26. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Die Wut ist entfacht“ · Kategorien: Deutschland, Lesetipps · Tags: , , ,

derFreitag | 26.07.2017

Kapitalismus In den Krisenjahren haben sich zwei Formen des Widerstands entwickelt

Niels Boeing

Hamburgs G20-Tage markieren eine Zäsur. Auf den polizeilich erst verordneten und dann durchgeprügelten Ausnahmezustand folgt ein Backlash, den man in der immer noch relativ liberalen Bundesrepublik nicht erwarten konnte. Der Riot in der Schanze am 7. Juli hat einen regelrechten Volkszorn angestoßen. Die Stadt droht unverhohlen der gesamten außerparlamentarischen Linken mit Räumung, während Stadtteilzentren, Clubs, Buchverlage und andere linke Akteure mit Rachefantasien bombardiert werden. Selbst in der politischen Mitte heißt der Schlachtruf in Anlehnung an den Münchner Soziologen Armin Nassehi: „Eine Linke braucht es nicht mehr.“

Der medial angeheizte Aufschrei erinnert die heute ältesten Protestjahrgänge an die Hetze nach dem Schahbesuch von 1967. Es geht um Abrechnung. Die globalisierungskritische Linke habe sich erledigt oder sei endlich zu erledigen. Nichts könnte falscher sein. Was in Hamburg sichtbar wurde, ist zuerst, dass der Gipfelprotest nicht einfach eine Neuauflage der Proteste von Seattle 1999 oder Genua 2001 war. Was diese Proteste oder auch den von Heiligendamm 2007 von den jetzigen trennt, ist zum einen die Finanzkrise von 2008 mit ihren Folgen, zum anderen das inverse Panoptikum der sozialen Netzwerke.

Protest hier, Projekte da

Die Krisenjahre haben eine Wut entfacht, die zwei Formen des Widerstandes nähren. Der ersten hat das unsichtbare Komitee in seinem Manifest Der kommende Aufstand von 2009 einen Ausdruck verliehen. Löste es bei Erscheinen eine gönnerhafte Zustimmung aus, die junge Generation sei wohl doch noch nicht für die Rebellion verloren, ist das bürgerliche Lager nun entsetzt, dass eben Teile dieser Generation es ernst meinen. Da wird nicht lange gefackelt und schon gar nichts erklärt, sondern knallhart geplündert. Augenzeugen des Riots in der Schanze berichten von einer berauschten Stimmung, als sei für wenige Stunden eine Commune ausgerufen worden. Man hätte es kommen sehen können. Der Riot von London 2011 war ein Zeichen, das viele als Anomalie deuteten, geschuldet dem britischen Weg eines besonders krassen Neoliberalismus. Spätestens nach Hamburg sollte klar sein: Das kann jederzeit wieder passieren.

Die zweite Form des Widerstands ist subtiler gewesen, fast schon bescheiden. In vielen Städten haben sich Aktivisten darangemacht, noch mal „ganz unten“ anzufangen. Anstatt den globalen Finanzkapitalismus als Monster anzuprangern, begannen sie neue Projekte. Sie entwarfen das Konzept einer solidarischen Stadt, wie etwa in Toronto und anderen nordamerikanischen Städten, die auch die Schwächsten einbezieht: die Papier- und die Wohnungslosen. Sie verräumlichen in europäischen Städten Konflikte – um eine Formulierung des Hamburger Künstlers und Aktivisten Christoph Schäfer heranzuziehen –, indem sie mit den Nachbarschaften um konkrete Orte kämpften. Dabei machen sie die Verwerfungen des globalen Kapitalismus überhaupt erst begreifbar und auf den eigenen Alltag beziehbar. Sie nahmen sich, vor allem in den europäischen Mittelmeerländern, die Plätze, um öffentliche und freie Asambleas abzuhalten. Die Botschaft: Ihr repräsentiert uns nicht, und wir können uns selbst organisieren. In südamerikanischen Städten wiederum ist der Anspruch auf Territorien der Solidarität und der Selbstbestimmung erhoben worden, in denen der korrupte Staat nichts zu suchen hat.

Diese Projekte haben sich in den vergangenen Jahren immer stärker verknüpft. Ein entscheidender Punkt ist dabei gewesen, die globale Migration ins Zentrum zu stellen. Dabei geht es nicht darum, Migration in goldenem Licht erstrahlen zu lassen – zu brutal sind oft die Wege jener, die ihr Zuhause verlassen haben, verlassen mussten. Entscheidend war die Erkenntnis: Migration ist Globalisierung – gewissermaßen die andere, unterdrückte, bekämpfte Seite der Globalisierung. Wenn Kapital, Waren und Knowhow Freizügigkeit genießen, lässt sich nicht glaubhaft begründen, warum dies für Menschen nicht gelten soll. Warum sie auf ewig an die Schubladen der Nationalität gebunden sein sollen, in die das moderne Staatensystem alle steckt.

In dieser Entwicklung deutet sich eine Entwicklung an, die an die Proteste von Seattle und Genua anknüpft, aber über sie hinausweist. Die Globalisierung an sich wird nicht zurückgewiesen – sondern die Globalisierung zu den Bedingungen transnationaler Konzerne und nationaler Regierungen, also der Machtzentren, für die symbolhaft der G20-Gipfel stand. Die Protest-bewegung, so diffus und heterogen sie auch sein mag, steht für eine Globalisierung von unten. Für eine Kosmopolitisierung.

Dass der Bezugsrahmen dafür vor allem Städte sind, sollte nicht überraschen. Saskia Sassen hat mit ihrer Diagnose der „Global Cities“ früh erkannt, dass eine Verschiebung im Gange ist. Auch Geheimdienste konstatieren heute in Trendanalysen, dass das Westfälische Staatensystem – das nach den Erfahrungen der Barbarei im Dreißigjährigen Krieg gewiss ein Fortschritt war – brüchig geworden ist. Während die Staaten diese Erosion selbstverständlich mit Argwohn betrachten, ist sie für die neue Welle der Globalisierungskritik, wenn man sie überhaupt so nennen kann, eine Wegmarke am Horizont geworden.

Unterstützt wird diese Bewegung durch technische Entwicklungen, die um die Jahrhundertwende allenfalls in ersten Prototypen zu erkennen waren. Die vom mobilen Internet verstärkten sozialen Netzwerke, von Kulturpessimisten als Echokammern und Filterblasen abgetan, sind mitnichten nur Resonanzräume für Hass. Sie haben ein inverses Panoptikum geschaffen, das über die schon früher propagierte Gegenöffentlichkeit oder die von den Situationisten verfochtenen eigenen Medien hinausgeht. In Hamburg ist seit dem Ende des Gipfels ein enormer Schwarm dabei, die Polizeiübergriffe zu dokumentieren. Und zwar in einem Ausmaß, das Indymedia, wie es in Genua operierte, um ein Vielfaches übertrifft. Was herauskommt, mag zunächst chaotisch und widersprüchlich erscheinen. Entscheidend ist: Es lässt sich nicht kontrollieren, ohne die sozialen Netzwerke zu strangulieren – was wiederum nicht im Interesse der wirtschaftlichen Akteure ist, die auf diese noch junge Infosphäre für Marketing und Absatz dringend angewiesen sind. In der Bewegung aus Open Hardware und freier digitaler Fabrikation entstehen an Tausenden von Orten „Mikropotenzialitäten“ (Anne Querrien) für eigene Produktionen. Die kann wohl noch keine Autos und Computer herstellen, aber das Tempo, mit dem diese Bewegung wächst, ist atemberaubend – als ob ein planetares Reverse Engineering eingesetzt habe, um technisches Know-how der Industrie zu entreißen. Auch das war in Genua 2001 noch nicht so.

Zwei Orte stehen beispielhaft für diese Entwicklung. Im „Arrivati Park“, organisiert vom Hamburger Netzwerk Recht auf Stadt, wurde in einer Grünanlage zwischen St. Pauli und Schanze ein öffentlicher Raum zu Flucht, Migration und Urban Citizenship errichtet. Aktivisten gaben dort an allen Tagen eine „Hamburg Urban Citizenship Card“ nach dem Vorbild nordamerikanischer Städte heraus. Der Park entwickelte sich in der G20-Woche ohne Push durch etablierte Medien zum zentralen Orientierungspunkt der Proteste westlich der 38 Quadratkilometer großen Demoverbotszone, in der die Stadt Hamburg das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit suspendiert hatte. Nur wenige hundert Meter entfernt, im Millerntor-Stadion des FC St. Pauli, stellten Aktivisten ein eigenes Medienzentrum auf die Beine, das FC/MC. Die technische Infrastruktur baute der Chaos Computer Club innerhalb von zwei Tagen auf.

Den etablierten Medien waren beide Orte, wie etliche andere auch, nur Randnotizen wert. Stattdessen verharrten sie im Startblock wartend, bis endlich die ihnen vertrauten Zusammenstöße zwischen Protestierenden und Polizei begannen. Einer der wenigen, die die Veränderung wahrgenommen haben, war Raul Zelik, der in der WOZ feststellte: „Die Proteste von Hamburg waren jenseits der Straßenschlachten von einer Kreativität und Lebendigkeit geprägt, wie sie auch die meisten OrganisatorInnen des Gipfelprotests wohl nicht für möglich gehalten hätten.“

Teuerste Wasserwerfer

Die beiden Formen des Widerstands sind indes nicht scharf getrennt. Man kann Plünderungen in der Schanze fürchterlich oder auch nur albern finden. Wenn etwa in Andalusien während der Hypothekenkrise Supermärkte ausgeräumt und deren Inhalte an jene verteilt wurden, die nichts mehr hatten, berühren sie sich dennoch.

Die Politik wird nun den Sicherheitsdiskurs verschärfen, damit sich solche Bilder nicht wiederholen. Doch Hamburg hat auch gezeigt: Selbst teuerste Wasserwerfer und Robocop-Hundertschaften können gegen eine fließend operierende Multitude nicht viel ausrichten. Der Geist einer rebellischen und zugleich solidarischen Globalisierung von unten ist aus der Flasche. Sie hat Mittel, die sie 2001 noch nicht hatte – und vor allem, sie hat neue Verbündete. Der Nimbus des Kapitalismus als naturgesetzlicher Form von Gesellschaft und Wirtschaft ist auch in der politischen Mitte zerstört. Er wird auch mit staatlicher Gewalt nicht wiederherzustellen sein.

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