21. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für „Die Frage der Menschenrechte für Migranten kann man nicht auslagern“ · Kategorien: Afrika, Europa, Italien, Libyen, Mittelmeerroute, Niger · Tags: , , ,

NZZ | 21.10.2017

Martina Caroni / Stephanie Motz

Es mag saisonale Schwankungen geben, doch der Druck der Flüchtlingsströme auf Europa bleibt hoch. Immer wieder wird beim Grenzschutz daher um das Ausmass völkerrechtlicher Verpflichtungen gerungen. Zwar ist unbestritten, dass die Abweisung Schutzsuchender an der Grenze unzulässig ist, ebenso wie ihre Rückschaffung in ein Land, in dem sie Verfolgungen ausgesetzt sind. Dennoch bleibt einiges unklar. Gilt das Rückschiebungsverbot auch dann, wenn Schutzsuchende nicht direkt aus einem Verfolgerland, sondern aus sogenannt sicheren Drittstaaten einreisen? Sind die Lebensbedingungen im sicheren Drittstaat bei einer Abweisung an der Grenze zu berücksichtigen?

Angesichts dieser rechtlichen Unsicherheiten kommt es den Staaten gelegen, dass sich beim Grenzschutz ein neuer Trend abzeichnet. Das Zauberwort lautet «extraterritoriales Migrationsmanagement». Ziel der entsprechenden Massnahmen ist es, Migranten gar nicht mehr bis an die Grenzen Europas gelangen zu lassen. Dadurch soll illegale Migration verhindert und Menschenschleppern das Handwerk gelegt werden. Um dies zu erreichen, werden Kontrollaufgaben an Drittstaaten oder private Personen bzw. Personengruppen delegiert.

Gewalt, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit

So kooperieren etwa die Europäische Union und die Schweiz seit einiger Zeit mit der libyschen Küstenwache. Ziel dieser Kooperation ist es, den Aktivitäten von Schleppern Einhalt zu gebieten, indem Boote davon abgehalten werden, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Aus der Schweiz fliesst eine Million Franken nach Libyen, um damit die Ausbildung der Küstenwache zu unterstützen sowie die Beschaffung von Schwimmwesten, Taschenlampen und Erste-Hilfe-Sets zu ermöglichen.

Diese Unterstützung ist jedoch rechtlich problematisch. Denn wie ein im September veröffentlichter Bericht von Uno-Generalsekretär António Guterres an den Uno-Sicherheitsrat nunmehr offiziell bestätigt, ist die Behandlung der von der Küstenwache nach Libyen zurückgebrachten Migranten stark von Gewalt, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und weiteren Menschenrechtsverletzungen geprägt.

Auch die Ende August von den Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, Italiens, Spaniens, Tschads und Nigers sowie Vertretern der libyschen Übergangsregierung und den EU-Aussenbeauftragten in einer gemeinsamen Erklärung angekündigten Schutzmissionen stehen im Zeichen des Managements von Migrationsströmen.

Ziel ist es, die Klärung von Asyl-Ansprüchen bereits in Afrika – insbesondere in Tschad und Niger – vorzunehmen und damit bereits frühzeitig die Migration über das Mittelmeer einzudämmen. Doch wie zahlreiche internationale Berichte festhalten, hat die Medaille auch hier eine Kehrseite: Sowohl in Niger als auch in Tschad ist die Menschenrechtssituation besorgniserregend.

Aus den Augen, aus dem Sinn?

Sollten diese Tatsachen die europäischen Staaten und damit auch die Schweiz kümmern? Dürfen sie Migrationsströme durch gezielte Kooperationen mit Drittstaaten oder gar nichtstaatlichen Milizen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen entsprechender Massnahmen für die betroffenen Migranten lenken? Können sie sich durch die Auslagerung von Grenzschutzmassnahmen aus der Verantwortung stehlen, frei nach dem Motto «Aus den Augen, aus dem Sinn»? Oder, anders formuliert: Ist diese indirekte Anstiftung zu Menschenrechtsverletzungen zulässig?

Wie jede Rechtsordnung kennt auch das Völkerrecht Regeln über die Verantwortlichkeit für rechtswidriges Verhalten. Danach ist ein Staat für eine völkerrechtswidrige Handlung verantwortlich, sofern ihm das betreffende Verhalten zugerechnet werden kann und keine Rechtfertigungsgründe vorliegen. Neben dem Verhalten ihrer eigenen Organe ist Staaten dabei unter bestimmen Voraussetzungen auch das Verhalten von Dritten, seien dies Staaten oder private Gruppierungen, zurechenbar.

Der Uno-Entwurf über die Regeln der Staatenverantwortlichkeit führt verschiedene dieser Situationen aus. So etwa in Artikel 8 die Zurechenbarkeit des völkerrechtswidrigen Handelns von Privaten, wenn dieses auf Anweisung oder unter der effektiven Kontrolle eines Staates erfolgt. Oder in Artikel 16 die Zurechenbarkeit der durch einen Drittstaat begangenen Völkerrechtsverletzung, wenn diese mit Hilfe oder Unterstützung dieses Staates begangen wurde.

Wenn europäische Staaten und die Schweiz mit afrikanischen Staaten oder Milizen zusammenarbeiten und diese unter anderem mit Geld für den Grenzschutz letztlich indirekt dazu anstiften, Menschenrechtsverletzungen zu begehen, dann dürfen sie nicht blauäugig annehmen, dass sie auf sicherem Boden stehen. Vielmehr könnten sowohl die Geldzahlungen als auch die materielle Unterstützung dazu führen, dass ihnen die von Drittstaaten bzw. privaten Gruppierungen begangenen Völkerrechtsverletzungen – etwa die Verletzung des Rechts, jedes Land zu verlassen, sowie ganz allgemein eine menschenrechtswidrige Behandlung – zugerechnet und sie hierfür verantwortlich gemacht werden.

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Netzwerk Flüchtlngsforschung | 08.10.2017

Umgehung des Refoulement-Verbots oder Kampf gegen ‚illegale Migration’?

Eine rechtliche Bewertung der Maßnahmen der EU an der zentralen Mittelmeerroute

Von Nula Frei und Constantin Hruschka

Die Maßnahmen der EU-Staaten (einzeln und kollektiv) zur Verhinderung irregulärer Migration und irregulärer Einreisen finden immer im Spannungsfeld mit den sich aus den völkerrechtlichen Refoulement-Verboten ergebenden Verpflichtungen statt. Für die Maßnahmen an den Grenzen und unter der Hoheitsgewalt europäischer Staaten gibt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen entsprechenden rechtlichen Kompass vor, der bisher für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten fehlt. Der nachfolgende Artikel versucht eine solche rechtliche Orientierung am Beispiel der zentralen Mittelmeerroute zu geben.

Am 3. Oktober 2017 hat der EGMR in seinem Urteil N.D. und N.T. gegen Spanien einmal mehr betont, dass Grenzkontroll- und Ausweisungsmaßnahmen, mit denen ein direktes Zurückschieben in ein anderes Land verbunden ist, verboten sind (siehe dazu auch den Beitrag von Dana Schmalz zu dem Urteil). Die Kläger hatten versucht, die Grenzzäune zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla zu überwinden, und waren ohne Registrierung und ohne Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen, zurückgeschoben worden. Spanien wurde wegen Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung nach Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls und wegen Verletzung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK im Hinblick auf dieses Verbot verurteilt. Schon 2012 und 2014 hatte der EGMR in den Urteilen Hirsi Jamaa (Zurückschiebung nach Libyen durch die italienische Küstenwache) und Sharifi und andere (Zurückschiebung von Italien nach Griechenland) ähnlich geurteilt. Dabei hatte er die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, auch irregulär einreisende Personen zu registrieren und diese über ihre Situation und ihre rechtlichen Möglichkeiten zu informieren, als wichtige prozedurale Verpflichtung des Refoulement-Verbots gekennzeichnet.

Gleichzeitig ist der Kampf gegen Schlepper, Terrorismus und ‚illegale’ Migration ein erklärtes Ziel der europäischen Politik. Unter anderem mit der Erklärung von Valletta und der Einsetzung der Kontaktgruppe für die zentrale Mittelmeerroute sowie den entsprechenden Partnerschaftsprogrammen im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda wurden für die zentrale Mittelmeerroute Mechanismen etabliert, die diesem Ziel dienen sollten. Auf dem „kleinen Flüchtlingsgipfel“ in Paris trafen sich am 28. August 2017 die Staatsoberhäupter von Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien sowie dem Tschad, Niger und der libyschen ‚Übergangsregierung’ in Anwesenheit der EU-Außenbeauftragten, um weitere Maßnahmen zu vereinbaren. Im fünften Fortschrittsbericht über die Partnerschaftsprogramme der EU mit Drittstaaten im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda vom 6. September 2017 wurden im Sommer getroffenen Maßnahmen als Erfolg bezeichnet, da die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer erheblich zurückgegangen sei. Kurz darauf, am 14. September 2017, stand das Thema auch beim Treffen des Rats der EU (Justiz und Inneres) auf der Tagesordnung, an dem im Wesentlichen die Situation in Libyen besprochen und unter anderem eine Unterstützung der Grenzkontrollen an der libyschen Südgrenze beschlossen wurde.

Vorverlagerung der Migrationskontrolle, einmal mehr

Schon seit 2004 sucht die EU im Rahmen der im Haager Programm formulierten „externen Dimension von Asyl und Zuwanderung“ gezielt Herkunfts- und Transitstaaten in die Migrationskontrolle einzubeziehen, mit dem Zweck, die Kontrollen weit vor die Tore Europas vorzuverlagern. Die Logik hinter dieser Strategie ist: Je näher am geographischen Anfang der Migrationsrouten die Migrationskontrolle (oder eher: -verhinderung) erfolgt, desto unwahrscheinlicher wird es letztlich, dass die Migrierenden das europäische Territorium überhaupt erreichen. Begründet wird diese Strategie gerne mit humanitären Argumenten: Es gebe „eine ganz klare Korrelation zwischen der Zahl der Menschen, die sich auf den Weg machen, und der Menschen, die umkommen auf diesem Weg“, sagte etwa Angela Merkel anlässlich des Gipfels von Paris. Rechtlich steht diese Argumentation auf wackeligen Beinen; so ist es zumindest fragwürdig, ob Migrationsverhinderung eine verhältnismäßige Maßnahme zur Erfüllung der positiven Schutzpflichten zugunsten des Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK darstellen kann. Unausgesprochen bleibt meistens die wohl mindestens ebenso starke Motivation der Staaten, migrierende Personen vom Zutritt zum eigenen Territorium abzuhalten, um die dadurch eintretenden rechtlichen Verpflichtungen zu vermeiden.

Mit den afrikanischen Partnerstaaten, die alle an den großen Routen der subsaharischen Migrationsbewegungen liegen, wurde in Paris u.a. vereinbart, dass Asylanträge durch das UNHCR in „großen Auffanglagern“ in den Transitländern Niger und Tschad geprüft werden sollen. Dadurch soll, so der französische Präsident Emmanuel Macron, „verhindert werden, dass sich Menschen auf den gefährlichen Weg durch Libyen und das Mittelmeer machen“. Zu diesem Zweck versprachen die Europäischen Staaten einmal mehr, Maßnahmen zur Grenzkontrolle, Ausbildung sowie Waffen für Armeen und Milizen zu finanzieren. Wer es dennoch bis nach Libyen schafft, soll sein Asylgesuch in ebenfalls durch UNHCR betriebenen ‚Hotspots’ stellen. Auch die letzte Etappe der Subsahara-Migrationsroute, die Überfahrt übers Mittelmeer nach Italien, wird schon seit einiger Zeit wieder von verschiedenen Seiten versucht unattraktiver zu machen: Die sogenannte libysche Küstenwache (die teils von der libyschen Einheitsregierung, teils von bewaffneten, unkontrollierten Milizen gebildet wird) verhält sich zunehmend aggressiver, nicht nur gegenüber den Flüchtlingsbooten, sondern auch gegenüber den Rettungsschiffen privater Organisationen. Mit zunehmender Repression versucht auch Italien, die privaten Rettungsinitiativen auf dem Mittelmeer zu vergraulen.

Scheinlösung Resettlement

Insgesamt wird also an allen relevanten Stationen entlang der zentralen Mittelmeerroute versucht, Personen an der Weiterreise zu hindern. Als ‚Kompensation’ für diese Abfangmaßnahmen bietet die europäische Politik an, verstärkt Personen über Resettlement aufzunehmen.

Resettlement bedeutet die Möglichkeit, legal und sicher als Flüchtling nach Europa zu reisen, nachdem ein Asylverfahren außerhalb Europas (meist durch UNHCR) durchgeführt wurde. Eine Verstärkung dieser Möglichkeit zur sicheren Weiterreise ist jetzt für die Länder Niger und Tschad im Gegenzug für die Mitarbeit bei der Migrationskontrolle angedacht. Das heißt, wer in einem der dort geplanten ‚Hotspots’ von UNHCR als schutzbedürftig anerkannt wird, kann darauf hoffen, von Europa als Resettlement-Flüchtling übernommen zu werden.

Damit Resettlement funktionieren kann, müssten die europäischen Staaten aber auch aktiv Personen aufnehmen. Ansonsten bleibt die Verantwortung für den Schutz dieser Personen bei UNHCR und/oder den Erstaufnahmeländern, wie dies aktuell noch praktisch überall der Fall ist. Das vielleicht eindrücklichste Beispiel ist diesbezüglich die Türkei: Zwischen Juli 2015 und Juli 2017 konnten nur etwas mehr als 17‘000 Personen im Rahmen des Resettlement-Programms aus der Türkei legal nach Europa einreisen, während die Türkei fast drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat.

Ohnehin kann nur eine ernst gemeinte Resettlement-Politik die Migrierenden dazu bringen, sich überhaupt freiwillig in ein ‚Zentrum’ irgendwo in der nigrischen Wüste, im Tschad oder auch in Libyen zu begeben, um dort für eine Einreisebewilligung nach Europa anzustehen. Zudem ist klar: Selbst wenn – was aktuell bei weitem nicht der Fall ist – die Chancen auf einem Boot in Italien anzukommen niedriger wären als die Chance, aus einem ‚Zentrum’ nach Europa resettled zu werden, würde es immer Personen geben, die sich dem europäischen Wunsch nach absoluter Kontrolle der Migration entziehen und auf eigene Faust den Weg nach Europa auf sich nehmen. Ein Abweisen dieser Personen an der Grenze ohne Registrierung und individuelle Prüfung der Schutzbedürftigkeit kommt nach den oben genannten Standards des EGMR nicht in Betracht. 

Unterwanderung der europarechtlichen Standards

Resettlement unterwandert zudem – wie die übrigen hier diskutierten Maßnahmen – die europarechtlichen Standards. Auf einen Zugang über Resettlement können nämlich nur Personen hoffen, die Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind. Damit wird der im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem verankerte internationale Schutz auf den Schutz nach der Flüchtlingskonvention reduziert. Die in Art. 15 der Qualifikationsrichtlinie / § 4 Asylgesetz verankerte Anerkennung des sog. subsidiären Schutzes liefe in diesen Lagern leer. Das bedeutet, dass Personen, die (wenn sie Europa erreichen würden) Schutz erhielten, vom legalen Zugang ausgeschlossen wären. Aktuell beinhalten gesamteuropäisch fast die Hälfte aller positiven Asylentscheide die Gewährung von subsidiärem oder humanitärem Schutz. Zudem liefe der in fast allen Staaten vorgesehene weitere – über den internationalen Schutz hinausgehende – Rückschiebungsschutz, wie er in Deutschland beispielsweise in § 60 Abs. 7 AufenthG geregelt ist, in diesen Lagern leer. Völlig ungeklärt ist auch, was mit Personen ohne Schutzbedarf passieren würde: Dürften sie in Niger resp. Tschad bleiben? Würden sie dort in Haft genommen, um sie in ihre Heimatstaaten rückzuführen? (Und wer würde dies finanzieren?).

Der Schutz im EU-Recht ist auch in einem anderen Punkt deutlich besser ausgestaltet als der Schutz in Libyen, Niger oder Tschad: Ist ein Asylantrag gestellt, kommt eine Weiterverweisung in einen Drittstaat nur in Frage, wenn dieser ein sicherer Drittstaat ist. Dies ist nach Art. 38 der Asylverfahrensrichtlinie nur der Fall, wenn die betroffene Person in dem betreffenden Drittstaat keine flüchtlingsrelevante Verfolgung sowie keinen ernsthaften Schaden im Sinne der Qualifikationsrichtlinie befürchtet, wenn der betreffende Drittstaat das flüchtlingsrechtliche wie auch das menschenrechtliche Refoulement-Verbot einhält und wenn die Möglichkeit besteht, einen Asylantrag zu stellen und im bejahenden Fall auch die Rechtsstellung als Flüchtling nach den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt zu erhalten.

Bei den aktuell für die Verhinderung der Migration auf der zentralen Mittelmeerroute im Fokus stehenden Staaten, in denen die Schutzsuchenden stattdessen festgehalten werden sollen, ist nicht davon auszugehen, dass sie diese Vorgaben für sichere Drittstaaten erfüllen:

  • Dem Tschad bescheinigt der letzte UN-Bericht aus dem Jahr 2014, dass «Folter allgemein von der Polizei und den Verteidigungs- und Sicherheitskräften eingesetzt wird, die dabei besonders brutale und grausame Methoden benutzen»;
  • In Niger erkennt der letzte UN-Bericht zur Situation von Frauen eine Kultur der Sklaverei („wahaya“) und beklagt gleichzeitig die geringen Strafverfolgungs- und Verurteilungsraten von Menschenhändlern;
  • Libyen wiederum weist derzeit kaum staatliche Strukturen auf. Faktisch kämpfen Milizen um die Vorherrschaft; Opfer der Auseinandersetzungen sind auch Migrantinnen und Migranten, die sich in das Land begeben. Zahlreiche Berichte, der jüngste davon vom UNO-Generalsekretär, belegen, dass Migrierende in Libyen schwerster Arbeits- und sexueller Ausbeutung sowie Misshandlung ausgesetzt sind.

Darüber hinaus ist zu befürchten, dass Schutzsuchende aus diesen Staaten unter Verstoß gegen das Refoulementverbot abgeschoben werden – ohne dass hiergegen effektiver Rechtsschutz bestehen dürfte. Da diese Staaten nicht Vertragsstaaten der EMRK sind, ist der Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg nicht gegeben. Ein Refoulementverbot ergibt sich zwar auch aus Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und Art. 3 Antifolterkonvention, doch der Weg zum Menschenrechtsausschuss oder auch zum Antifolterausschuss der Vereinten Nationen (CAT) wäre praktisch wohl kaum möglich, selbst wenn durch eine Abschiebung eine Verletzung dieser Normen droht. Faktisch wäre damit das Vorgehen gegen staatliche und nichtstaatliche Abschiebungsmaßnahmen, das bereits an den Europäischen Außengrenzen in Frage steht, kaum noch möglich. Der vom EGMR geforderte Zugang zu einem regulären Verfahren mit entsprechenden Garantien und Informationen ist somit für die in Drittstaaten festgehaltenen Personen stark erschwert.

Völkerrechtliche Verantwortlichkeit

Nach den völkergewohnheitsrechtlichen Regeln zur Staatenverantwortlichkeit kann einem Staat die Verantwortung für eine völkerrechtswidrige Handlung grundsätzlich nur dann zugerechnet werden, wenn diese unter seiner Anweisung oder direkten Kontrolle stattgefunden hat. Allerdings ist nach Art. 16 der Draft Articles on State Responsibility auch die Hilfe oder die Unterstützung bei der Begehung von Völkerrechtsverstößen als Völkerrechtsverstoß anzusehen. Wenn ein Staat also einen anderen Staat bei einem Verhalten unterstützt, leitet oder kontrolliert, das eine Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung darstellt, oder einen anderen Staat zu einem solchen Verhalten nötigt, ist eine Verantwortlichkeit gegeben. Daher ist die Frage relevant, inwieweit die Handlungen der EU-Staaten als Hilfe oder Unterstützung angesehen werden können. Hier ist klar, dass die massiven Menschenrechtsverstöße durch libysche Milizen sowie Niger und Tschad durch die Finanzierung und die Waffenlieferungen aus den EU-Staaten zumindest erleichtert werden. Durch die Geldflüsse ist Europa auch für diese Rechtsverstöße (mit)verantwortlich. Es werden also im Ergebnis mit europäischem Geld und anderweitiger Unterstützung das Refoulement-Verbot sowie das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verletzt.

Die europäische Grundrechtagentur hat in diesem Kontext im Dezember 2016 „Leitlinien zur Verringerung des Risikos der Zurückweisung im Rahmen des Außengrenzen-Managements in oder in Zusammenarbeit mit Drittländern“ veröffentlicht, die die völkerrechtliche Lage klar darlegen. Für den vorliegenden Kontext ist Leitlinie 3 von besonderer Bedeutung:

Leitlinie 3: Keine Drittländer ersuchen, MigrantInnen abzufangen, in denen ihnen ernsthafter Schaden droht: Drittländer sollten nicht ersucht werden, Reisende vor Erreichen der EU-Außengrenze abzufangen, wenn bekannt ist oder bekannt sein müsste, dass den abgefangenen Personen in der Folge Verfolgung droht oder sie tatsächlich Gefahr laufen, einen anderen ernsthaften Schaden zu erleiden.

Dieser Leitlinie, die das völkerrechtliche Minimum wiedergibt, widerspricht – wie oben dargelegt – die aktuelle Zusammenarbeit der EU und einzelner Staaten der EU mit Niger, Tschad und Libyen. Angesichts der Vielzahl der Berichte, die inzwischen über die Situation in diesen Staaten vorliegen, ist auch klar, dass den EU-Staaten diese Situation „bekannt sein müsste.“

Durchzogene Bilanz

Rechtlich kann also von einem Völkerrechtsverstoß durch die europäische Finanzierung ausgegangen werden. Auch die praktische Bilanz der bisherigen Politik ist verheerend: Die Zahl der Schutzsuchenden, die auf dem Weg nach Europa gestorben sind, ist deutlich gestiegen, während die Zahl derjenigen, die in Europa Schutz gefunden haben, deutlich zurückgegangen ist. So wurden in absoluten Zahlen im Jahr 2016 fast zwei Drittel weniger ‚illegale’ Einreisen nach Europa registriert als im Jahr 2015; die Zahl der Asylgesuche in den EU+-Staaten (EU 28 plus Norwegen und Schweiz) ging zwischen dem ersten Halbjahr 2016 und dem ersten Halbjahr 2017 um mehr als die Hälfte zurück, während die Zahl der Flüchtlinge weltweit mit über 17 Millionen auf ein Rekordniveau gestiegen ist. Insgesamt ist also der Anteil der Europäischen Staaten am globalen Flüchtlingsschutz gesunken.

Eine globale Verantwortungsteilung wird zwar politisch immer wieder gefordert und bekräftigt, doch tun sich die Staaten schwer damit, eine solche rechtlich verbindend zu formulieren. So sollen denn auch die beiden Global Compacts, die derzeit basierend auf der New York Declaration vom September 2016 unter dem Dach der UN erarbeitet werden, keine rechtlich bindenden Verträge werden.

Auf europäischer Ebene wird die Auslagerung der Verantwortung derweil weiter vorangetrieben. Ende November bietet sich dazu die nächste Gelegenheit, wenn in Abidjan der fünfte EU-Afrika Gipfel stattfindet. Einstweilen lässt sich anhand der wieder gestiegenen Einreisezahlen nach Italien im September zudem bilanzieren: Der erste libysche Warlord hat mit europäischem Geld beschlossen, lieber in Libyen die Macht an sich zu reißen, anstatt sich weiter der Ausreiseverhinderung zu widmen. Hier lauert langfristig die größte Gefahr der europäischen Ausreiseverhinderungsmaßnahmen: Mit dem Ziel der Migrationsverhinderung werden Geld, Ausrüstung und Waffen in instabile Gebiete geschickt, ohne die langfristigen Folgen zu bedenken; ein altbekanntes Politikmuster, dessen Folgen in Somalia, Irak, Afghanistan und vielen anderen Ländern zu beobachten sind und die zumindest keine positive Prognose für die Region bedeuten.

Die aktuelle Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Verhinderung ‚illegaler’ Migration umgeht das Refoulement-Verbot und zahlreiche weitere menschenrechtliche Verpflichtungen. Die EU-Staaten finanzieren Maßnahmen, die sie selbst so nach europäischem Recht niemals treffen dürften. Aus der vom EGMR in der Melilla-Entscheidung vom 3. Oktober nochmals gestärkten prozeduralen Dimension des Refoulement-Verbots lässt sich herleiten, dass die in der Zusammenarbeit getroffenen Maßnahmen nur dann rechtmäßig wären, wenn sichergestellt wäre, dass jede Person registriert wird, vor Refoulement geschützt ist und Zugang zu einem Verfahren hat, das eine vollumfängliche Prüfung des internationalen Schutzbedarfs ermöglicht. Dies ist der Standard, den jede Zusammenarbeit mit Drittstaaten im Migrationsbereich einhalten muss.

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