26. November 2017 · Kommentare deaktiviert für „Von Libyen nach Europa: Menschen, die durch die Hölle fliehen“ · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: ,

ntv | 26..11.2017

Die Chance schrumpft, auf eines der Schlauchboote nach Europa zu kommen. Die Gefahr wächst, in Libyen Sklaverei, Folter oder Vergewaltigung zum Opfer zu fallen. Einige Menschen riskieren es trotzdem.

Von Issio Ehrich

Für seinen ersten Fluchtversuch büßte Hakims* Familie in Marokko. Das Telefon klingelte, ein Libyer war dran. Der Mann sagte, Hakim habe es nicht nach Europa geschafft. Er sei jetzt in seiner Hand. 1000 Dollar, sonst werde der Junge leiden. Hakims Familie überwies.

Für seinen zweiten Fluchtversuch musste Hakim um sein Leben fürchten. Der 29-Jährige wollte nicht, dass seine Familie ihn wieder freikauft. Hakim rannte. Die Libyer schossen. Projektile pfiffen ihm um die Ohren, schlugen vor seinen Füßen ein. Mit Glück kam Hakim davon.

Für seinen dritten Fluchtversuch blutete er. Die Männer, die Hakim fassten, rissen ihm den Mund auf, weit genug, um ein Messer hineinzuschieben. Sie ritzten ihm den Gaumen auf, die Innenseiten der Wangen, die Zunge.

Der Weg von Libyen nach Europa war schon immer riskant. Das Mittelmeer ist die tödlichste Grenze der Welt. Die Lage ist noch dramatischer geworden, seit die Europäische Union im Kampf gegen illegale Migration mit der libyschen Regierung zusammenarbeitet und Millionen Euro nach Tripolis fließen. Sicherheitskräfte, Milizen und Gangs versuchen Flüchtlinge zu schnappen, bevor sie in ein Schlauchboot steigen. Nicht nur, um Lösegeld von Angehörigen zu erpressen, sondern nun auch, um direkt oder indirekt Geld aus Brüssel zu ergattern.

Den wenigen Migranten, die es trotzdem aufs Meer schaffen, stellt die libysche Küstenwache nach, um sie zurück an Land zu bringen. Dort drohen ihnen erbärmliche Zustände in Haftlagern, Folter, sexuelle Gewalt und Sklaverei. Das belegen nicht nur Geschichten wie die von Hakim. Das dokumentieren auch mehrere Berichte des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR).

Die Zahl der Menschen, die es von Libyen nach Italien schaffte, sank von gut 23.000 im Juni auf kaum 6000 im Oktober. Doch von Null ist sie noch immer weit entfernt. Wie kann das sein? Wer setzt sich diesem Risiko noch aus? Und warum?

Hakims Traum

Anfang November, rund 30 Seemeilen vor der Küste Libyens, Hakims vierter Fluchtversuch. Eben hockte er noch verängstigt in einem Schlauchboot. Jetzt sitzt er, eingewickelt in Aluminiumfolie, auf dem Flugdeck der deutschen Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“. Das Schiff der Marine war schneller als die libysche Küstenwache. Hakim ist in Sicherheit und zusammen mit rund 300 anderen Flüchtlingen auf dem Weg nach Italien.

„Willst du sehen, was sie mir in Libyen angetan haben?“, fragt er. Hakim öffnet seinen Mund. Das Messer, mit dem ihn die Männer auf dem Festland malträtiert haben, hat ein halbes Dutzend Narben hinterlassen. „Die Libyer sind alle Gangster!“, sagt er.

Warum dann das Risiko eingehen, diesen „Gangstern“ in die Hände zu fallen? Vier Mal, obwohl in Marokko weder Krieg herrscht noch der Hungertod droht? Was in Libyen nach dem Sturz des einstigen Machthabers Muammar al-Gaddafi geschah, ist schließlich kein Geheimnis. Die Diktatur verwandelte sich in ein Regime des Chaos. Und in eine Hölle für Migranten.

„Ich habe einen Traum“, sagt Hakim. „Ich will einen Job, eine Frau und Kinder.“ Für einen Kfz-Mechaniker wie ihn gebe es in Marokko nun mal keine Arbeit.

Wie Hakim antworten viele auf die Frage, warum sie sich dieser Gefahr aussetzen, vor allem viele Nordafrikaner. Junge Männer mit anständiger Ausbildung berichten von Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat. Aber auch von dreisten Lügen der Schlepper. Einige bereuen ihre Entscheidung. Auch noch, als sie längst in Sicherheit sind. Falsche Vorstellungen von der Situation in Libyen sind ein Grund, den Staat weiterhin als Transit zu nutzen. Aber es gibt noch ganz andere.

Henry und der nette Mann

Henrys Füße sind vernarbt. Nicht wie bei vielen Männern und Frauen an Bord an den Sohlen, sondern auf den Fußrücken. „Sie haben mich geprügelt“, sagt Henry. „Ein Jahr lang, mit Eisenstangen.“ Henrys Geschichte ist keine Geschichte vom Traum von einem besseren Leben. Der 17-Jährige aus Nigeria hat sich Libyen nicht als Station einer Reise nach Europa ausgesucht. Er wollte gar nicht fliehen, er hatte keine Wahl, vielleicht noch nie in seinem Leben.

Als Henry zehn Jahre alt war, starb seine Mutter. Sein Vater schaffte es nicht, die Familie alleine zu versorgen, er schickte ihn mit einem Onkel nach Algerien, um dort zu arbeiten. Das tat Henry, bis ihn sein Onkel zu „einem Freund“ nach Libyen schickte, wo höhere Löhne lockten. Der „Freund“ verkaufte Henry an Araber, die ihn als Elektriker an einem Bohrloch schuften ließen. Für 5000 Dinar, rund 3000 Euro im Jahr. Dass er damit Glück hatte, sollte er erst später erfahren.

In Tripolis fiel Henry den „Asma Boys“ in die Hände, bewaffneten Gangs, die aus der Recht- und Schutzlosigkeit von Migranten ein Geschäftsmodell entwickelt haben. Statt Lohn für Arbeit kassierte Henry Schläge, wenn er nicht schuftete. Und damit er nicht auf die Idee kam, wegzurennen, sperrten sie ihn die übrige Zeit mit anderen Sklavenarbeitern ein.

Er wäre so wohl zugrunde gegangen, wenn er nicht auf „den netten Mann“ gestoßen wäre. „Die Asma Boys brachten mich zu einem Job bei einem Soldaten“, erzählt Henry. Als der ihn fragte, was aus ihm werden solle, erzählte Henry seine Geschichte und sagte: „Ich würde gern Fußballprofi werden.“

Henry kehrte nicht zu den „Asma Boys“ zurück. Der Soldat nutzte seinen Einfluss beim Militär, heuerte einen Schlepper an und ließ Henry in ein Schlauchboot nach Norden setzen.

Ein Lager als Heimat

Karim seufzt, als er sein Porträt auf dem Display der Kamera sieht. Die Haltung gekrümmt, die Augen müde. „Ich sehe aus wie ein alter Mann“, sagt er. Der 34-Jährige setzt sich wieder auf die Yoga-Matte, die er für die Fahrt nach Italien bekommen hat, und erzählt seine Geschichte. Wer ihm zuhört, bekommt das Gefühl, dass er nicht erst in Libyen derart gealtert ist.

„Ich hatte Glück“, sagt Karim über die sechs Monate, die er in dem Land verbracht hat. „Niemand hat mich geschlagen oder eingesperrt. Ich habe mich in einem Haus versteckt und darauf gewartet, dass ich in ein Schlauchboot steigen kann.“ Karim beschreibt einen Zustand, der sich gar nicht so sehr von seinem früheren Leben unterscheidet. Auch da war seine Devise: bloß nicht auffallen.

Karim bezeichnet sich selbst als Palästinenser, doch schon sein Großvater ist wegen des Konflikts mit Israel in den Libanon ausgewandert. Karim ist in Ain al-Hilweh aufgewachsen, dem größten palästinensischen Flüchtlingslager. „Der Libanon ist ein wundervolles Land“, sagt Karim, „aber nur für Libanesen“.

Das Leben im Lager beschreibt er als eines, das vor allem fremdbestimmt war. Nicht nur, weil er keine Arbeitserlaubnis hatte. „Ich bin auch ein Moslem“, sagt Karim. „Aber in Ain al-Hilweh sind alle Al-Kaida.“ Karim schüttelt den Kopf. „Ich will ein ganz normales Leben führen, aber dafür bringen sie mich dort um.“ Das Ziel Europa vor Augen, floh Karim erst in den Sudan, dann nach Libyen. „Ich will an einem Ort leben, in dem Religion nicht alles ist.“

Für Marcus führt kein Weg zurück

Die Fregatte mit Hakim, Henry und Karim an Bord legt im Hafen des italienischen Tarent an. Die jungen Männer sind erschöpft, aber gelassen. Viel gelassener als Marcus. Der 51-Jährige aus Ghana blickt vom Flugdeck auf die Pier. Einer der Männer dort unten trägt einen Pullover voller italienischer Wörter. Marcus kann nur eines entziffern: „Nero“. „Ist das die Schwarzen-Polizei?“, fragt er.

Zur weit verbreiteten Willkür und Menschenverachtung in Libyen kommt, das lassen die Berichte Betroffener erahnen, Rassismus insbesondere gegen Schwarze hinzu. Oft ist zu hören, dass Männer und Frauen, die nicht arabisch aussehen, wie Tiere behandelt, gejagt und besonders gequält werden. Nur wenige an Bord der deutschen Fregatte dürften der Hölle Libyens so lange ausgesetzt gewesen sein wie Marcus.

Marcus kam 2013 in das Land. Libyen hatte damals noch den Ruf, eine Chance für Arbeitswillige aus Westafrika zu sein. Fachkräfte fehlten und die Löhne waren verhältnismäßig hoch. Marcus sah eine Chance, seine Frau und fünf Kinder in der Heimat zu ernähren.

Anfangs ging der Plan auf, die 800 US-Dollar für den Schlepper waren als Truck-Fahrer schnell finanziert. Doch im Sommer 2014 veränderte sich alles, sagt Marcus. „Die Libyer haben keinen Respekt vor Ausländern. Damals fingen sie an, uns auszurauben.“ Den Lohn, der ihm zustand, bekam er immer seltener. Und immer häufiger zückten seine Auftraggeber drohend ihre Waffe, wenn er sich beschwerte. Marcus eilte trotzdem nicht zu Frau und Kindern nach Ghana.“Ich konnte nicht zurück“, sagt er.

Dem UNHCR zufolge finden sich Menschen, die sich in die Hände von Schleusern begeben, mitunter in einer wirtschaftlichen und physischen Zwangssituation wieder, in der sie nicht mehr selbst über den weiteren Weg entscheiden können. Auch das dürfte ein Grund dafür sein, dass noch immer Flüchtlinge auf der Libyen-Route unterwegs sind. Doch Marcus‘ Geschichte klingt noch dramatischer. Er wollte ursprünglich ja gar nicht nach Europa. Marcus beschreibt Libyen als gewaltiges Gefängnis für Arbeitskräfte aus dem Ausland – auch für jene, die wie er schon Jahre dort leben. Libyer würden Westafrikanern mittlerweile nicht nur den Weg nach Europa versperren, sondern auch die Rückkehr in ihre Heimat. „Den Libyern fällt es immer schwerer, Fachkräfte zu finden“, sagt Marcus. „Sie lassen Leute, die arbeiten können, nicht mehr gehen – egal wohin.“

Marcus traf eine Entscheidung. Wenn schon das Leben riskieren, um aus Libyen rauszukommen, dann zumindest für Europa. So gäbe es zumindest eine Chance, wieder genug Geld für die Familie in Ghana zu verdienen.

Bei Marcus‘ erstem Fluchtversuch fassten ihn die Behörden und stopften ihn in eine Zelle mit 30 anderen Männern. Er erinnert sich noch daran, wie feucht die Luft in dem Verlies war. Und wie anfangs nur einer, später immer mehr Männer darin husteten. Mit 2500 Dinar, rund 1500 Euro, erkaufte er sich die Freiheit. Sofern für ihn in Libyen von „Freiheit“ die Rede gewesen sein kann.

Bei seinem zweiten Versuch schnappten ihn die „Asma Boys“ und raubten ihn aus. Das Schlauchboot erreichte er nicht. Vor seinem dritten Versuch versteckte Marcus sich 18 Tage lang in einem Busch, einen eineinhalbstündigen Fußmarsch von der Ablegestelle entfernt – ohne Licht und Strom. Dieses mal hatte er Glück. Er schaffte es erst ins Schlauchboot und dann an Bord der deutschen Fregatte.

Im Hafen von Tarent in Italien verlässt ein Flüchtling nach dem anderen das Schiff. Die hiesigen Behörden heften ihnen eine Nummer an, fotografieren sie und führen sie davon. Kurz bevor Marcus von Bord geht, denkt er an seine Frau und Kinder. Seit 2013 hat er sie nicht mehr in den Arm genommen. Und er weiß, dass er vielleicht noch viele Jahre darauf warten muss. Sollten sie die Libyen-Route wagen? Marcus antwortet hastig, aufgeregt. „Nein, nein, nein!“ Als würde schon der Gedanke daran Leid über seine Liebsten bringen.

*Die Redaktion hat die Namen aller Flüchtlinge in dieser Reportage verfremdet.

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