04. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Menschenschmuggel ist eine Industrie geworden“ · Kategorien: Afrika, Libyen · Tags: , ,

Süddeutsche Zeitung | 03.07.2017

  • Schleuserbanden verdienen an der Verzweiflung Zehntausender und gehen mit brutalsten Methoden vor.
  • In den Lagern an der libyschen Küste sind Erpressung und Vergewaltigung an der Tagesordnung.
  • Die Flüchtlinge kommen überwiegend aus der Subsahara, ihre Anerkennungsquote in Europa ist gering. In Italien arbeiten viele für winzige Löhne.

Von Andrea Bachstein

Ruhige Tage gibt es keine mehr für die Retter im Mittelmeer, die am Rande der libyschen Hoheitsgewässer kreuzen. Binnen dreier Tage bargen sie fast 8900 Menschen von Gummibooten oder aus den Fluten. Es ist Hochsaison für die Flucht Richtung Italien. Laut Innenministerium in Rom sind in diesem Jahr bereits mehr als 73 000 Menschen gelandet, fast 10 000 mehr als um dieselbe Zeit im vergangenen Jahr. 2016 waren insgesamt gut 181 000Flüchtlinge in das Land gekommen. Wie viele Migranten in Libyen noch warten, dazu gibt es keine sicheren Zahlen, Schätzungen beziffern sie auf 750 000 bis zwei Millionen. Die allermeisten, die nach Europa wollen, sind aus Subsahara-Afrika, die Zahl der Syrer etwa ist dagegen verschwindend gering.

Die Preise, die Schleuser von den Flüchtlingen und Migranten verlangen, sind deshalb deutlich gesunken; die Afrikaner haben weniger Geld, 250 bis 350Dollar und weniger ist offenbar der Preis für die Fahrten. Für etwa 2900Menschen haben die Schleuserfahrten dieses Jahr bereits in den Tod geführt. Die Schleuser passen ihre Methoden ständig an, Menschenschmuggel ist eine Industrie in Libyen geworden. Milizen beherrschen in dem ohne staatliche Ordnung taumelnden Land große Teile dieses Markts. Ihre Netzwerke reichen weit in den afrikanischen Kontinent.

Die Zahl der Flüchtlinge hängt mit der Lage in Afrika zusammen

Ein Teil der Migranten, die über den Sudan, Niger, Tschad und Mali nach Libyen gelangen, landen in Lagern. Einige sind in der Hand von Milizen, aber auch in den staatlichen ergeht es ihnen kaum besser. Es herrschen katastrophale Hygiene-Verhältnisse; Misshandlung, Vergewaltigung, Erpressung sind verbreitet. Hilfsorganisationen haben nur zur Hälfte der Lager Zugang. Was sie in Libyen durchmachen, berichten Migranten, lässt für sie die Gefahren einer Überfahrt als kleinerer Horror erscheinen. Häufig werden 130 Menschen und mehr in billige Zehn-Meter-Schlauchboote gepfercht, ohne Skipper, und oft auch ohne eigenen Außenborder, sondern im Schlepp eines anderen Gummiboots.

Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, etwa von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, dass vor allem die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zum Pullfaktor geworden seien, ihre Präsenz also den Schleusern in die Hände arbeite, mehr Menschen zur Flucht verleite. 40 Prozent der Rettungsaktionen dieses Jahr haben NGOs, darunter deutsche wie Sea Watch oder Jugend rettet, geleistet, wie die UN-Migrationsorganisation IOM sagt. Dass die NGOs ein treibender Faktor sind, hat allerdings gerade erst eine Studie zweier Forscher des britischen Goldsmiths College der London University widerlegt. Die Zahl der Flüchtlinge, die sich auf die Überfahrt von Libyen wagt, hängt vor allem zusammen mit den Entwicklungen in Afrika, den Konflikten dort, der für viele aussichtslosen Wirtschaftslage, aber auch mit dem gewaltgeladenen Chaos in Libyen, folgert diese Studie.

Je mehr NGOs im Einsatz, desto weniger Tote in den Fluten

Eine Stellschraube im Fluchtgeschehen sind die NGOs nicht, auch wenn die Schleuser sie in ihr Geschäft einkalkulieren. Auch der Vorwurf, die Überfahrten seien gefährlicher geworden wegen der NGOs, sei falsch. Nicht sie hätten die Schleuser dazu gebracht, keine Holzboote mehr einzusetzen und Seeleute mit auf die Fluchtboote zu setzen, sondern eher die EU-Mission Sophia – denn deren erster Auftrag ist die Schleuserjagd, einschließlich der Zerstörung derer Boote. Deshalb Gummiboote, deshalb auch bleiben sie in Küstennähe Libyens. Und die Goldsmiths-Forscher haben auch eine klare Korrelation genannt: je mehr NGOs im Einsatz, desto weniger Tote in den Fluten.

Von den Menschen, die nach Italien kommen, sind Nigerianer mit 16 Prozent die größte Nationalitätengruppe. Gefolgt von Bangladeschern, Guineern, Ivorern, Gambiern sowie anderen afrikanischen Staaten. Das heißt, die meisten werden nicht als schutzbedürftig angesehen. 2016 erhielten nur drei Prozent der Nigerianer den Flüchtlingsstatus mit allen Rechten. Weiteren fünf Prozent wurde ein subsidiärer Schutzstatus und 17 Prozent ein humanitärer Schutzstatus gewährt. 57 Prozent aller Anträge wurden abgelehnt. Immer problematischer wird die Unterbringung, obwohl hier gewaltig aufgestockt wurde, auf 140 000 Plätze. Italien hält auch für seine Bürger nur geringe Sozialleistungen bereit.

Anerkannte Flüchtlinge haben Teil am kostenlosen Gesundheits- und Bildungssystem, aber damit haben sie noch kein Geld verdient. Eine Folge ist, dass ein Teil sich illegale Arbeit sucht. Die Statistik ging 2016 von etwa 3,7Millionen illegal Beschäftigen in Italien aus, davon geschätzt 560 000Ausländer. Ein Drittel der Beschäftigten in der Landwirtschaft ist demnach illegal. Es gibt krasse Fälle von Ausbeutung. Versteckt zwischen Feldern hausen illegale Landarbeiter dann in Baracken oder Zelten. Eine Hilfsorganisation in Kalabrien stellte fest, dass sie für Schwerarbeit auf Feldern 25 Euro am Tag erhalten, Mindestlohn wäre 42 Euro. 83 Prozent der dort befragten Migranten arbeiteten schwarz.

 

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