20. Mai 2016 · Kommentare deaktiviert für „Deutsche Marine in trüben Gewässern“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: ARD Tagesschau

Zweifel an Türkei als sicherem Drittstaat

Darf die deutsche Marine im Mittelmeer aufgegriffene Flüchtlinge in die Türkei zurückbringen? Im Gegensatz zum Verteidigungsministerium hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags daran Zweifel.

Von Michael Stempfle, SWR

Die unabhängigen Wissenschaftler des Bundestags haben „Zweifel“ am NATO-Einsatz der Deutschen Marine – zumindest in einem besonderen Fall. Es geht um die Zusammenarbeit mit der Türkei. Der Einsatz geht zurück auf einen Beschluss der NATO-Verteidigungsminister vom 11. Februar 2016.

Sechs Schiffe der NATO, darunter auch der Deutschen Marine, operieren in türkischen und griechischen Hoheitsgewässern. Sie sollen selbst eigentlich keine Boote anhalten. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, Schleuserbewegungen zu beobachten, auszuwerten und zu melden. Soll heißen: Wenn die Besatzungsmitglieder sehen, wie ein Boot mit Flüchtlingen etwa an der türkischen Küste mit dem Ziel Griechenland in See sticht, dann sollen die Deutschen dies der türkischen Küstenwache melden. Das Schleuserboot mit den Flüchtlingen an Bord soll dann zurückgehalten werden.

„In die Türkei verbringen“

Doch was, wenn die Deutsche Marine bei ihrem Einsatz auf offener See ein Schlauchboot mit Flüchtlingen entdeckt? Nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen ist sie verpflichtet, diese Personen zu retten, also an Bord zu nehmen. Doch wohin kommen die Flüchtlinge dann? Nach Deutschland? Nach Griechenland? In die Türkei?

Das Verteidigungsministerium hat dazu eine klare Position. Am 17. Februar 2016 sagte der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe im Bundestag: „Sollten dabei in Seenot geratene Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen werden, ist unter anderem vorgesehen, diese in sichere Häfen in der Türkei zu verbringen.“

Linksfraktion gab Gutachten in Auftrag

Die Fraktion der Linkspartei hinterfragt dies und gab beim Wissenschaftlichen Dienst ein Gutachten in Auftrag: Ist die Haltung der Bundesregierung mit europäischem Unionsrecht vereinbar? Das ARD-Hauptstadtstudio konnte das mittlerweile vorliegende Gutachten einsehen.

Dürfen die in der Ägäis geretteten Flüchtlinge in die Türkei gebracht werden oder nicht? Der entscheidende Punkt: Es muss zunächst geprüft werden, ob die Türkei ein „sicherer Drittstaat“ ist. Voraussetzung dafür ist unter anderem: Die Türkei müsste bestimmte Kriterien erfüllen. So müsse „feststehen, dass schutzsuchenden Personen in der Türkei weder eine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung noch die Gefahr droht, einen ernsthaften Schaden (…) zu erleiden.“

Zweifel bei den Gutachtern

Hier setzt die Kritik des Wissenschaftlichen Dienstes an. Es sei zwar rechtlich „vertretbar“, die Türkei als sicheren Drittstaat anzusehen. Allerdings komme es auf die Anwendung der internationalen Regelungen in der Praxis an. Und da haben die Wissenschaftler – so wörtlich – „Zweifel“.

An einer Stelle im Gutachten heißt es: „Aufgrund von verschiedenen Berichten von Nichtregierungsorganisationen sowie von entsprechenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat in der Türkei nicht umfassend und in jedem Einzelfall gewährleistet sein könnten“. Gemeint sind offenbar Berichte, wonach Flüchtlinge aus der Türkei nach Syrien abgeschoben worden sind.

An einer anderen Stelle heißt es: „Vor diesem Hintergrund geben die Berichte verschiedener Nichtregierungsorganisationen Anlass zu Zweifeln, dass die (…) statuierten Anforderungen an die Wahrung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung und des besonderen Abschiebeverbots in die Türkei umfassend in jedem Einzelfall tatsächlich gewährleistet sind.“

Zweifel auch bei der EU-Kommission?

Die Experten des Wissenschaftlichen Dienstes wollen ihre Kompetenzen ausdrücklich nicht überschreiten. Eine Prüfung der Situation in der Türkei sei erforderlich. Die könne der Wissenschaftliche Dienst im Rahmen des Gutachtens nicht vornehmen.

Allerdings: Die Türkei einfach nur als sicheren Drittstaat anzuerkennen, das reiche in jedem Fall nicht aus, so der Wissenschaftliche Dienst. Der „abschiebende“ EU-Staat habe die Pflicht sicherzustellen, dass das geltende Recht auch in der Praxis umgesetzt wird. Der Flüchtling darf demnach keiner Behandlung ausgesetzt sein, die der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht.

Gegen Ende des Gutachtens wird noch eine einschränkende Bemerkung gemacht: Auch die EU-Kommission stelle infrage, ob die jüngsten Beschlüsse der türkischen Regierung schon ausreichen, den Anforderungen der EU Genüge zu tun. Nach Ansicht der Wissenschaftler des Bundestags scheint die EU-Kommission davon auszugehen, dass die Türkei zumindest derzeit „nicht ohne weitere Schritte als sicherer Drittstaat anerkannt werden“ könne.
Linkspartei spricht von Skandal

Die innenpolitische Sprecherin der Linkspartei, Ulla Jelpke, gab das Gutachten in Auftrag. Sie hält die Türkei nicht für einen sicheren Drittstaat. „Denn dafür müssten Flüchtlingsrechte und das Zurückweisungsverbot in der Praxis effektiv gewährleistet sein“, so Jelpke. Dass die Bundesregierung dies ohne ernsthafte Überprüfung lapidar unterstelle und alle unabhängigen und kritischen Berichte hierzu ignoriere, sei ein echter Skandal, so Jelpke.

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