07. April 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die wenigsten kommen nach Lampedusa“ – NZZ · Kategorien: Hintergrund · Tags: ,

NZZ

David Signer

„Die meisten Flüchtlinge gehen nicht nach Europa, sondern fliehen in eine andere Region ihrer Heimat oder finden in einem Nachbarland Unterschlupf. Oft sind es sehr arme Länder, die die Hauptlast des Flüchtlingsproblems zu tragen haben.

Oft wird angesichts des Dramas vor Lampedusa oder angesichts der Asylsuchenden hierzulande gefragt, warum denn alle diese Fremden ausgerechnet nach Europa oder in die Schweiz kommen müssten. Warum suchen sie nicht in den Nachbarländern Schutz? So lautet die kritische oder polemische Frage. Ein Vergleich von internationalen Zahlen zeigt jedoch in der Tat, dass der weitaus grösste Teil der Flüchtlinge lediglich in einen andern Teil des Heimatlandes oder in ein sichereres Gebiet in der Nähe der Grenze flieht.

Zerreissprobe in Libanon

Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) gab es Mitte 2014 mehr als 51 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. So viele Menschen waren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nie mehr auf der Flucht. Rund 33 Millionen von ihnen sind «intern Vertriebene», das heisst, sie leben immer noch in ihrem eigenen Land. Fast 17 Millionen sind in einen anderen Staat geflüchtet. Etwas mehr als eine Million hat Asyl in einem anderen Land beantragt. 600 000 von ihnen haben im letzten Jahr einen Asylantrag in Europa gestellt, 24 000 in der Schweiz. Von ihnen erhielten 6199 Asyl, 7924 wurden vorläufig angenommen. Das macht insgesamt über 14 000. Das ist einerseits die höchste Zahl der letzten paar Jahre. Andererseits: Vergleicht man die Zahl mit den 51 Millionen Flüchtlingen, so hat die Schweiz im letzten Jahr 0,0003 Prozent von ihnen aufgenommen. In absoluten Zahlen beherbergt die Schweiz 57 700 Flüchtlinge , das ist weniger als 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Verglichen mit der Last, die die meist armen Nachbarländer von Kriegsnationen tragen müssen, ist das recht wenig.

weltweit

Weltweit am meisten Flüchtlinge nimmt laut dem Bericht «UNHCR Midyear Trends 2014» Pakistan auf (1,6 Millionen), danach folgt Libanon (1,1 Millionen). Das bedeutet, dass im kleinen Land Libanon jeder Vierte ein Flüchtling ist (vor allem aus dem benachbarten Bürgerkriegsland Syrien); hinzu kommen noch fast eine halbe Million Palästinenser, die seit Jahrzehnten in Libanon leben. Dies setzt das sowieso schon von religiösen und politischen Spannungen zerrissene Land enormem Druck aus. Iran beherbergt 980 000 Flüchtlinge, die Türkei 824 000, Jordanien 736 600, Äthiopien 588 000 und Kenya (mit dem weltgrössten Lager Dadaab , für somalische Flüchtlinge) 537 000.

In relativen Zahlen folgen auf Libanon das ebenfalls an Syrien grenzende Land Jordanien (mit 11 Prozent Flüchtlingen) und Tschad (mit 3,9 Prozent). Von den Industrieländern liegt – abgesehen vom winzigen Malta – lediglich Schweden unter den ersten zehn (mit 1,2 Prozent). Der Anteil der Flüchtlinge an der Schweizer Bevölkerung beträgt 0,7 Prozent.

Paradebeispiel Tschad

Der Fall von Tschad ist besonders prekär. Das Land beherbergt 454 000 Flüchtlinge, gehört selbst jedoch zu den ärmsten der Welt. 80 Prozent der Tschader leben in absoluter Armut, das heisst, sie müssen mit weniger als 1 Dollar 25 pro Tag auskommen. Die Bevölkerung kann praktisch nur durch Subsistenzlandwirtschaft überleben. Aber die Wüste breitet sich aus, der Tschadsee schrumpft, und Wasser wird knapp. Auf dem Human-Development-Index liegt der Wüstenstaat auf dem 184. Platz – das ist der drittletzte. Etwa die Hälfte der Einwohner sind Analphabeten. Es gibt gerade einen Arzt auf 23 000 Personen, die Kindersterblichkeit liegt bei 20 Prozent, die Müttersterblichkeit bei 1 Prozent. 1966 brach der erste Bürgerkrieg im Land aus, und seither kam Tschad kaum je zur Ruhe. Erst seit fünf Jahren herrscht halbwegs Frieden. Das Land ist mehr als doppelt so gross wie Frankreich, verfügt aber nur über 11 Millionen Einwohner. Das sind im Schnitt gerade einmal neun Menschen pro Quadratkilometer.

Während es lange Zeit in erster Linie Flüchtlinge im Gefolge des Darfur-Konflikts im Sudan waren, die in Tschad Sicherheit suchten, sind es in der jüngeren Vergangenheit vor allem auch Staatsbürger aus der Republik Zentralafrika, dem Südsudan und aus Nordnigeria.

Rundum Konflikte

In Zentralafrika kam es 2013 zu einem Umsturz. Die Banden des neuen Präsidenten Djotodia, die sogenannten Seleka-Rebellen, terrorisierten die Christen des Landes, bis diese ebenfalls zu den Waffen griffen, sich fortan Anti-Balaka nannten und die Muslime verfolgten. Djotodia musste bald schon selber das Feld räumen, aber zur Ruhe gekommen ist das Land trotz der Präsenz von französischen und afrikanischen Truppen nicht. Eine Million Menschen, etwa ein Fünftel der Bevölkerung, ist auf der Flucht.

Im Südsudan, dem jüngsten Staat des Kontinents, tobt ein Kampf zwischen dem Präsidenten Salva Kiir (und seinen Anhängern vom Volk der Dinka) und seinem ehemaligen Stellvertreter Riek Machar (und seinen Nuer-Anhängern).

In Nordnigeria ist der Terror der jihadistischen Gruppe Boko Haram immer blutiger geworden. Viele Nigerianer versuchten Unterschlupf in Tschad zu finden. Nun unterstützt das Land Nigeria im militärischen Kampf gegen Boko Haram und wird selber zur Zielscheibe von Angriffen.

Schliesslich grenzt auch noch das zerfallende Libyen an Tschad. Dort bahnt sich bereits das nächste Flüchtlingsdrama an.
Folgen für innere Stabilität

Die Tatsache, dass ein Land an einen kriegs- und krisengeschüttelten Nachbarn grenzt, erhöht das Risiko von gewaltsamen Konflikten im Innern enorm. Durch einen massiven Zustrom von Flüchtlingen kann diese Gefahr noch potenziert werden. Das Paradebeispiel dafür ist Kongo-Kinshasa. Nach dem Genozid an den Tutsi im Nachbarland Rwanda im Jahr 1994 flüchteten etwa eine Million Hutu aus Angst vor Rache in den Osten von Kongo, bewaffneten sich dort zum Teil und bedrohten Rwanda, das schliesslich einmarschierte. Eine totale Destabilisierung der Region war die Folge, die immer noch nicht ganz ausgestanden ist.

Es ist eine traurige Ironie der Geschichte, die in den ganzen Migrations- und Asyldebatten oft vergessen geht, dass gerade die ärmsten und instabilsten Länder oft die grösste Flüchtlingslast zu tragen haben.“

Kommentare geschlossen.