre seien Flüchtlinge aus Albanien gekommen, später aus Nordafrika. «Die jüngste Welle übertrifft im Ausmass und in der Dramatik aber alle früheren Krisen um Längen», stellt Melone fest.

Die Pflicht eines Seemannes

Die meisten Rettungsaktionen finden heute zwischen zwanzig bis dreissig Seemeilen vor der libyschen Küste statt, das heisst in internationalen Gewässern. Weder Libyen noch Malta seien bereit, die Verantwortung in diesem Gebiet zu übernehmen, weshalb Italien einspringen müsse, sagt Melone. Der Admiral ist kein naiver Gutmensch. Er weiss, dass Europa nicht unendlich viele Migranten aufnehmen kann. «Als Seemann bin ich aber rechtlich und moralisch verpflichtet, Menschen in Seenot zu helfen», sagt er. «Meine Aufgabe ist es, so viele Bootsflüchtlinge wie möglich zu retten. Aufgabe der Politik wäre es, eine Strategie zu entwickeln, wie man das Migrationsproblem langfristig lösen kann.»

«Wir haben es mit einem epochalen Phänomen zu tun», sagt Melone. «Millionen verzweifelter Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien drängen nach Europa. Wenn wir dem etwas entgegensetzen wollen, müssen wir europaweit zusammenarbeiten und eine nachhaltige Lösung suchen. Die EU muss aktiver werden, anstatt die Krise nur passiv zu erdulden und zu versuchen, sie abzuwehren.» Nach Ansicht des Italieners wären ein starkes internationales Engagement in Libyen und umfassende Hilfe für die Herkunftsländer nötig. Längerfristig könne man die Massen nur stoppen, wenn man die Lage in deren Heimat verbessere, sagt Melone überzeugt. Zudem müsste man humanitäre Korridore schaffen und politischen Flüchtlingen die Chance bieten, an einem sicheren Ort Asyl zu beantragen.

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