25. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für NGOs vor der libyschen Küste: „90% der Einsätze werden von Rom ausgelöst“ · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: ,

Telepolis | 25.07.2017

Die Seenot-Retter sehen sich einer Diffamierungs-Kampagne ausgesetzt. Interview mit Hans-Peter Buschheuer von Sea-Eye

Thomas Pany

Die NGOs, die vor der libyschen Küste Seenot-Rettung betreiben, stehen seit Monaten in der Kritik. Ihnen wird, knapp gefasst, zweierlei vorgeworfen: Dass sie ein Pull-Faktor für Migranten sind und, ihnen eine aktive Rolle im „Schleuserwahnsinn“ unterstellend, dass sie sogar aktiv mit den Schleusern- und Schleppern zusammenarbeiten.

„Der Beginn einer neuen Strategie“

Größere Öffentlichkeit bekam der Vorwurf der Zusammenarbeit durch einen Artikel der Financial Times im Dezember 2016. Er berief sich auf vertrauliche Berichte der Grenzschutz-Agentur Frontex. Aus einem ging nach Angaben der Zeitung hervor, dass „Migranten vor der Abfahrt klare Hinweise auf die präzise Richtung gegeben wurden, der zu folgen sei, um NGO-Schiffe zu erreichen“.

Ein weiteres Zitat aus einem anderen Frontex-Bericht unterstellte sogar noch eine engere Zusammenarbeit. Dort wurde „festgestellt“, dass es einen „ersten berichteten Fall“ gebe, „wo die verbrecherischen Netzwerke Migranten direkt an Bord eines NGO-Schiffes brachten“. Zudem übten die Frontex-Berichte Kritik an der mangelhaften Zusammenarbeit mit den NGOs. Diese würden die geretteten Migranten dazu instruieren, nicht mit Frontex oder den italienischen Behörden zusammenzuarbeiten.

Frontex reagierte kurze Zeit später auf den FT-Bericht und widersprach der Kernbehauptung: „Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir an keiner Stelle unseres Berichtes behaupten, dass „die NGO-Schiffe mit Schleusern und Schleppern zusammenarbeiten (im Original: ‚colluding with smugglers‘)“.

Ein Artikel des US-Mediums Intercept vom April dieses Jahres, der auf den Orginalbericht von Frontex verlinkte, hielt der Aussage des FT-Bericht entgegen, dass der Frontex-Bericht kaum Nachweise für die Behauptung enthält. Und: Den Behauptungen, die er aufstelle, würden Aussagen der Retter widersprechen.

Die Bedingungen für die Rettungsarbeiten vor der Küste Libyens seien angespannt und riskant, so der Bericht. Die Lage sei schwer zu durchschauen. Zitiert wird Ruben Neugebauer, Sprecher der NGO Sea-Watch, mit der Voraussage:

Die Anklage, die von Frontex kommt, ist kein Zufall. Wir sind der Überzeugung, dass dies der Beginn einer neuen Strategie ist, die NGOs zu kriminalisieren und eine ein öffentliches Bild der NGOs aufzubauen, wonach sie mit den Schleusern und Schleppern zusammenarbeiten.

Ruben Neugebauer

Bei einem Deutschlandfunk-Interview im Mai wurde Neugebauer noch deutlicher: „Ja, Frontex hat jetzt gerade noch mal gesagt, dass sie uns eigentlich nie kritisiert haben, das haben wir schriftlich vom Frontex-Chef. Was da im Prinzip im Moment passiert, ist, dass eine Hetzkampagne gegen uns gefahren wird.“

„Linke NGOs schiffen Hundertausende illegale Migranten nach Europa“

Seither haben sich die Anklagen gegen die NGOs verschärft. In extremer Form, wie sie zum Beispiel die Identitäre Bewegung vorbringt, wird ihnen vorgeworfen, dass die „durch Spenden finanzierte linke Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Hunderttausende(!) illegale Migranten nach Europa schiffen“. Sie würden „auch nicht davor zurück (schrecken), dafür mit kriminellen Menschenhändlern zusammen zu arbeiten“.

Politiker halten sich zwar mit solchen Zerrbildern des politischen Fiktions-Kinos zurück, zielen aber ebenso auf den „Sündenbock“ NGO mit Vorwürfen, die ebenfalls eine Zusammenarbeit unterstellen, auch wenn dies nicht direkt gesagt wird, sondern unterstellt. So äußerte der deutsche Innenminister de Maizière vor gut einer Woche:

Die Italiener untersuchen Vorwürfe gegen NGOs: Zum Beispiel, dass Schiffe ihre Transponder regelwidrig abstellen, nicht zu orten sind und so ihre Position verschleiern. Das löst kein Vertrauen aus. Mein italienischer Kollege sagt mir auch, dass es Schiffe gibt, die in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand einen Scheinwerfer einschalten, um den Rettungsschiffen der Schlepper schon mal ein Ziel vorzugeben.

Thomas de Maizière

Zu diesen Vorwürfen, die eine indirekte Zusammenarbeit („Position verschleiern“) zwischen NGO-Schiffen und Schleppern argwöhnen, kommen andere, die mutmaßen, dass die Schlepper ein leichtes Spiel mit den „Migranten-Taxis“ vor der Küste haben.

Mit Vessel Trackern zu den „Taxis“?

Ein Beitrag, der vor Kurzem bei Tichys Einblick erschienen ist, verweist suggestiv, weil nicht präzise belegt, auf die Möglichkeit sich via Internet, über „Vessel Tracker“, über den Aufenthaltsort von NGO-Schiffen vor der Küste zu informieren und folglich, so der nicht eindeutig formulierte, aber nahe gelegte Schluss, könnten Schlepper und Schleuser den Kurs der Schlauchboote mit den Flüchtlingen auf die „vesselfinder“-Info ausrichten.

„Jeder Retter spielt eine Rolle, also auch das Militär und die italienische Küstenwache“

Wie sieht die Situation aus Sicht der NGOs aus? Telepolis hat dazu Hans-Peter Buschheuer, den Sprecher von Sea-Eye, befragt. Sea Eye hat zwei kleinere Schiffe im Mittelmeer vor der Küste Libyens, insgesamt sind dort elf NGO-Schiffe zur Seenotrettung unterwegs.

Was die AIS(Automatic Identification System)-Funksignale der Transponder betrifft, so erklärte Buschheuer am Telefon, dass das AIS niemals ausgeschaltet werde, es sei immer an. Dies sei auch so vorgeschrieben.

Das sei schließlich auch zum eigenen Schutz nötig, da damit Kollisionen vermieden werden. Dass der Eindruck entstehe, der Transponder sei abgeschaltet, habe mit der Stärke des Signals zu tun. Bei kleineren Schiffen sei die Signalstärke des Transponders meist nicht besonders stark, ist das Schiff in einiger Entfernung von der Küste, werde das Signal dort nicht mehr empfangen. Dies wird auch von einem Hintergrund-Artikel der Zeit bestätigt: „Kleinere Schiffe funken nur mit den Landstationen.“

Allerdings gebe man die Positionen ständig an die Seenotrettungsleitstelle in Rom, MRCC (Maritime Rescue Coordination Center), weiter, so Buschheuer. Das MRCC koordiniert auch den Einsatz der NGO-Schiffe. Die folgenden Antworten auf Telepolis-Fragen entstammen, bis auf die erste, einem E-Mail-Interview.

Wie weit von der libyschen Küste entfernt operieren Sie?

Hans-Peter Buschheuer: Wir fahren tagsüber etwa 24 Meilen von der Küste entfernt Patrouille. Nachts sind wir 36 Meilen von der Küste entfernt. Kommt eine Meldung des MRCC dann fahren wir bis zur 12-Meilen Zone. In Notsituationen fahren wir auch in die 12-Meilen-Zone hinein. Dazu braucht es aber eine schriftliche Anordnung des MRCC in Rom, etwa durch ein Fax. Das ist vorgeschrieben.

Können Schleuser beim MRCC in Rom einen Notanruf mit der Erwartung abgeben, dass sich die Rettungsschiffe um ein überfrachtetes Flüchtlingsboot kümmern werden, indem sie etwa sagen, das Boot hat da und da abgelegt und wird in ein, zwei Stunden aller Voraussicht nach in einem ungefähr bestimmten Aufenthaltsbereich sein und in Not?

Hans-Peter Buschheuer: Ja, das ist sicher möglich, entzieht sich aber unserer Kenntnis, da uns das MRCC nicht mitteilt, woher die Meldungen stammen.

Können Schleuser über sogenannte Vessel Tracker im Netz eine Route für Migrantenboote planen?

Hans-Peter Buschheuer: Das ist derzeit unwahrscheinlich, da die Daten zu ungenau und teilweise veraltet sind. Ironischerweise werfen uns einige unserer Gegner vor, dass wir unser AIS-Signal ausschalten (was nicht stimmt) und kritisieren gleichzeitig, dass wir über AIS auch von den Schleppern zu finden sind…

Wie werden die Flüchtlingsboote in Not gefunden? Zufällig? Auf einer Routine-Patrouillenroute? Aufgrund von Hinweisen? Von wem kommen die meisten Hinweise?

Hans-Peter Buschheuer: 90% der Einsätze werden vom MRRC ausgelöst, das im Übrigen auch Meldungen durch die Luftaufklärung bekommt. Der Rest sind eigene Zufallssichtungen.

Welche Rolle glauben Sie, spielen die NGOs im Geschäftsplan der Schleuser?

Hans-Peter Buschheuer: Jeder Retter spielt darin eine Rolle, also auch das Militär und die italienische Küstenwache.

Wie erklären Sie sich, dass sich nun auch Politiker wie der deutsche Innenminister de Maizière dazu entschließen, den Druck auf die NGOs zu erhöhen?

Hans-Peter Buschheuer: Wir sind ein Dorn im Auge der Politik, weil wir das Versagen der EU (nach Einstellung von Mare Nostrum) tagtäglich vor Augen führen. De Maizière hat im Übrigen bereits 2014 Stimmung gegen die Seenotrettung gemacht, als es die privaten Retter noch nicht gab. Letztlich ist auch auf seinem Druck hin Mare Nostrum eingestellt worden. Er glaubt fest an den Pull-Faktor.

Welche Folgen sehen Sie durch den neuen Verhaltenskodex?

Hans-Peter Buschheuer: Das bedarf noch der ausführlichen Diskussion, weil er uns erst heute (Dienstag, 25. Juli) Nachmittag in Rom vorgestellt wird. Grundsätzlich nimmt er die Falschbehauptungen auf und unterstellt ihnen Wahrheitsgehalt, obwohl zwei italienische Parlamentsausschüsse festgestellt haben, dass an den Vorwürfen nichts dran ist.

:::::

NZZ | 25.07.2017

Italienische Regierung und NGO uneins über Verhaltenskodex

(dpa) Italienische Regierungsbeamte und Hilfsorganisationen haben sich vorerst nicht auf einen Verhaltenskodex als Grundlage für Rettungen von Migranten im Mittelmeer geeinigt. Für Freitag sei ein neues Treffen in Rom angesetzt worden, berichtete Titus Molkenbur, der für die deutsche NGO «Jugend rettet» am Dienstag an einem mehr als einstündigen Treffen im Innenministerium in Rom teilnahm. Bis dahin könnten die Organisationen Vorschläge zur Verbesserung und Ergänzung des Regelkatalogs einreichen. Das ging auch aus einer Mitteilung des Innenministeriums am Dienstagabend hervor.

An dem Gespräch unter Federführung des Flüchtlingsbeauftragten des italienischen Innenministeriums, Mario Morcone, hatten neben Jugend rettet die NGO Moas, Save the Children, Ärzte ohne Grenzen, Sea-Watch, Sea-Eye und SOS Mediterranée teilgenommen. Jede der Organisationen habe ihre Sorgen vorbringen können, sagte Molkenbur. Morcone habe deutlich gemacht, dass es der italienischen Regierung um die innere Sicherheit Italiens gehe.

Retter fühlen sich kriminalisiert

Mit dem Verhaltenskodex will die italienische Regierung klare Regeln für die Rettungsaktionen im Mittelmeer aufstellen und hatte damit für Verunsicherung bei den Hilfsorganisationen gesorgt. Sie fühlen sich durch den Vorstoss der italienischen Regierung kriminalisiert, weil sie sich bei den Rettungseinsätzen nach eigenen Angaben bereits an Recht und Gesetz auf See halten. Nur im äussersten Notfall sollen die Schiffe der Hilfsorganisationen in libysche Hoheitsgewässer eindringen, so schreibt es auch das Internationale Seerecht vor.

Der sogenannte Code of Conduct in seiner jetzigen Form untersagt den Helfern ferner, Ortungsgeräte abzustellen und mit Lichtsignalen Schmuggler an der libyschen Küste zu ermuntern, Boote mit Migranten aufs Meer zu schicken. Ausserdem sollen die NGO den Behörden, auch der Kriminalpolizei, Zugang zum Schiff gewähren und ihre Finanzierung offenlegen.

Seit ein sizilianischer Staatsanwalt einigen NGO vorwarf, von Schleppern finanziert zu sein, sind die Nichtregierungsorganisationen in den Fokus der Debatte um Rettungseinsätze im Mittelmeer geraten. Belege für die Anschuldigungen gibt es nicht. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex stellte Anfang des Jahres fest, dass die Seenotretter mit ihrem Engagement im Mittelmeer Schleppern in die Hände spielten, unterstellte den Helfern aber keine bösen Absichten. Vielmehr helfen demnach alle an Rettungen Beteiligten den Verbrechern unbeabsichtigt, ihre Ziele mit minimalem Kostenaufwand zu erreichen – also auch die Küstenwache oder Frontex selbst.

Hunderte von Migranten gerettet

Während der Beratungen in Rom gingen Hilfseinsätze im Mittelmeer weiter. Die spanische NGO Proactiva Open Arms rettete 167 Migranten von einem Schlauchboot. 13 Personen, darunter Schwangere und Mütter, konnten nur noch tot geborgen werden, wie die Gruppe auf Twitter mitteilte. Ärzte ohne Grenzen und SOS Mediterranee brachten mehr als 400 Gerettete in Sizilien an Land, darunter zahlreiche Kinder.

Die Hilfsorganisationen beklagen stets das Fehlen einer eigentlichen europäischen Rettungsmission auf dem Mittelmeer. 2016 waren mehr als 180 000 Menschen über die zentrale Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien nach Europa gekommen. Mehr als 5000 ertranken, weil Schlepper sie auf kaum seetüchtigen und vollkommen überladene Boote aufs Meer schicken. In diesem Jahr kamen bereits mehr als 2300 Menschen ums Leben.

Am Dienstag stimmten die EU-Mitgliedsstaaten einstimmig einer Fortsetzung der 2015 gestarteten Operation «Sophia» zu, die vor der libyschen Küste ebenfalls Migranten rettet, dort aber eigentlich gegen Schlepper im Einsatz ist. Italien hatte die Verlängerung zunächst blockiert. Das Land versucht derzeit mit unterschiedlichen Vorstössen, der Vielzahl an ankommenden Geretteten aus dem Mittelmeer Herr zu werden und die EU-Partner zu einer grösseren Lastenteilung zu bewegen. In diesem Jahr kamen bereits mehr als 93 300 Migranten in italienischen Häfen an.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.