24. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für Lesehinweis: Natasha King, No Borders · Kategorien: Hintergrund, Lesetipps · Tags: , ,

Natasha King, No Borders. The Politics of Immigration Control and Resistance, London (Zed Books) 2016, 196 S., ca. 15€

Dieses Buch enthält Reflexionen und eine theoretische Bestimmung von No Border Politics, Einblicke in die No Border Kämpfe in Athen 2011 und eine sehr schöne Darstellung der Kämpfe im Jungle von Calais vom Herbst 2013 bis zum Herbst 2015. Das Buch liest sich flüssig. Immer wieder reflektiert die Autorin ihren Standort im Spannungsfeld zwischen Aktivismus und Forschung – auch und gerade deshalb ist das Buch ein exemplarisches Produkt aktivistischer Forschung.

No Border Aktivistin ist Natasha King seit dem No Border Camp im Brüssel 2009, und sie war 6 Jahre lang immer wieder in Calais. Im Zentrum des Buchs stehen nicht Grenzen und Kontrollen, sondern Menschen, die Grenzen überwinden. Sie ist Aktivistin und berichtet über Aktionen des Widerstands – im Vordergrund aber stehen „a huge number of everyday acts of non-subordination and quiet evasions carried out by people who refuse to allow borders to stop them from moving“ (3).

An dieser Stelle beruft Natasha sich auf 8 Literaturzitate. Im Lauf der Lektüre gibt es viele Gelegenheiten, sich der Bedeutung von Herman Melville´s Bartleby zu erinnern (und an die Stelle, an der Hardt/Negri das „I would prefer not to“ aktualisiert haben: Empire, 2000, 203). Ja, doch, Hardt/Negri haben es in die Bibliografie geschafft, aber bis auf ganz wenige Ausnahmen bezieht Natascha sich auf Literatur aus den allerjüngsten Jahren – von Kropotkin und James Scott mal abgesehen und auch Aristide Zolberg (1981) ist drin. Marx nicht.

Natürlich schafft sich jede Generation ihren Kanon selbst und daran gibt es nichts auszusetzen. Natashas Kanon ist ein Kanon für aktivistische Rucksackforschung und ja, vieles ist spannend. Die Einleitung und das erste Kapitel sind interessant als Einblick in die Literatur der jüngsten Jahre zu Migration, No Border und Anarchismus. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Social Movement Studies eingehen, die auf einer Seite abgehandelt werden („In writing this book I had doubts that social movement studies provided what I feld like useful“, 27), und nicht auf den rudimentären Bezug zu Foucault, der eine halbe Seite bekommt (Rancière kommt mit seinem Disagreement in letzter Zeit und auch hier viel besser weg), sondern auf das Autonomiekonzept: Autonomie der Migrationen und „Autonomy as the creation of alternative modes of being and becoming“.

Die 7 Seiten über Autonomie der Migrationen leiten aus den grundsätzlichen Überlegungen zu Refusal und Escape über zur Literatur der letzten Jahre. Dabei hat das Buch Escape Routes von Papadopoulos et al. Pate gestanden, und überhaupt nehmen die aus Kanak Attak kommenden Autor*innen eine prominente Rolle ein (neben Papadopoulos und Tsianos auch Bojadžijev, und Karakayali). Ich fand besonders den Hinweis auf das Konzept der mobile commons überaus spannend – ein Konzept, das vielleicht einen ähnlichen Lichteffekt auslöst wie Bayats Quiet Encroachement.

Mit leichter Hand wechselt Natasha dann über zum Reich der Autonomie als individuelle Selbstbestimmung und als Bedingung kollektiver Organisation. Ihre Überlegungen zum Leben als Prefiguration und dann zum Verhältnis von Autonomie und Repräsentation können vielleicht als Manifest einer Generation angesehen werden, die als „newest social movement“ bezeichnet wurde. Weil die jungen Aktivist*innen wie auch die People on the Move viel mit Grenzschutz und Polizei zu tun haben, entfaltet sich im Spannungsfeld von Autonomie und Staat ein Weltbild, in dem alles, was im weitesten Sinn als Ökonomie und Ausbeutung bezeichnet werden könnte, allenfalls als Hierarchie von Privilegien gedeutet wird. Für den direkten Kontakt mit People on the Move, in Athen, auf der Balkanroute oder in Calais hat das den Vorteil einer unmittelbaren Solidarität (als common prefiguration?). Refugee und Aktivist*in sehen sich auf Augenhöhe.

Jemand, der in den 1970er Jahren in der Zeitschrift Autonomie die Debatten um die „Politik in erster Person“ miterlebt und der gesehen hat, wohin das alles führte (in den Selbstmord, ins Esoterische, in die Berge, zu den Grünen, ins Außenministerium, in die Chefredaktion nationalistischer Blätter), darf verhalten skeptisch sein. Natashas Freund*innen fehlt die Selbstverortung im globalen Kontext. Eine gewisse Versonnenheit, manchmal auch ozeanische Gefühle. Voraussetzungslosigkeit ist ein Element des Egalitarismus. „Ich fände es voll cool, wenn…“ oder „Ich hätte voll Lust auf …“ sind gängige Redewendungen. Diese Aktivist*innen sind überaus liebenswert und auf ihre Weise die Entschiedensten, die mir in den letzten Jahren begegnet sind. Sie agitieren nicht, aber sie sind (ab mittags) wach, kreativ, und ihre Finger gleiten über die Tastaturen in einer für meine Generation unvorstellbaren Geschwindligkeit. 2 Stunden nach jedem Treffen gibt es detaillierte Protokolle. Ein Schlafsack, Çay, Falafel, ein Computer, in der Sonne liegen, Zeit verbringen. Workshops auf dem Klimacamp, von Marx in der Schule gehört. Ökonomie: Profit, Profit. Lesen wenn‘s sein muss. Ich habe mich umgehört: das Konzept der mobile commons oder das hier besprochene Buch sind nicht bekannt. Aber ja, This is a Love Song.

Tee Trinken wird auch in Natashas Buch erwähnt: Du trinkst Çay, sitzt zusammen, hörst zu, bist da und vielleicht ergibt sich etwas, schnell recherchiert und geteilt. Präsenz, nicht Präsentation. Es ergeben sich Freundschaften mit Geflüchteten, gemeinsame Unternehmungen, Aktionen. Die Çay-Gruppe in Belgrad kocht zwei Mal täglich Tee für die Menschen im Park und hat sonst nichts anzubieten. Aber es ergeben sich Gespräche in kleinen Gruppen, Infos zirkulieren, einige verabschieden sich, weil sie es in der Nacht noch einmal über den Zaum versuchen wollen. No Lager setzt sich zu den Sudanesen im Ickerweg, sie übernachten im Lager aufgrund drohender Abschiebungen, am nächsten Tag gründet sich ein Komitee der Lagerbewohner. Die Çay-Gruppe mit Refugees aus Afghanistan trifft sich voraussetzungslos. Wir sind das Gegenüber, das Gespräche fermentiert. Was sich ergibt, wird vielleicht nachhaltiger sein als jede von außen eingebrachte Struktur.

Ich zitiere ein Interview mit einer Person von No Border in Calais (67):

„We´re not quite organized criminals and we´re not quite charity
We´re a group of disorganized charitable criminals
We´re not here to help
We´re just here
We don´t believe in God. We don´t have any particular political agenda
We´re not humanitarians. We don´t even typically like people
We´re nihilistic, anti-humanitarians simply doing what we thought needed to be done
And we really hate cops.“

Wir wissen nicht, was diese Aktivist*innen in 5 Jahren machen werden, wir entscheiden uns für Life in Presence. Natashas Buch ist ein Abbild und eine Reflexion realer Erfahrungen. Im 2. Kapitel stellt Natasha eine Reihe von movements / Gruppen vor, mit denen sie Kontakt hatte und an denen sie beteiligt war. Einleitend schreibt sie (51):

„I talked about what no borders politics is and described it as a refusal of the border and the state, by seeking to remain autonomous from it. I said that a no borders politics also includes demands for rights and recognition and that, when people excluded from the realm of rights and representation take action for these things, this has the potential to transform the boundaries of citizenship. As such, a no borders politics is negotiation between autonomous practices that seek to escape the state and representational practices that seek to transform it.“

Das könnte auch eine Beschreibung für Solidarity City Politics sein und enthält zusammengefasst den Kern von Natashas Abhandlung. In seinem vielleicht wichtigsten Kapitel ist das Buch ein Buch über den Jungle von Calais. Wer darüber mehr wissen möchte, soll das Buch selbst lesen.

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