30. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Griechenland: Zahlreiche neue wilde Lager entstanden“ · Kategorien: Balkanroute, Bulgarien, Griechenland, Italien, Libyen

Quelle: Deutschlandfunk

Nach der Räumung des Flüchtlingslagers von Idomeni sind im Norden Griechenlands zahlreiche illegale Lager entstanden.

Wie der griechische Fernsehsender Skai berichtete, halten sich tausende Flüchtlinge weiterhin in Grenznähe zu Mazedonien auf. Sie zelteten im Freien in der Nähe von Tankstellen und Hotels sowie nahe der Ortschaft Polikastro. Ein Reporter des Senders sagte, die Lage sei jetzt schlimmer als vorher. Man habe Schwierigkeiten, die Menschen angemessen zu versorgen. Das Lager in Idomeni sei – auch dank der internationalen Hilfsorganisationen – vergleichsweise gut organisiert gewesen.

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siehe auch: Die Welt

Idomeni ist ein hässlicher Erfolg

Wenn die Willkommenskultur endet, bleibt nur der Müll zurück: Alte Decken, platt gewalzte Zelte, umgestoßene Kinderwagen und zertrampeltes Spielzeug liegen im Dreck. Bagger schaufeln die Überreste der geräumten Zeltstadt im griechischen Idomeni auf Lastwagen. Hunderte Sicherheitskräfte riegeln das Gelände ab. Vor der Polizeikette stehen Philipp aus Thüringen und die anderen Aktivisten aus Deutschland. „Das war eher Guantánamo als Europa“, sagt der Mittzwanziger, der seinen Nachnamen nicht nennen will, weil er und seine Genossen eigentlich nicht mit der Presse reden. „Die Griechen haben in Idomeni schon Tage vorher das Wasser abgestellt, immer weniger Essen verteilt und alle mit irre lauter Musik beschallt.“

Die jungen Deutschen demonstrieren weiter für die Öffnung der Grenze zu Mazedonien, während die letzten Flüchtlinge in die andere Richtung gehen. Eine syrische Familie passiert die Absperrung. Der Vater voran, das Nötigste zieht er in einem Einkaufswagen mit, dahinter seine Frau, vier Kinder.

Die Demonstranten rufen „No border, no Nation, no deportation!“ Da bleibt der Vater stehen. Direkt vor dem Transparent mit der Aufschrift „Scheiß auf den europäischen Egoismus!“ Der Mann reißt die Arme hoch, flucht. Spuckt auf den Boden. Dann zieht er weiter. Die Aktivisten halten für einen Moment inne: Wem galt der Ausbruch? Ihnen, die nicht helfen können? Europa, das nicht mehr helfen will?

Idomeni, der Name des griechischen Dorfes an der Grenze zu Mazedonien, symbolisiert die einfachste und vielleicht wichtigste Wahrheit über die Flüchtlingskrise: Es gibt keine gute Lösung dafür. Keine ganz einfache, keine ganz saubere, keine wirklich anständige. Ende Januar riegelten die Westbalkanländer ihre Grenzen ab für die über Griechenland aus Nahost kommenden Migranten. Ihn Idomeni kamen sie nicht weiter. Bis zu 14.000 Menschen lebten unter katastrophalen Bedingungen in und um das dortige Auffanglager, das für 1500 Flüchtlinge ausgelegt war.

Nun, nachdem sich die Türkei in einem Abkommen mit der EU verpflichtet hat, Migranten aufzuhalten und zurückzunehmen, kommen viel weniger Flüchtlinge hierher und die Zeltstadt wird geräumt. Die 8000, die jetzt gehen müssen, sind die letzten.

Idomeni ist ein hässlicher Erfolg. Aber er ist nicht das Ende der Geschichte. Und es könnte sein, dass sich Europa in nicht allzu ferner Zukunft nach diesem Camp zurücksehnen wird. Denn bald könnte es viele Idomenis geben, die weitaus schlimmer sind – etwa in Bulgarien, in Libyen, Italien und wieder in Griechenland.

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Die Episode wiederholt sich schon jetzt, nur ein paar Kilometer von dem geräumten Lager entfernt. Vor einer Polizeisperre an der Zufahrtsstraße nach Idomeni ist Camp Hara entstanden. Der Name bedeutet „Freude“ und wurde übernommen von dem früheren Hotel mit Tankstelle, das verfällt. Hier stehen kleine, windzerzauste Zelte dicht aneinander. Auf einer freien Fläche zwischen den Zapfsäulen scheppern fröhliche Kinderlieder aus Lautsprecherboxen. Zwei ehrenamtliche Clowns aus Spanien springen tanzend mit syrischen und afghanischen Kindern umher. Eine mobile Klinik der deutschen Hilfsorganisation Humedica ist vorgefahren.

„Hunderte Menschen haben Idomeni schon längst vor der Räumung verlassen“, sagt Humedica-Koordinatorin Roma Damien, während sie sich bemüht, Ordnung in die Warteschlange zu bringen. „Die Leute haben Angst, dass sie in einem offiziellen Camp in der Falle sitzen“, sagt sie. „Von hier aus haben sie wieder eine Chance, es noch einmal über die Grenze zu versuchen.“ Fast die Hälfte der Flüchtlinge von Idomeni soll kurz vor und während der Räumung untergetaucht sein. Mindestens 2000 Menschen befinden sich jetzt in neuen, wilden Lagern rund um die geräumte Zeltstadt. Die Lkw-Klinik in Camp Hara behandelt viele Fußverletzungen. Die Leute hier haben einen langen Weg hinter sich. Und sie wollen unbedingt weiter. Wenn nicht hier über den Westbalkan, dann vielleicht über den Osten der Region. Die Route führt über Bulgarien – auch hier droht ein neues Idomeni.

BULGARIEN

Vor einem Ansturm der Flüchtlinge kommt im bulgarischen Bliznak die Angst. Ein paar Häuser im Wald an der türkischen Grenze, 28 Seelen. „Klar sehen wir hier manchmal Migranten“, sagt der Bauer Alexandar Avramov, 53 Jahre alt. Früher, im Winter, zogen die Fremden sogar massenhaft durchs Dorf. Avramov gab ihnen Tee und Brot, und dann rief er die Polizei. „Zurzeit sind es nicht so viele“, sagt er. „Aber neuerdings kommt sehr viel Polizei und die Armee her, jeden Tag.“ Unruhe breitet sich aus im bulgarischen Grenzland. Hier entgleiten die Dinge dem Staat, und unberechenbare Akteure treten auf: Gruppen von Männern, die das Abendland retten wollen. Seit die andere Seite des Balkan dicht ist, patrouillieren sie im eigenen Auftrag an der türkischen Grenze, um Migranten zu finden und den Behörden zu übergeben.

Die selbst ernannten Retter machen auch ihren Landsleuten Sorge. „Die Typen sind so um die 20 Jahre alt“, sagt Stoyan Nikolov Dimtschew, der Forstbeamte von Bliznak, „dumme junge Männer aus der Stadt mit Glatzen.“ Einmal begegnete er zehn von ihnen. „Die fragten mich, mit welchem Recht ich hier Bäume fälle“, sagt er entgeistert. „Dabei bin ich hier der Verantwortliche für den Forst!“ Seine Arbeiter sind fast alle Roma, und denen machen die Skinheads Angst. Dimtschew rief die Polizei, und die Männer wurden festgenommen. Aber solche Gruppen bilden sich überall an der Grenze zur Türkei.

Dinko Valev war einer der Ersten von ihnen. Er ist ein bulliger Typ, der gerne auf einem Quad durch den Wald brettert. Eines Tages im Februar, so erzählt er es gern, sei er dabei von einem Flüchtling angegriffen worden. Der habe sein Fahrzeug stehlen wollen. Aber Valev streckte ihn mit ein paar Hieben nieder und so verfuhr er dann mit den anderen Migranten, die plötzlich aus den Büschen gekommen seien. Dann rief er die Polizei. In den bulgarischen Medien ist er jetzt ein Superstar. Auf allen TV-Kanälen tönt er, Migranten seien Terroristen und würden Bulgarien und Europa zerstören – wenn nicht Leute wie er, Dinko Valev, etwas dagegen unternähmen. Seither hat er mindestens 25 Flüchtlinge der Polizei übergeben und fordert für jeden weiteren 25 Euro Kopfgeld von der Regierung.

Von westlichen Journalisten will er mehr. 500 Euro verlangt er, als die „Welt am Sonntag“ mit ihm sprechen will. Die bekommt er natürlich nicht. Aber offenkundig will er die Jagd auf Flüchtlinge zum Geschäftsmodell ausbauen. Wenn er und seine Freunde in Militärklamotten und mit Hunden patrouillieren, würden sie ihre Opfer nicht nur verprügeln sondern auch noch ausrauben, heißt es in manchen Berichten.

Wird der Weg über Bulgarien die Alternative zur griechischen Route? Die bulgarische Regierung wiegelt ab. Das Land hat schon einen Grenzzaun, der nun ausgeweitet wird. „2016 gab es bislang rund 10.000 versuchte illegale Grenzübertritte“, heißt es im Innenministerium. Die Tendenz sei sinkend. Gerade hat man mit der Türkei ein eigenes Abkommen zur Rücknahme illegaler Migranten unterzeichnet. Ab 1. Juni, so hofft man, sollen weniger als 50 Flüchtlinge pro Tag kommen.

Aber diese offiziellen Angaben können nicht stimmen. Allein in Serbien, der ersten Abzweigung der Bulgarienroute, kommen derzeit täglich mehr als 200 Migranten an, die nach eigenen Angaben über Bulgarien gereist sind. Offenbar lassen sich bulgarische Grenzer von Schleppern fürs Wegschauen bezahlen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in vielen solcher Fälle. Einer der selbst ernannten Migrantenjäger, der mit der Polizei zusammenarbeitet, erklärt gegenüber der „Welt am Sonntag“, die offiziellen Zahlen seien falsch. In Wahrheit kämen schon jetzt täglich Hunderte Menschen nach Bulgarien. Grenzpolizisten würden das verschweigen, nicht nur weil sie geschmiert würden, sondern auch weil sonst bekannt werden könnte, das die Flüchtenden auch von Beamten misshandelt und ausraubt würden.

Korruption, Armut und schlechte Organisation wurden schon in Griechenland zum Verhängnis im Umgang mit der Flüchtlingskrise. Und was Korruption und Armut angeht, stellt Bulgarien selbst Griechenland in den Schatten. Die Rangliste der Organisation Transparency International führt Bulgarien als korruptesten Staat der EU an. Außerdem hat das Land mit deutlichem Abstand das geringste Pro-Kopf-Einkommen in der EU. Ein neues Idomeni könnte hier noch hässlicher sein als das alte. Das bulgarische Grenzland jedenfalls fühlt sich schon jetzt nicht immer wie Europa an. Es sind sehr frühe Anzeichen eines Zerfalls von Strukturen zu erkennen. Ein extremes Beispiel für das Ergebnis eines solchen Zerfalls liegt weiter westlich, nur 250 Kilometer von den Küsten der EU entfernt.

LIBYEN

In der Stunde vor Sonnenuntergang schlagen hohe Wellen auf den Strand von Zuwara. Sie überspülen den weißen Sand fast bis zu den verfallenen Hütten aus Palmblättern. Der Küstenort, eine Autostunde von Libyens Hauptstadt Tripolis entfernt, war einst beliebtes Urlaubsziel. Heute werden hier immer wieder ertrunkene Flüchtlinge angeschwemmt. „Bei diesem starken Wind können eigentlich gar keine Flüchtlingsschiffe auslaufen“, sagt einer der Beamten an Bord des Patrouillenbootes. „Aber das Wetter ist den Schleusern ziemlich egal. Sie wollen so viel Geld wie möglich machen.“ Erst vor ein paar Tagen sind wieder zwei Boote mit Hunderten von Flüchtlingen hier gekentert. Mindestens 60 Menschen sollen ertrunken sein. Die Küstenwache kann die wenigsten retten und auch das Auslaufen der Boote kaum verhindern. Denn die Ursache des Dramas liegt nicht auf See.

Der Wüstenstaat Libyen ist zwischen einer Regierung und einer Gegenregierung gespalten, eine dritte von den UN geförderte Einheitsregierung muss sich von Milizen schützen lassen. Etwa 400 Kampfgruppen operieren im Land, und die Terrororganisation Islamischer Staat beherrscht schon Hunderte Kilometer der Küste. Heftiger kann ein Gemeinwesen kaum implodieren. Mindestens 250.000 Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten haben sich ausgerechnet nach Libyen durchgeschlagen, weil sie durch das Chaos hindurch nach Europa zu fliehen hoffen.

Die Küstenwache ist eines der wenigen halbwegs funktionierenden Elemente von Staatlichkeit in dem Land, weil sie mit EU-Mitteln gefördert wird. Doch seit die Westbalkanroute dicht ist, könnte für Libyens Menschenhändler die große Stunde gekommen sein. Nach Angaben von EU-Ratspräsident Donald Tusk kommen derzeit drei- bis fünfmal mehr Menschen aus Afrika über das Mittelmeer als im gleichen Zeitraum 2015.

Das war auch Bakos Plan, er ist 27 Jahre alt und stammt aus Kamerun. Er wollte eigentlich nach Europa, aber jetzt hat er einen Job in Tripolis gefunden. In seiner Freizeit verteilt er Hilfsgüter an die Flüchtlinge, und er merkt, dass sich etwas wandelt: „Hier gibt es nicht nur Afrikaner, sondern Leute aus den verschiedensten Ländern. Auch aus Bangladesch, Pakistan, Afghanistan. Und neuerdings kommen mehr Syrer und Iraker.“ Die britische Zeitung „The Guardian“ fand im sozialen Netzwerk Facebook Gruppen, über die libysche Schleuser gezielt bei Syrern für die neue Route werben – auch mit Rabatten. Tripolis–Italien für nur 1000 Dollar.

Vergangenen Mittwoch empfing die Hilfsorganisation Watch The Med morgens um 8.45 Uhr den Notruf eines Boots. Über ein Satellitentelefon meldete sich jemand auf Arabisch. Er habe behauptet, die meisten der Passagiere würden aus Syrien und dem Irak stammen. „Die Leute um ihn herum“, so ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation, „sprachen alle syrischen Dialekt aus dem Nordosten des Landes.“ Dann sei der Kontakt abgebrochen, das Boot verschwunden. Niemand weiß, ob es noch Land erreicht hat. Ein neues, libysches Idomeni wäre unsichtbar und weitaus schlimmer. Es läge irgendwo auf dem Meeresgrund vor der italienischen Küste.

ITALIEN

Ein mögliches Wiederaufleben der Mittelmeerroute hat schon jetzt ein Symbol: das blaue Fischerboot, das am Mittwoch völlig überfüllt kenterte. Bild für Bild wurde die Havarie festgehalten, Helfer waren glücklicherweise nah. Die italienische Küstenwache konnte 547 der Insassen retten, fünf Menschen ertranken womöglich. Das Boot kam aus Libyen. Aber in Italien hat man bereits einen weiteren Brennpunkt im Süden ausgemacht: Ägypten. Von dort haben in dieser Woche drei Schiffe mit mehr als 1500 Menschen Richtung Italien abgelegt. „Es ist das erste Mal, dass Schiffe aus Ägypten kommen“, bestätigt Mario Morcone, Chef der italienischen Einwanderungsbehörde. Von den Kriegsgebieten des Nahen Ostens erreicht man das Land am Nil schneller als Libyen.

Seit Anfang 2016 seien nur 85 asylsuchende Syrer in Italien registriert worden, sagt der italienische Europastaatssekretär Sandro Gozi. „Die Ereignisse dieser Tage im Mittelmeer zeigen aber, dass in jedem Fall eine stärkere Kontrolle notwendig ist.“ Dafür müsse die EU-Marineoperation „Sophia“ im südlichen Mittelmeer ausgeweitet werden. Gozi hofft auch, dass die Kommission Italiens Migration Compact unterstütze – einen Plan, der afrikanischen Ländern Investitionen bietet und dafür Kooperation bei der Abschiebung und Eindämmung der Migration fordert. Europa müsse jetzt sehr schnell eingreifen.

Was Gozi vorschwebt, klingt ein bisschen wie die Vervielfältigung des Türkei-Deals. Aber funktioniert der wirklich? Der türkische Präsident droht bereits damit, das Abkommen zu kündigen, wenn bis zum 30. Juni keine Fortschritte in Sachen Visafreiheit erreicht würden. Und das Europaparlament weigert sich, auch nur über mehr Reisefreiheit zu beraten, weil nicht alle rechtstaatlichen Bedingungen erfüllt seien. Wenn Erdogan den Deal platzen lässt und so Angela Merkels Flüchtlingspolitik sabotiert, dann begeistert das seine Anhänger womöglich mehr, als Visafreiheit. Hinzu kommt: Die Umsetzung des Türkei-Deals hakt auch in Griechenland. Hunderte Migranten haben vor der griechischen Asylkommission Widerspruch gegen ihre Abschiebung in die Türkei eingelegt. Etwa 80 Prozent von ihnen bekamen recht, weil ihre Behandlung in der Türkei nicht der Genfer Konvention entspreche.

Führenden Europapolitikern aus der CSU kommen neue Zweifel. „Es kann nicht sein, dass jeder Syrer, der in Griechenland bleiben will, auch bleiben kann. Das gefährdet das Abkommen mit der Türkei“, sagt Monika Hohlmeier (CSU), innenpolitische Sprecherin der konservativen Mehrheitsfraktion EVP im EU-Parlament der „Welt am Sonntag“. Wenn es in Einzelfällen konkrete Hinweise gebe, dass ein Flüchtling in der Türkei nicht ausreichend geschützt sei, könne er in Griechenland bleiben. Aber insgesamt sei die Türkei ein sicherer Drittstaat, so Hohlmeier. „Ich erwarte von den Griechen, dass sie im Rahmen ihrer Asylverfahren auch Syrer gegen ihren Willen wieder in die Türkei abschieben.“

Das genau ist das demokratische Dilemma der Ära Idomeni – wo auch immer dieses Phänomen auftritt, kollidieren schwache Menschen und schwache Staaten. Da entsteht Druck und irgendwann Zwang. Je später, desto härter.

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