26. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Wisam backt das letzte Brot in Idomeni“ · Kategorien: Balkanroute, Griechenland, Mazedonien

Quelle: Zeit Online

Die Behörden wollen keine Öffentlichkeit bei der Räumung des Camps in Idomeni. Wer es dennoch rein schafft, trifft zermürbte Menschen, die von Schleusern umworben werden.

Von Lenz Jacobsen, Idomeni

Wisam winkt einen hinein. Sie steht unter einer Plane, zwischen vier Zelte gespannt, trägt Jogginghose und T-Shirt und ein rotes Kopftuch. Wisam sagt, sie sei aus ihrer Stadt Palmyra geflohen, als der IS kam. Das war im Frühjahr 2015. Neun Monate habe sie danach im türkischen Mersin als Verkäuferin auf einem Markt gearbeitet, erzählt die 26-Jährige, um Geld zu verdienen für den weiteren Weg nach Europa, für sich und ihre Familie. Mutter, Bruder, zwei Schwestern.

Wisam backt gerade das letzte Brot in Idomeni. Sie beugt sich tief über den niedrigen Tisch, der nur eine Platte auf einer kaputten Krankenliege ist, rollt mit einer kurzen, runden Metallstange den Teig zu einem Fladen, bestäubt ihn mit Mehl und legt ihn über das kleine Lagerfeuer. So wie sie es die vergangenen drei Monate auch immer gemacht hat.

Doch am heutigen Mittwoch ist es vorbei damit. Wisam wird gleich in einen Bus steigen, wie Hunderte andere Flüchtlinge. Neben dem Feuerchen stehen schon gepackt die Koffer und Taschen der Familie. Eigentlich will sie nicht weg hier. „Aber wenn die Polizei kommt, reicht das schon, mit denen will ich mich nicht anlegen.“ Wisam lächelt und zuckt mit den Achseln, was soll man schon machen, heißt das wohl.

Die griechische Polizei leert seit Dienstagfrüh das Flüchtlingslager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze. Zu Hunderten haben sie das Lager übernommen, in dem sie sich vorher nie blicken ließen, das monatelang sich selbst überlassen war. In Gruppen oder einzeln stehen sie herum, manche mit Helm und Gasmaske, die sie nicht aufgesetzt haben, andere in Zivil, aber an den Funkgeräten und der breitbeinigen Attitüde klar zu erkennen.

Journalisten lassen sie auch an diesem zweiten Tag der Räumung nicht ins Lager. Die europäische Öffentlichkeit soll nicht sehen können, was hier geschieht.

Doch es gibt noch Wege hinein, vorbei an den Sperren. Sie dauern Stunden und sind aufwendig. Über eine Schotterpiste und durch einen Bach geht es, danach zu Fuß über die Felder, und schließlich vorbei an den Polizisten, die überall am Rand des Camps in Gruppen herumstehen.

Hat man es hinein geschafft, muss man sich verstecken vor den Polizisten. Dafür braucht man die Hilfe der Flüchtlinge hier. Jener Menschen also, die sich auf ihrem Weg selbst oft verstecken mussten vor der Polizei, die auf Schleichwegen Sperren umgehen müssen, um in die andere, große Sperrzone zu gelangen: Europa.

Dreckige Decken liegen noch, zerschlissene Matratzen

In Idomeni, dem illegalen Camp, wo Zehntausend überlebt haben, wo bis Dienstagfrüh die Zelte dicht gedrängt auf den Bahngleisen standen, kehrt nun ein Bagger die Reste mit seiner großen Schaufel zusammen. Zeltstangen brechen und Planen reißen, und wenn die Menschen, die noch da sind, dem Bagger zu nahe kommen, pfeifen die Polizisten laut und verscheuchen sie: „Stopp!“, rufen sie dann und wedeln mit den Händen.

Von den Zelten, die noch stehen, wurden viele bereits hastig verlassen. Dreckige Decken liegen dort noch, zerschlissene Matratzen, ein wenig Kinderspielzeug und dreckiges Geschirr. Auch die Zelte der vielen Helfer sind nun leer, in denen sie Tee verteilt haben und Essen, wo die Kinder gelernt und gespielt haben, alle stehen sie da wie ausgeweidet.

Auf den Wegen warten die großen weißen Reisebusse. Familien schleppen ihre prallen Reisetaschen herbei, dann steigen sie ein, langsam und still. Als hätte ihnen das lange erfolglose Warten hier an der Grenze jede Ungeduld abgewöhnt.

Die Menschen verlassen das Lager freiwillig, sagt die Polizei. Keine Probleme bei der Räumung, alles nach Plan. Was sie nicht sagt: Dass die Menschen hier nicht bleiben können, weil es kein Essen mehr gibt. Die Polizei verweigert den Helfern, die bisher Nahrung verteilt und gekocht haben, den Zutritt. Die Flüchtlinge würden ausgehungert, damit sie keine andere Wahl mehr haben, als in die Busse zu steigen, kritisieren die Helfer.

Bei vielen scheint es eher eine psychologische Auszehrung zu sein, die sie nun gefügig macht. Wisam zum Beispiel hat drei Monate hier gewohnt, ihre Schwester war dabei, als eine Gruppe Flüchtlinge versuchte, über den Fluss und dann über die Grenze zu kommen, die mazedonische Polizei schlug sie zurück. „Irgendwann haben wir aufgegeben, weil ja doch fast alle zurückgekommen sind, die es versucht haben“, sagt Wisam. Ganz offen seien Schleuser durch das Lager gelaufen, erzählt jetzt ein Nachbar von Wisam. 900 Euro bis nach Belgrad, 1.500 bis 2.500 für die Tour nach Deutschland. Aber wer hat schon so viel Geld? „Ich bin so, so müde“, sagt Wisam.

Ihr Zelt liegt am Rande von Camp A, neben Camp B und C einer von drei Bereichen im Lager. Hinüber bis zum eigentlichen Dorf Idomeni sind es von hier nur hundert Meter. Man kann die gepflegten Gärten sehen. Wisams Nachbarn haben schon gestern aufgegeben, rund um das Zelt ihrer Familie ist der Boden jetzt kahl.

Die Menschen werden von hier in vom Militär betreute Lager in Thessaloniki gebracht, 70 Kilometer entfernt. Dort sollen die Bedingungen besser sein als unter freiem Himmel im Niemandsland des Grenzstreifens. „Aber uns geht es gar nicht um ein besseres Lager, es gibt nicht Ein-Sterne-Lager und Fünf-Sterne-Lager“, sagt Wisam, „wir wollen einfach frei sein.“

Versteht sie, warum Mazedonien die Grenze geschlossen hat, ist sie wütend auf die dortige Regierung oder wütend auf die griechische Polizei? „Ach“, sagt sie, „es geht doch nicht um Mazedonien oder Griechenland, da steckt doch Deutschland dahinter. Das will uns nicht mehr haben, aber traut sich nicht, das offen zu sagen.“

Sie will wie so viele andere nicht in einem offiziellen Militärlager in Thessaloniki bleiben. Wisams Familie hofft, dass Verwandte ihr Geld schicken, damit sie sich eine Wohnung mieten kann in der Stadt. Und von da aus dann irgendwie weiter in das Land, das sie nicht mehr will, nach Deutschland.

6.000 Menschen seien noch im Camp, gibt der griechische Regierungsstab für Flüchtlingsfragen am Mittwochmittag bekannt, aber hier im Lager selbst scheint diese Zahl übertrieben. Nur noch vereinzelt sind Menschen zu sehen auf dem weitläufigen Gelände. Es soll einen harten Kern von widerständigen Bewohnern geben, aber finden kann man die als eingeschlichener Reporter nicht, ohne selbst von der Polizei entdeckt zu werden. Manche hielten sich auch in den umliegenden Feldern und Wäldern versteckt, berichten griechische Medien.

Bald werden alle Zelte komplett geräumt sein. Dann können die Güterzüge, die eigentlich durch Idomeni rollen, wieder nach Mazedonien fahren, was für die griechische Wirtschaft wichtig ist. Die Menschen, die hier über Monate gelebt haben, werden dann anderswo sein. Sie werden in anderen Lagern landen oder sich einzeln durch Griechenland und all die anderen Länder schlagen. Es gibt dann keine Bilder mehr von dieser tausendköpfigen Masse, die eine geschlossene Grenze in Europa belagert. Diese Menschen werden wieder unsichtbar, aber deshalb nicht verschwinden.

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siehe auch: ARD Tagesschau

Bildergalerie: Flüchtlingslager Idomeni geräumt

Idomeni geräumt

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