30. August 2015 · Kommentare deaktiviert für Flüchtlingselend im „Dschungel“-Lager: Die Schande von Calais · Kategorien: Frankreich, Großbritannien · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Von Peter Müller

Calais ist zum Symbol für das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik geworden. Im „Dschungel“, dem Camp, hausen Tausende – Nacht für Nacht versuchen sie, nach England zu gelangen. Ein Besuch.

Die Kinder tun sich mit dem ruhigen Sitzen genauso schwer wie mit der ungewohnten Sprache. Doch Linda Aubry bringt das nicht aus der Ruhe. Die resolute Frau ist 57 Jahre alt und Grundschullehrerin in Calais. Sie hat Erfahrung mit ungeduldigen Kindern.

Aubry, im Jeanshemd mit hochgekrempelten Ärmeln, sagt die Laute des Alphabets vor, die Kinder sprechen sie nach. Die Lehrerin steht an einer kleinen Kreidetafel in einem notdürftigen Zelt, sechs, sieben Kinder sitzen auf bunt zusammengewürfelten Stühlen. Sie stammen aus Äthiopien, Nigeria und dem Sudan, Aubry versucht ihnen ein bisschen Französisch beizubringen. Am Ende verteilt sie eine Belohnung, die überall auf der Welt wirkt – Schokolade.

„Laizistische Schule am Dünenweg“, steht auf Französisch an einer wackeligen Tür, die ins Zelt führt. Daneben ist an eine Plastiktafel der Stundenplan angeschlagen – vor allem Französisch, aber es gibt auch Kunst und Musik. „In den Ferien versuche ich, jeden Tag hier zu sein“, sagt Aubry. Sie wechselt sich mit etwa 20 Lehrern aus der Region ab.

Die kleine Schule in den Dünen von Calais ist ein zivilisierter Platz an einem Ort, den es in Europa eigentlich gar nicht geben dürfte. Mehr als 3000 Flüchtlinge leben im „Dschungel“, wie das illegale Flüchtlingslager im Osten der französischen Hafenstadt hier genannt wird. Die meisten kommen aus Afrika, haben auf ihrer Flucht die Wüste durchquert und das Mittelmeer. Manche von ihnen planen, in Frankreich zu bleiben, viele aber sind noch nicht am Ziel: Sie wollen weiter nach Großbritannien.

An der Verladestation des Eurotunnels bessern Arbeiter am vergangenen Dienstagmittag Löcher am Zaun aus. Obwohl die Sicherheitsvorkehrungen verschärft wurden und der Weg unverändert gefährlich ist, wagen noch immer einige Flüchtlinge den Versuch, England zu erreichen. Nacht für Nacht pirschen sie sich an Lkw heran, um durch den Eurotunnel zu kommen. Oder auf eine der großen Fähren, die vom Hafen in Calais nach England in See stechen. Etliche sind bereits ums Leben gekommen.

Gelandet im „Dschungel“ von Calais

Die Gegend, in der sich Urlaubsheimkehrer für die Reise nach England einchecken, wirkt wie ein großes Gefängnislager. Es gibt Flutlichtanlagen, die Zäune sind meterhoch, neuerdings hilft sogar die englische Polizei auf französischem Boden aus. Am Montag wollen EU-Vizekommissionschef Frans Timmermans und Frankreichs Premierminister Manuel Valls sich vor Ort über die Lage der Migranten informieren.

„Gestern Nacht wurde einer von uns von einem Hund der Polizei angefallen“, sagt Kamal, ein junger Mann aus dem Sudan. Er steht am Rande der Schlaglochpiste, die durch das Lager führt, und lädt den Besucher in seinen Zeltverschlag ein. Der Verletzte sei kurz im Krankenhaus versorgt worden und wieder im Lager, sagt er. Kamal heißt in Wirklichkeit anders, er will seinen Namen nicht in einem Bericht lesen. Auch, weil es ihm peinlich ist vor seiner Familie in der Heimat. Er hat den Sudan verlassen, um ein besseres Leben in Europa zu finden. Gelandet ist er im „Dschungel“ von Calais.

In der Ecke der kleinen Hütte steht ein Sack Kartoffeln, Wasser und Strom gibt es nicht. Man tut den französischen Behörden nicht unrecht, wenn man hinter den Lebensbedingungen hier System vermutet. Doch die wenigstens lassen sich davon abschrecken. „Wenn Europa uns hier nicht will“, sagt Kamal, „dann muss Europa dafür sorgen, dass die Kriege in unseren Ländern enden.“

Kampf um die besten Plätze zum Duschen

An dem Verschlag laufen jetzt immer mehr Menschen vorbei, ihr Ziel ist der Centre Jule Ferry, das Flüchtlingszentrum. Punkt 12 Uhr öffnen sich die Tore, für Hunderte beginnt dann der Kampf um die besten Plätze zum Duschen und an den Aufladestationen für ihre Handys. „Gehen Sie zur Seite, sonst werden Sie überrannt“, warnt Camp-Leiter Stéphane Duval, ein robuster Mann mit Glatze. „Es ist der größte Ansturm des Tages.“

Strom fürs Handy ist für viele so wichtig wie Wasser zum Duschen, so halten die Flüchtlinge Kontakt mit ihrer Familie – und zu denen, denen die Flucht über den Kanal nach England geglückt ist. „Diese Route ist nicht neu“, sagt einer, der im Centre einen großen Kanister mit Wasser füllt. Wilde Flüchtlingscamps gibt es in der Gegend um Calais seit Jahren. Wenn die Polizei eines platt machen lässt, wächst das nächste heran.

Die Botschaft, die Campleiter Duval der Politprominenz am Montag mitgeben will, ist klar: Das Versorgungslager ist zu klein, da können sich er und die etwa 50 Sozialarbeiter von „La vie active“ noch so anstrengen. Das Lager soll 1500 Menschen versorgen können, derzeit holen sich etwa 2300 Menschen täglich ab 17 Uhr eine warme Mahlzeit.

Schon eine Stunde vorher stellen sich die Menschen in der Schlange an, am Ende erstreckt sie sich über mehrere hundert Meter. Es gibt Hähnchenstücke mit Kartoffeln, die Menschen packen ihre Ration in Plastiktüten und tragen sie weg.

Zu ihrer Bretterbunde im „Dschungel“, ihrer Heimat mitten in Europa.

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