23. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Wie Palermos Bürgermeister vom Mafiajäger zum Flüchtlingsvater wurde“ · Kategorien: Italien · Tags:

NZZ | 23.07.2017

Er hat die Mafia bekämpft und Palermo zur Kulturstadt gemacht. Der neue Auftrag von Leoluca Orlando, dem unkonventionellen Bürgermeister: Flüchtlinge willkommen zu heissen.

Interviewvon Birgit Schmid

[…] Viele Junge ziehen aus Süditalien fort, weil sie keine Arbeit finden und keine Perspektive sehen. Wie kann man da von einer Stadt der Jungen reden?

Die Jungen sollen weggehen! Mich freut das. Ich sage ihnen aber: Seid frei zurückzukehren. In meiner Familie gingen alle weg, auch meine Enkelinnen studieren nicht nur an italienischen Universitäten. Mein Leben hat sich verändert, als ich zwei Jahre lang in Heidelberg lebte als Student. Obwohl es dort kalt war und ganz anders als am Mittelmeer, lernte ich die Freiheit schätzen – von meiner Familie und meiner Erziehung.

Warum sollte man zurückkommen?

Viele kommen zurück und gründen Startups. Sie bringen neues Know-how und reden mindestens eine Sprache mehr. Mobilität ist ein Wert. Migration hingegen ist eine Perversion.

Wie meinen Sie das?

Jeder Mensch soll frei entscheiden können, wo er leben will. Keiner soll gezwungen werden wegzugehen. Freizügigkeit ist ein Menschenrecht.

Sie sprechen dabei auch von den Flüchtlingen, die nach Sizilien kommen.

Wir heissen alle Migranten willkommen. Wenn Sie fragen, wie viele Flüchtlinge in Palermo leben, antworte ich nicht: 60.000 oder 100.000. Sondern: keine. Wer nach Palermo kommt, ist ein Palermitaner. Die Charta von Palermo, die ich 2015 verfasst habe, hält das fest. Tut mir leid für Sie, Sie sind jetzt auch eine Palermitanerin. Sie sind aber frei, wegzugehen und nicht mehr Palermitanerin zu sein.

Sie fordern, die zur legalen Einwanderung nötigen Aufenthaltsbewilligungen seien abzuschaffen. Ist das Ihr Ernst angesichts der immer mehr Flüchtlinge, die nach Europa drängen?

Nennen Sie mich verrückt. Aber eines Tages wird man uns für die Menschen verantwortlich machen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sterben.

Sie sagen «uns»: Sie meinen Europa?

Welches Europa? Was hat dieses Europa noch mit dem Europa zu tun, wie wir es uns vorgestellt haben? Viele europäische Staaten wollen die Flüchtlinge sofort wieder loswerden. Weil ihr Bleiberecht nicht gewährleistet ist, werden viele Migranten in die Illegalität gedrängt. In Palermo weiss man, was Illegalität bedeutet. Heute wollen wir eine Stadt der Rechtmässigkeit sein und mit gutem Beispiel vorangehen: Jeder soll sich innerhalb der Grenzen Europas frei bewegen können, ob er politisch verfolgt wird oder aus wirtschaftlicher Not anderswo ein besseres Leben sucht.

Aber das ist doch naiv. Viele Einheimische leben in armen Verhältnissen, die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Wie erklären Sie den Bürgern, dass es Platz für immer mehr Migranten hat? Damit schüren Sie doch auch den Rassismus?

Obwohl ich im Wahlkampf diese Ansicht zur Migration vertreten habe, wurde ich wiedergewählt. Die Bevölkerung unterstützt mich. Im Magen der Menschen gibt es keine Intoleranz. Die Intoleranz befindet sich im Kopf von Politikern.

Wie wollen Sie denn all die neuen Bürger von Palermo beschäftigen?

Es gibt genügend Arbeit, die niemand machen will, in der Landwirtschaft zum Beispiel. Durch die Abwanderung liegen auf Sizilien ganze Landstriche brach. Europa braucht die Migration und verkraftet mehr Menschen gut.

Eine Ihrer ersten Amtshandlungen als erneut gewählter Bürgermeister am 12. Juni war es, ein Boot mit 724 Flüchtlingen im Hafen von Palermo zu begrüssen.

Mich berührt jedes persönliche Flüchtlingsschicksal, das ich zu hören bekomme. Da war einmal ein junges Mädchen aus Kongo, vierzehn Jahre alt. Es verlor während der Reise übers Meer seine Mutter und gab sich die Schuld dafür. Es kam ihm vor, als hätte es sie getötet, um selber am Leben zu bleiben. In diesem Moment erschien mir das Gesicht meiner Enkelin Leila, und ich stellte mir vor, sie würde das sagen.

Hat die Mafia-Vergangenheit von Palermo Ihre humanistischen Ideale geprägt?

Die einzige Waffe gegen die Kultur der Mafia ist der Respekt vor den Menschenrechten. Dieser Respekt ist genauso wichtig wie der Respekt vor dem Gesetz. Das gilt für jeden Bereich. Wir organisieren zum Beispiel jedes Jahr die grösste Gay Pride in Südeuropa. Als die Palermo Pride zum ersten Mal stattfand, war der Erzbischof entsetzt, worauf ich ihm sagte: «Eminenz, es geht um Menschenrechte.» […]

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