01. November 2017 · Kommentare deaktiviert für Flucht aus Marokko: „Manche enden als Futter für die Haie“ · Kategorien: Marokko · Tags: , ,

Spiegel Online | 01.11.2017

Es begann mit einem toten Schwertfisch – und eskaliert nun in Straßenschlachten. Ein Aufstand erschüttert eine von Marokkos ärmsten Regionen. Eine Folge: Immer mehr Menschen flüchten nach Spanien.

Aus Al Hoceima, Marokko berichtet Saeed Kamali Dehghan, „The Guardian“

Es ist fast ein wenig kitschig. Ein riesiger Regenbogen spannt sich über dem Mittelmeer, sein Endpunkt trifft den Mohammed-VI-Platz in Al Hoceima, einer Küstenstadt im Norden Marokkos.

Am Boden geht es weit weniger farbenfroh zu. Polizisten in Kampfausrüstung bewachen seit Tagen den Platz. Die Behörden fürchten Ausschreitungen rund um den ersten Todestag von Mouhcine Fikri, einem Fischhändler hier aus dem Ort.

Fikri war zerquetscht worden, als er versuchte hatte, einen Schwertfisch aus einem Müllwagen zu ziehen. Das Tier war außerhalb der Saison erlegt worden – und die Polizei hatte es konfisziert und vor Fikris Augen im Müll entsorgt. Dessen Sprung in den Laster war ein tödlicher Fehler.

Aus der Tragödie erwuchs die Hirak ash-Shaabi-Bewegung, eine landesweite Protestwelle. Seit dem Arabischen Frühling 2011 hat das Königshaus keine derartige Herausforderung mehr erlebt. Und weil König Mohammed an einer Wiederholung der Zustände von vor sechs Jahren nicht das geringste Interesse hegt, reagieren die Behörden schnell und hart. Die Anführer des Widerstands werden festgenommen, Journalisten festgesetzt und Demonstranten verprügelt. Die Repressalien, so sagen es viele hier, machen das Leben in der ohnehin schon verarmten Rif-Region unerträglich.

Eine Folge: Massenhaft machen sich Verfolgte – aber auch jene, die schon lange mit dem Gedanken spielen – auf die gefährliche Flucht in Richtung Spanien. Im August etwa wurden rund 600 Menschen vor der Küste von Tarifa aus dem Wasser gezogen – an einem Tag.

Diese Entwicklung wird in Europa sehr genau verfolgt. Nach Italien gelangen derzeit nur noch wenige Flüchtlinge per Boot. Auch die Balkanroute bleibt für die allermeisten Menschen unpassierbar. Da wäre eine neue Transitstrecke im Westen des Kontinents durchaus ein Problem.

El Mortada Iamrachen ist 30 Jahre alt, ein ehemaliger Imam in der hiesigen Moschee – und eines der Gesichter des Widerstands. Im Juni steckten ihn die Behörden für seine Beteiligung an Protesten ins Gefängnis der Hauptstadt Rabat. Sein Vater, so erzählt es Iamrachen, sei am Kummer über das Schicksal des Sohnes gestorben.

„Die Stadt Al Hoceima befindet sich in einem Dauerzustand aus Wut und Traurigkeit. Arbeitslosigkeit, Armut, Drogen, Abwanderung und Verhaftungen haben dazu beigetragen“, sagt er während eines Gesprächs im Ortskern: „Unsere Familien leiden. Wenn wir rausgehen, wissen sie nicht, ob wir zurückkommen oder im Gefängnis landen.“

Nach dem unerwarteten Tod des Vaters konnte Iamrachen das Gefängnis wieder verlassen. Bis zu 400 weitere Personen – unter ihnen der Anführer der Proteste Nasser Zefzafi – bleiben dagegen in Haft. Die meisten sitzen im Oukacha-Gefängnis von Casablanca, manche sind in Hungerstreik getreten.

Keine Hoffnung mehr in Marokko

So wie der Bruder von Naoufal El Moutaoukil, er befindet sich seit Juni in Haft. Fälle wie seiner treiben die Menschen in die Flucht, glaubt Naoufal El Moutaoukil. „Auswandern erscheint vielen als die einzige Lösung. Egal, wie gefährlich das sein kann.“ Die Überquerung der Straße von Gibraltar sei höchst riskant: „Aber Europa verheißt so viel Hoffnung, dass manche auch den Tod in Kauf nehmen würden. Manche enden als Futter für die Haie. Trotzdem machen sich die Menschen auf den Weg. Weil sie in Marokko keine Hoffnung mehr haben.“

In Spanien hat der „Guardian“ in den Städten Algeciras und Tarifa Flüchtlinge aus Hoceima getroffen, die so ihrer Verfolgung durch die Behörden entkommen waren. Zwei Brüder, 19 und 28 Jahre, sowie ihr Cousin, 21, waren unter denen, die im August gerettet wurden. Sie hatten sich mit dem Jetski aus Plage Souani unweit von Hoceima aufgemacht, 180 Kilometer auf dem Wasser lagen vor ihnen. Am Ende wurden sie aus dem Mittelmeer gefischt.

Warum das Ganze? „Die marokkanische Polizei hat uns bei den Demos verprügelt. Ich habe immer noch Narben an meinen Händen. Neben der Gewalt sind wir auch wegen der Arbeit nach Spanien gekommen. Es gibt keine Jobs in Hoceima“, sagt einer von ihnen.

Der „Guardian“-Reporter wird auf offener Straße mitgenommen

Wie angespannt die lokalen Behörden tatsächlich sind, musste der Autor dieser Zeilen am eigenen Leib erfahren. Mitten in einem Interview wird er von Zivilpolizisten unterbrochen und mitgenommen. Nach einer neunstündigen Autofahrt, bewacht von drei Polizisten, wartet in Casablanca bereits das Flugzeug zurück nach London. Als lokaler Pressevertreter hätten wohl noch deutlich härtere Repressalien gedroht. Mindestens drei Journalisten sitzen wegen ihrer Berichte über die Lage in der Region im Gefängnis, immer wieder gibt es Deportationen. „Marokko erlebt eine dramatische Beschränkung der Pressefreiheit“, sagt Sherif Mansour vom Komitee zum Schutz von Journalisten.

Von höchster Stelle werden die Probleme kleingeredet. In einer Ansprache im Juni erwähnte König Mohammed die Zustände in der Region erstmals öffentlich – beklagte sich aber vor allem über die schleppende wirtschaftliche Entwicklung. Immerhin: Ende Juli begnadigte er 42 Mitglieder der Hirak-Bewegung, die Anführer sitzen jedoch weiter hinter Gittern. Einer der Freigelassenen will sich äußern, aber nur ohne Namen: „Das Problem ist der König. Die Leute reden über ihn, aber die meisten haben Angst vor klaren Worten. Er ist das wahre Übel dieses Landes.“

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The Guardian | 01.11.2017

„Morocco’s gag on dissent in Rif region fuels exodus to Europe“

Crackdown on Hirak movement protests has contributed to threefold increase in attempts to cross western Mediterranean

In Hoceima’s Mohammed VI Square – the scene of year-long unrest in this clifftop city in northern Morocco – a giant rainbow can be seen in the sky above the Mediterranean.

On the ground, however, the lives of the ethnic Amazigh people in the impoverished Rif region are less colourful. Officers in riot gear pack the square in preparation for protests around the anniversary this week of the death of a local fishmonger, Mouhcine Fikri.

Fikri was crushed to death in the back of a rubbish truck in 2016 as he tried to retrieve his catch, which had been confiscated and binned by the police. The truck’s mechanical crusher killed him in a street close to the square, sparking a popular uprising that spread nationwide.

It gave impetus to the Hirak ash-Shaabi, a protest movement that presented the biggest challenge to authorities since the 2011 Arab spring, when the king offered concessions in the hope of curbing dissent. Morocco has responded by arresting Hirak’s leaders, jailing journalists and brutally cracking down on protesters.

It has also led to an exodus of persecuted Rifians and unemployed young people, many of whom have been attempting to reach Europe. This summer, the number of refugees and migrants risking the journey between Morocco and Spain rose sharply. In August, nearly 600 people were rescued off the coast of Tarifa in one day.

According to the latest figures released by Frontex, the EU’s border agency, “in the first eight months of the year, the number of migrants crossing into Spain [mainly from Morocco across the strait of Gibraltar] stood at an estimated 13,600, nearly three times the figure from the same period of 2016”.

European officials are watching developments with interest. After successfully staunching a stream of immigration through the central Mediterranean via Italy and through the eastern Mediterranean via Greece, Brussels does not want a new influx to open up to the west.

Morocco is already host to one of the long-term immigration flashpoints on Europe’s southern flanks – the heavily fortified enclaves of Ceuta and Melilla, which have become ever harder for Africans to access.

Now the situation in Rif risks encouraging a new wave of young, marginalised Moroccans to head north.

El Mortada Iamrachen, a 30-year-old former imam of the local mosque and prominent activist, was jailed in June because of his support for Hirak. He said his father was so shocked that he died on the same day his son was taken to jail in the capital, Rabat.

“The city of Hoceima lives in a state of sadness and anger – unemployment, lack of financial resources, drugs, secret immigration and arrests have all contributed to this catastrophic situation,” he said in an interview in the city. “Our families suffer and when we go out, they do not know whether we will return home or go to jail.”

The sudden death of Iamrachen’s father meant the authorities felt compelled to release him, but many – including the protest leader, Nasser Zefzafi, remain behind bars. At least 400 people are believed to be in prison in connection with Hirak, most of them in Ouchaka jail in Casablanca. Some have gone on hunger strike.

The movement began after Zefzafi called for protests over Fikri’s death. Mohammed VI Square became a frequent scene of protests, including on 18 May when the citizens of Hoceima staged their biggest demonstration, chanting for “freedom, dignity, social justice”.

The crackdown began in late May with a series of arrests. The protest on 20 July in the square was disrupted by riot police wielding batons and using teargas. Imad el-Attabi, a 22-year-old who was injured that day, died early the next month. Since then sporadic protests have taken place in other cities in the Rif region and protesters are organising demonstrations for the anniversary of Fikri’s death this week.

Nawal Ben Aissa, a 36-year-old Amazigh and mother of four children whom the Guardian met in Hoceima, said Hirak was the first time she had gone out to protest in her lifetime.

“Hirak is for a good future, for being able to live, to have work, a hospital for cancer, a university. We went out demonstrating to ask for these things,” she said.

The nearest university is in Oujda near the Algerian border, about 160 miles (260km) away. Those with cancer need to make a 12-hour journey by bus to go to Casablanca for treatment – not many can afford a plane ticket.

“People prefer to go to Spain – to go to Europe – because there’s no work here,” Ben Aissa said.

She was arrested twice in June and again in September and is now waiting for her trial. “I’m accused of livestreaming the demonstrations on Facebook, inviting others to come out,” she said. “I have no fear because I am demanding my rights, but my father and my mother are afraid. They cry.”

Naoufal el-Moutaoukil, whose brother Ilyas has been in jail since June, said the repressive measures in Hoceima were forcing many to flee.

“Emigrating remains the only option, which involves a great deal of risk,” he said. “Crossing [the] strait of Gibraltar is not a game … There are some who arrive in Spain and there are some who die. They leave their country because they have no future in Morocco.”

The Guardian met refugees in the Spanish cities of Algeciras and Tarifa who had fled persecution in Hoceima earlier in the summer. Two brothers, 28 and 19, and their two cousins, both 21, were among those rescued from the Mediterranean in August. They arrived by jetski from Plage Souani, having travelled roughly 110 miles (180km) across the sea.

“It was four of us on a jetski. It took us six hours to come from Hoceima to Motril,” said one of the four Rifians, who were seeking asylum in Spain. “The Moroccan riot police beat us up during the protests. I have marks on my hand. [And] we left for work. There is no job in Rif.”

The tense atmosphere in Hoceima is such that this reporter was interrupted by plainclothes officers in the middle of the interview with Iamrachen, escorted to Casablanca by three officers and deported to London. En route from Hoceima to Casablanca, the Guardian witnessed the scale of impoverishment in Rif – with roads in disrepair, a lack of basic infrastructure and destitute villages.

Sherif Mansour from the Committee to Protect Journalists (CPJ) said at least three journalists were behind bars because of their work reporting from the region, and at least three more were deported this year. “Morocco is witnessing a dramatic reversal on press freedom,” he said.

In September, Human Rights Watch criticised the Moroccan king for brushing off evidence of police abuse in Hoceima. In his Throne Day speech in July, Mohammed VI for the first time addressed the troubles, criticising lack of development in the region, but defending security forces for “bravely and patiently fulfilling their duty”.

On 29 July, he pardoned 42 members of the Hirak movement but many senior figures are still in jail. “The real problem is the king,” said one former prisoner who asked not to be named. “People are beginning to talk about him but everyone is scared. He is the real problem in Morocco.”

 

 

 

 

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