Zeit Online | 19.07.2017
Frankreichs Grenzpolitik ist härter als die von Österreich. Ändert sich das unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron?
Von Lukas Latz
Es ist erstaunlich: Als Österreichs Verteidigungsminister vor einigen Wochen anordnete, die Grenze zu Italien für Migranten zu schließen, zeigten sich Viele in Europa empört. Doch dass ein anderes Nachbarland Italiens seine Grenze schon seit zwei Jahren geschlossen hat, wurde kaum kommentiert: Frankreich. Dabei ist die humanitäre Situation für Flüchtende im Grenzgebiet schlecht – und auch die rechtliche Grundlage dieser französischen Praxis steht auf der Kippe.
Eingeführt wurde sie, als Frankreichs damaliger Präsident François Hollande nach den Terroranschlägen im November 2015 den Ausnahmezustand ausrief. Zu den vielen Beschlüssen gehörte auch die Schließung der französisch-italienischen Grenze für Migranten ohne gültige Einreisegenehmigung. Dafür wurden die nationalen Polizeieinheit CRS, die mit der deutschen Bereitschaftspolizei vergleichbar ist, und Militärs in die Region verlegt.
Leidtragende sind vor allem Flüchtlinge, die aus Libyen nach Italien über die gefährliche Mittelmeerroute gekommen sind. Nach ein paar Monaten in den italienischen Flüchtlingslagern machen sich viele auf den Weg nach Norden – und stranden zum Beispiel in Ventimiglia, eine 25.000-Einwohner-Stadt am Mittelmeer, nur zehn Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Von dort fahren Züge nach Nizza und Cannes. Etwa 1.000 Flüchtlinge halten sich derzeit in Venimiglia auf, ihr Ziel ist Nordeuropa. Doch nach Frankreich zu kommen, ist auf legalem Weg praktisch unmöglich.
Stromschläge und gebrochene Gliedmaßen
Flüchtlinge, die sich in den Zug setzen, werden im Bahnhof Menton-Garavan, dem ersten Halt auf französischer Seite, von der Polizei herausbeordert. Sie setzt sie entweder in den nächsten Zug zurück nach Italien oder fährt sie gleich im Polizeiwagen zurück. Dies wird offenbar auch bei minderjährigen Flüchtlingen gemacht, wie eine Gruppe von Aktivisten vor Ort kürzlich durch Filmaufnahmen dokumentierte. Illegal, nennt das Amnesty International und verweist auf die UN-Kinderrechtskonvention. Um diese Fälle kümmert sich seit Anfang des Monats Frankreichs Beauftragter für die Sicherung von Bürger- und Grundrechten, Jacques Toubon. Er hat bereits Aufklärung von Innenminister Gérard Collomb gefordert. Doch wann ein Treffen der beiden stattfinden wird, steht noch nicht fest. Die französische Bahngesellschaft berichtet, dass vier Menschen bei Stromschlägen ums Leben kamen, die sich aufs Dach der Züge gesetzt hatten, um die Grenze zu überqueren.
Nicht nur auf der Bahnstrecke gibt es durchgehend Grenzkontrollen. Auch die Wanderwege und Straßen werden kontrolliert, Menschen ohne Visum oder EU-Staatsbürgerschaft abgewiesen. Dabei ist das Roya-Tal am Fuße der Alpen sehr unübersichtlich. Immer wieder werden Flüchtlinge gefunden, die sich beim Versuch, über die Grenze zu gelangen, Arme oder Beine brechen. Zwölf Menschen sind in dem Grenzgebiet in diesem Jahr bereits ums Leben gekommen, ist aus dem Umfeld von NGOs zu erfahren.
Asylantrag in Frankreich? Unattraktiv
Trotzdem erzählen die afrikanischen Flüchtlinge in Ventimiglia von Bekannten, die es irgendwie nach Nizza oder Marseille geschafft haben. Allerdings werden sie auch dort nicht selten zurück nach Italien geschickt, wenn die Polizei sie aufgreift. Und die italienische Polizei wiederum schiebt diese Menschen weiter in den Süden des Landes ab. Es ist schon erstaunlich, wie zuverlässig die italienischen Behörden Frankreich entlasten – angesichts dessen, dass sie immer wieder klagen, dass sie von der Aufnahme von übers Mittelmeer kommenden Flüchtlingen überfordert sind.
Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierten, berichten, dass es Flüchtlingen in der Region Provence-Alpes-Côtes d’Azur sehr häufig verweigert wird, einen Asylantrag zu stellen. „Sie lassen das nur zu, wenn Flüchtlinge von einer Begleitperson, die sich mit Recht und Gesetz auskennt, auf die Präfektur begleitet werden“, sagt Francesca Peirotti von dem Nizzaer Verein Habitat et Citoyenneté. Inzwischen habe sich die Lage aber etwas gebessert, auch wegen Cédric Herrou. Der Bauer lebt nur wenige Kilometer hinter der Grenze im Roya-Tal und lässt auf seinem Hof über die Grenze gekommene Flüchtlinge wohnen. Medien wurden auf ihn aufmerksam, das nutzt er, um öffentlichkeitswirksam Druck auf die Behörden zu machen. Im Frühjahr begleitete er immer wieder Flüchtlinge zur Präfektur, damit sie dort einen Asylantrag stellen können.
Aber selbst dann ist es nicht besonders attraktiv, in Frankreich einen Asylantrag zu stellen. Oft folgen Wochen oder Monate in Obdachlosigkeit oder Provisorien. In Paris an der Stadtgrenze zu Saint-Denis steht eine Zeltkolonie unter einer Autobahnbrücke. In Großstädten wie Metz oder Lyon und auch fast ein Jahr nach der Auflösung des sogenannten Dschungels von Calais leben Flüchtlinge ohne Dach über dem Kopf. Genaue Zahlen gibt es allerdings nicht.
Wird sich unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron etwas an der französischen Flüchtlingspolitik ändern? Er hatte sein Amt mit einem europafreundlichen Wahlkampf errungen. Zumindest hat Premierminister Édouard Philippe in der vergangenen Woche einen Plan zur Asylpolitik vorgestellt. Er sieht unter anderem vor, bis 2019 Wohnungen für 7.500 neu ankommende Flüchtlinge zu schaffen. Macron selbst hat in seiner ersten Grundsatzrede in Versailles angekündigt, den Ausnahmezustand Ende Oktober endgültig aufzuheben. Damit entfiele auch die gesetzliche Grundlage für die Grenzschließung im Roya-Tal. Doch Beobachter der französischen Migrationspolitik glauben nicht, dass die Grenze ab dem ersten November wieder geöffnet sein wird.