20. April 2015 · Kommentare deaktiviert für „Verlieren wir die Verbindung, hoffen wir“ · Kategorien: Alarm Phone · Tags:

20 Minuten | Schweiz

Watch the Med ist eine Notrufhotline für Flüchtlinge in Seenot. Simon Sontowski steht im Team Zürich in Ausbildung. Er spricht über Wut, Angst und tiefe Überzeugung.

In der Nacht auf Sonntag sind bis zu 900 Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Italien ertrunken. Sie waren an Bord eines Kutters, der kenterte, als sich ein Frachtschiff näherte, um Hilfe zu leisten. Nur 28 Menschen überlebten. Man spricht von der grössten Flüchtlings-Schiffskatastrophe in der neueren Geschichte des Mittelmeers.

Herr Sontowski, Sie stehen derzeit in Ausbildung bei der neu gegründeten Notrufhotline Watch the Med (siehe Box), wie haben Sie die letzten Tage erlebt?

Simon Sontowski: Es war der Wahnsinn. Wir standen letzte Woche mit rund 20 Schiffen im Kontakt. Das ist verhältnismässig viel. Von Oktober bis Mitte März bekamen wir insgesamt rund 30 Anrufe. Man teilte uns mit, dass alle Personen auf den Booten, mit denen wir zu tun hatten, aufgegriffen und sicher nach Italien gebracht worden waren. Das war ein riesige Erleichterung. Schliesslich kam dann aber die Nachricht, dass dennoch 400 Menschen auf anderen Booten ertrunken sind. Auch da dachte ich noch, dass sind im Verhältnis wenig. Schliesslich hatten sich 10’000 Flüchtlinge auf den Weg gemacht. Die Hiobsbotschaft von letzter Nacht hat uns dann aber erschüttert.

Was passiert mit Ihnen, wenn Sie von so vielen Toten hören?

Es stellt sich ein Ohnmachtsgefühl ein. Man fühlt sich hilflos. Aber vor allem entwickelt sich eine Wut gegenüber der Ignoranz der europäischen Regierungen. Die Einstellung von Mare Nostrum – einer Operation der italienischen Marine und Küstenwache zur Seenotrettung von Flüchtlingen – wurde damit begründet, dass diese nur noch mehr Menschen anlocken würde. Das ist Quatsch. Nur weil es diese Rettungsschiffe nicht mehr gibt, denken die Leute nicht: «Ah, dann bleib ich hier in Libyen mitten im Bürgerkrieg.» Es wird so getan, als hätte die EU kein Geld, was in Anbetracht dessen, was entlang Europas Grenzen passiert, absolut absurd ist. Das ist kein Naturphänomen und auch keine Abenteuerlust. Diese Menschen haben schlicht keine andere Wahl.

Was wären denn Ihre konkreten Forderungen?

Ich denke, man müsste hier zeitlich gestaffelt vorgehen. Als Erstes braucht es die Wiederaufnahme einer grossangelegten Rettungsaktion, eine von den Schengen-Staaten finanzierte Operation. Zudem muss eine sichere und direkte Fährverbindung eingerichtet werden. Und schliesslich muss die Visumspolitik geändert werden oder zumindest das Botschaftsasyl wieder eingeführt werden, das die Schweiz erst 2013 abgeschafft hat. Für die meisten Flüchtlinge ist es heutzutage praktisch unmöglich, auf legalem Weg nach Europa einzureisen. Ihnen bleibt nur dieser gefährliche Weg über das Meer. Um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können, müssen sie das Schengen-Territorium erreichen. Das ist für sie dermassen gefährlich, dass man aus meiner Sicht gar nicht mehr von einem Recht auf Asyl sprechen kann.

Flüchtlinge haben dank Watch the Med eine neue, zusätzliche Möglichkeit, einen Notruf abzusetzen. Bald werden auch Sie diese entgegennehmen. Wie läuft ein solches Gespräch ab?

Ich stelle zunächst alle zur Rettung notwendigen Fragen: Wie ist die Situation? Hat es Wasser im Boot? Geht ihnen der Sprit aus? Haben sie Nahrung oder Flüssigkeit? Hat es Kinder und schwangere Frauen an Bord? Für uns sind vor allem die GPS-Koordinaten des Schiffs wichtig. Diese können uns die Flüchtlinge via Satellitentelefon wie ein SMS zusenden. Ich rufe diese dann auf einer Karte auf und überprüfe, in welcher nationalen Rettungszone sich das Boot befindet. Dann finde ich heraus, ob Handelsschiffe, Frachter oder Container in der Nähe sind, die die Flüchtlinge an Bord nehmen könnten. Schliesslich kontaktiere ich die zuständige Küstenwache und übergebe den Fall quasi an sie.

Die Küstenwache übernimmt also den Fall. Was tun Sie in der Zwischenzeit? Kauen Sie sich die Fingernägel blutig?

Ja, das kann vorkommen. Wir versuchen natürlich, mit den Flüchtlingen an Bord in Kontakt zu bleiben – bis sie uns bestätigen, dass sie in Sicherheit sind. Grundsätzlich können wir die Satellitentelefone an Bord mit Geld auffüllen, doch dies gelingt nicht immer. Wenn wir die Verbindung verlieren, sitzen wir da und warten und hoffen. Das kann äusserst zermürbend sein.

Wieso wollen Sie bei dieser Notrufhotline arbeiten?

Weil ich etwas Konkretes tun kann. Watch the Med ist eine echte Hilfestellung für eine politische und menschliche Tragödie. Dass es schrecklich ist, dass so viele Menschen jedes Jahr sterben, darin ist man sich einig, aber die Worte «uns sind die Hände gebunden» oder «was will man da tun?» fallen zu oft in diesem Zusammenhang. Und das stimmt einfach nicht. Natürlich können wir nicht alle retten, das ist auch nicht unsere Aufgabe. Aber wir können helfen, dieses Drama etwas zu mindern, und wir wollen mit diesem Projekt auch darauf aufmerksam machen, dass dies eigentlich nicht unsere Aufgabe wäre – sondern die der EU.

Sie haben vorher von Wut gesprochen. Wut auf die Politik. Ist das auch ein Ansporn?

Ja, es motiviert mich. Ich kann helfen und gleichzeitig auch sagen: Wir wären eigentlich froh, wenn wir nicht gebraucht würden.

Wenn jemand bei Watch the Med das Telefon abnimmt, kann es sein, dass der Flüchtling, der sich meldet, wenige Stunden später nicht mehr am Leben ist. Haben Sie keine Angst vor dieser Belastung?

Doch, natürlich. Ich fürchte mich schon und habe sehr viel Respekt davor. Aber ich merke bei meinen Kollegen, dass sich auch hier eine gewisse Routine und gesunde Distanz entwickelt. Die Überzeugung vom Sinn dieser Arbeit ist stärker als die Furcht. Ausserdem bin ich mir bewusst, dass wir eine zusätzliche Dienstleistung anbieten. Wir sind nicht die Profis. Dafür gibt es Helfer, Ärzte und die Küstenwache. Wir sind lediglich ein kleines Glied an einer grossen Kette, das die Tragik ein bisschen entschärft. Es wird auch dieses Jahr noch viele Tragödien geben.

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