21. April 2017 · Kommentare deaktiviert für „Rettung, wo sonst niemand rettet“ · Kategorien: Alarm Phone, Europa, Italien, Libyen, Mittelmeer · Tags: ,

taz | 21.04.2017

Nichtregierungsorganisationen retten Schiffbrüchige im Mittelmeer. Damit wollen sie Druck auf die EU aufbauen. Die aber zeigt sich unbeeindruckt.

Christian Jakob

Sie rüsten auf: Jetzt, da die Hochsaison der Flüchtlings-Überfahrten auf dem Mittelmeer beginnt, geht eine „zivile Luftaufklärungsmission“ vor Libyen an den Start. Ein Suchflugzeug, Typ Cirrus SR22, bezahlt vor allem von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stationiert auf Malta und benannt nach dem Zugvogel Moonbird.

Was das Flugzeug leisten kann, zeigte sich beim Testlauf am Osterwochenende: Mit seiner Hilfe konnte ein vom Radar verschwundenes Schlauchboot mit 150 Menschen wieder lokalisiert werden. „Moonbird“ ist das neueste Projekt der privaten deutschen Seerettungs-NGO Sea Watch. Die hatte erst kürzlich eine App präsentiert, mit der die Flüchtlinge Notrufe absetzen können sollen.

Vor allem aber ist es die jüngste Etappe des moralischen Stellungskriegs an der EU-Außengrenze. Seit Jahren gehen die Todeszahlen dort immer weiter nach oben, die EU unterlässt es bis heute, mit der gebotenen Effektivität dagegen vorzugehen. Ihre vor Ort kreuzenden Schiffe der Militärmission EUNAVFOR MED haben einen anderen Auftrag.

Die Untätigkeit der EU hat eine ganze Branche neuer NGOs hervorgebracht, die meisten stammen aus Deutschland. Private Gesellschaften zur Rettung Schiffbrüchiger, die vor Ort sind, wo sonst niemand rettet. Keiner weiß, wie viele weitere Menschen in den letzten Jahren ertrunken wären, gäbe es sie nicht.

Ihre Arbeit soll praktische Hilfe sein, und gleichzeitig eine Anklage: Wir sind hier, weil Europa seine Werte verrät, wissentlich und immer wieder. Ihre Hoffnung dabei war, irgendwann, möglichst bald, überflüssig zu werden, weil die Arbeit wieder von denen erledigt wird, die dafür zuständig sind: Marine und Küstenwache.

Kritik von Frontex

Doch so scheint es nicht zu kommen. Stattdessen übt sich die EU in Umkehrung von Ursache und Wirkung. Die Arbeit der NGOs führe dazu, „dass die Schleuser noch mehr Migranten als in den Jahren zuvor auf die seeuntüchtigen Boote zwingen“, sagte Frontex-Direktor Fabricio Leggeri kürzlich.

Aber die Menschen brechen nicht in Eritrea auf, weil ein Sea Watch-Schiff vor Misrata liegt. Und dass die Schlepper ihre Praxis den neuen Gegebenheiten anpassen ist nicht die Schuld der NGOs. „Wir sollten deshalb das aktuelle Konzept der Rettungsmaßnahmen vor Libyen auf den Prüfstand stellen“, fordert Leggeri dennoch.

Wer eine Vorstellung davon bekommen will, was er damit meinen könnte, der sei daran erinnert, dass Frontex vor zwei Jahren Italien ganz unverblümt aufgefordert hatte, nicht mehr nahe der libyschen Küste zu retten.

Druck gibt es auch von anderer Seite: Die italienische Justiz, so wird gemunkelt, habe Ermittlungen wegen Schlepperei aufgenommen. Neu wäre das nicht: So wollte sie schon 2003 die Cap Anamur und helfende tunesische Fischer kleinkriegen. Die Zeiten, dachten viele, seien jetzt vorbei.

Unesco-Friedenspreis für NGO

Österreichs zackiger, junger Außenminister Sebastian Kurz schließlich spricht von einem „NGO-Wahnsinn“ und behauptet, dass Frontex wiederum behaupte, dass manche der NGOs „mit Schleppern kooperieren“ – was Leggeri so nicht gesagt hat. Für ihn sei die private Seenotrettung der „absolut falsche Weg“, sagte Kurz. Sein Kollege aus dem Innenressort, Wolfgang Sobotka, forderte am Donnerstag die „sofortige Sperre der Mittelmeerroute“ – wie auch immer man sich dies praktisch vorstellen soll.

Die Vorschläge laufen darauf hinaus, die bisherige Strategie der EU zu radikalisieren: Immer weiter sterben lassen und hoffen, dass irgendwann keiner mehr nachkommt.

Insofern scheitern die NGOs bislang mit ihrem Plan, moralischen Druck aufzubauen, um eine andere Politik zu erzwingen. Für die praktische Seite ihrer Arbeit bleibt der Bedarf so unverändert. Der Rücken wird ihnen dafür jetzt von der Unesco gestärkt: Sie vergab am Mittwoch an die NGO SOS Méditerranée, gemeinsam mit Lampedusas Bürgermeisterin Giuseppina Nicolini, ihren diesjährigen Friedenspreis.

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DW | 20.04.2017

Zivile Seenotretter am Limit

Mehr als 8000 Menschen wurden am Osterwochenende vor dem Ertrinken gerettet. Dabei gerieten auch Schiffe privater Hilfsorganisationen in Seenot. Jetzt fordern die NGOs mehr Unterstützung durch staatliche Akteure.

Erneut sind tausende Menschen von Libyen in Richtung Europa gestartet – mildes Wetter und ein zunächst ruhiger Seegang versprachen gute Bedingungen am Osterwochenende. Dennoch gerieten wieder Tausende in Seenot – insgesamt wurden mehr als 8.300 Menschen aus seeuntüchtigen Holz- und Schlauchbooten gerettet.

Carlotta Sami, Pressesprecherin des UNHCR twitterte, dass Helfer ununterbrochen im Einsatz waren, um Bootsflüchtlingen zu helfen und Leben zu retten. Die Migranten kamen hauptsächlich aus Nigeria und Senegal. Acht Menschen, darunter auch eine schwangere Frau, haben nicht überlebt. Knapp 100 werden vermisst. Die Geretteten wurden an größere Schiffe der italienischen Küstenwache übergeben, die sie nach Süditalien brachten.

Schwerer Seegang und die schiere Anzahl der Flüchtlinge brachten auch die Helfer ans Limit: Zwei private deutsche Rettungsschiffe gerieten in Seenot und setzten Notsignale ab. Die Iuventa der Organisation „Jugend rettet“ hatte bereits über 600 Flüchtlinge an Bord, als der umfunktionierte Fischkutter von einem Holzboot mit knapp 800 weiteren Flüchtlingen gerammt wurde. In Panik waren viele ins Wasser gesprungen und auf die schon überfüllte Iuventa geklettert. Danach war das Schiff manövrierunfähig – so war es auch der Fall bei der „Sea-Eye“ der gleichnamigen Organisation aus Regensburg, die wegen eines zusätzlichen Motorschadens ein „Mayday“ an die zentrale Leitstelle für Seenotrettung MRCC in Italien funkte.

Illegale Route

Weil es keine legalen Routen nach Europa gibt, nehmen die Migranten die gefährliche Route über das Mittelmeer auf sich und legen ihr Schicksal gegen teures Geld in die Hände von Schleppern, die die Boote organisieren. „Es ist klar, dass mit besserem Wetter auch mehr Schlepper Flüchtlinge aus Auffanglagern losschicken“, sagte Leonard Doyle, Pressesprecher von der Internationalen Organisation für Migration (IOM). „Die Schmuggler haben ganz offensichtlich damit gerechnet, dass sie auf dem offenen Meer gerettet werden.“

Schätzungen von IOM zufolge werden rund 20.000 Menschen von kriminellen Banden in illegalen Internierungslagern in Libyen festgehalten. Auch die Bootsflüchtlinge, die am Osterwochenende auf dem Meer waren, befanden sich nach Aussage von IOM zuvor in libyschen Lagern. Sie zahlen den Schmugglern Geld, um auf überfüllte Boote zu steigen, die ohne fremde Hilfe niemals die ganze Strecke nach Europa bewältigen könnten – alles für eine Chance nach Europa zu kommen.

Die Hilfe der NGOs

Mehr als 35 Rettungsschiffe waren am Osterwochenende im Einsatz – darunter Boote der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, der italienischen und libyschen Küstenwache sowie 12 Handelsschiffe, die angesichts der Dramatik zur Hilfe kamen.

Unter den privaten Hilfsorganisationen war die maltesische Gruppe „Migrant Offshore Aid Station“ (MOAS), die seit 2014 in der zivilen Seenotrettung aktiv ist. Seit ihrer Gründung hat die Organisation rund 30.000 Flüchtlinge gerettet. Das Osterwochenende war für sie jedoch eine schlimme Eskalation der Lage: „Niemand hat jemals etwas Vergleichbares gesehen, wie wir an diesem Wochenende“, sagte der Gründer von MOAS gegenüber dem US-Sender CNN.

Neben den Booten von Jugend Rettet und Sea Eye mit ihren freiwilligen Helfern waren auch die deutsche Organisation Sea Watch, die spanische NGO Proactiva Open Arms sowie die Hilfsorganisationen Save the Children und SOS Méditerranée im Einsatz. Diese Boote patroullieren in der Regel mit Erlaubnis der MRCC (Leitstelle für Seenotrettung) 20 bis 50 Kilometer vor der libyschen Küste.

Die NGOs arbeiten auf unterschiedliche Weise. Die größeren Organisationen wie MOAS oder SOS Méditerranée haben große Schiffe, sie können vollständige Hilfsaktionen durchführen und die geretteten Personen auch bis an die italienischen Häfen an Land bringen. Die kleineren NGOs wie Sea Watch oder Proactive Open Arms sind auf kleineren Schiffen unterwegs, sie halten Ausschau nach Flüchtlingsbooten, nehmen Personen in Seenot an Bord, verteilen Rettungswesten und versorgen die Flüchtlinge medizinisch. Sie warten dann auf größere Schiffe, um die Menschen zu übergeben.

Über elftausend Euro am Tag

Seit der Schließung der Balkanroute vor einem Jahr wählen immer mehr Migranten die zentrale Mittelmeerroute. 24.000 Personen sind so in diesem Jahr bereits von Libyen nach Italien gekommen – das sind 6.000 mehr als noch im Vorjahr zu diesem Zeitpunkt. Im Vorjahr sind über 5.000 Menschen ertrunken. In diesem Jahr sind bereits 900 Menschen im Meer verblieben oder gelten als vermisst.

Trotz der massiven Gefahren gibt es kein staatliches Rettungsprogramm – der Fokus der EU-Agentur Frontex beispielsweise liegt auf dem Grenzschutz und dem Kampf gegen Schmugglernetzwerke.

Anders bei den privaten NGOs, deren explizite Mission die Rettung von Menschenleben ist. Die NGOs auf dem Mittelmeer werden zumeist durch Privatspenden finanziert. „Jugend rettet“ wird als gemeinnütziger Verein geführt; durch Crowdfunding über die Spendenplattform betterplace.org können die freiwilligen Helfer genug Gelder sammeln, um ihre Einsätze zu finanzieren. Auch Proactiva Open Arms ist eine Crowdfunding-Initiative: sie nutzt den Hashtag #HelpOpenArms; ihr Einsatz kostet nach eigenen Angaben  5.435 Euro für einen Tag auf See. Der größte Anteil (42 Prozent) fließt in die Ausgaben für Schiffskraftstoff, gefolgt von 28 Prozent für das Management und die Koordinierung der Hilfsmissionen. Die Ausgaben der großen Rettungsschiffe sind deutlich höher; die zivile europäische Organisation SOS Méditerranée gibt täglich rund 11.000 Euro für den Einsatz der Aquarius auf See aus. Auch sie rufen zum Spenden auf.

Dennoch reichen die Spendenaufkommen nicht aus, es sterben nach wie vor Menschen. NGOs wünschen sich außerdem mehr Engagement durch staatliche Akteure. Im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk betonte der Kapitän der „Sea Eye” Arne Schmidt: „Im Moment ist es leider so, dass wir von staatlicher Seite sehr wenig Unterstützung bekommen, zu wenig, um ausreichend Menschen retten zu können.“

 

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