11. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Öffnen Sie legale Wege für Flüchtlinge in die EU!“ · Kategorien: Deutschland, Italien, Libyen · Tags:

Migazin | 11.07.2017

Katrin Göring-Eckardt

Sehr geehrter Herr Minister de Maizière,

in einem Moment großer Sorge über das Schicksal der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer möchte ich mich an Sie wenden. Und ich möchte – angesichts der aktuellen Diskussionen um die Rolle humanitärer Seenotrettungs-Aktivisten – eindringlich an Sie appellieren: Die Verantwortung für die massiven Flüchtlingsbewegungen im Mittelmeer liegt nicht bei den humanitären Organisationen. Ihnen muss unsere Hochachtung und unser Dank für ihren selbstlosen Einsatz gelten.

Die Welt steht derzeit den größten Flüchtlingsbewegungen seit dem Ende des 2. Weltkriegs gegenüber. Und: Allein in diesem Jahr sind bereits mehr als 2000 Menschen bei dem Versuch sich nach Europa zu retten, im Mittelmeer ertrunken. 2017 droht zum tödlichsten Jahr für Flüchtlinge und Migranten bei der Überquerung des Mittelmeers zu werden.

Auf ihrem Weg nach Europa sind Flüchtlinge in vielen Staaten großen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Eines dieser Transitländer ist Libyen – ein Land, das derzeit nicht als Partner, sondern als failed state angesehen werden muss. Flüchtlinge und Migranten werden dort willkürlich inhaftiert, gefoltert und vergewaltigt. Im Hinblick auf die libyschen Internierungslager spricht selbst das Auswärtige Amt von „KZ- ähnlichen Zuständen“. In dieser Situation sehen viele Betroffene keinen anderen Ausweg, als sich über das Mittelmeer nach Europa zu retten – und dabei sehenden Auges ihr eigenes Leben und oft auch das ihrer Kinder zu riskieren.

Ich stelle fest, dass sich die im Auftrag der EU vor der libyschen Küste kreuzenden Schiffe immer mehr aus der Seenotrettung der Bootsflüchtlinge zurückziehen: Aktuell werden nur 15 % dieser Menschen von Schiffen der „Eunavfor Med“-Mission bzw. von Frontex aufgenommen – genauso viele, wie von privaten Handelsschiffen. 70 % jedoch werden (zu gleichen Teilen) von der italienischen Küstenwache und Marine bzw. von humanitären Organisationen gerettet.

Und ich stelle auch fest, dass Europa, die beiden Mitgliedstaaten Italien und Griechenland seit Jahren mit der Aufnahme von Schiffbrüchigen allein gelassen hat: Trotz geltender Beschlusslage sind die Mitgliedstaaten – auch Deutschland – ihren Verpflichtungen zur Relocation von Schutzsuchenden aus diesen beiden Ländern gar nicht bzw. völlig unzureichend nachgekommen. Ich halte das für unverantwortlich.

Und ich beobachte mit großer Sorge, dass in den letzten Monaten innerhalb der EU der Vorschlag der maltesischen EU-Präsidentschaft ernsthaft diskutiert wurde, den sogenannten „Non Refoulement–Grundsatz“ der Genfer Flüchtlingskonvention künftig „unter Berücksichtigung der besonderen Krisenumstände“ vor der libyschen Küste neu definieren zu wollen.

Derzeit sind im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen und Italien insgesamt neun Nichtregierungsorganisationen (mit zwölf Schiffen und einem Flugzeug) unterwegs, um das Leben von Flüchtlingen in Seenot zu retten: Sea-Watch, Sea- Eye, Jugend rettet, Lifeboat Minden, Migrants Offshore Aid Station, Proactiva Open Arms – aber auch so erfahrene Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Save the Children und SOS Méditerranée.

In dieser zweifellos dramatischen Situation setzen nun die EU-Innenminister ausgerechnet die humanitären Organisationen unter Druck. In einem offenen Brief an die deutsche Bundeskanzlerin weisen diese Organisationen darauf hin, dass sie in den letzten Wochen und Monaten in „beispielloser Weise falschen und unbegründeten Vorwürfen, Anschuldigungen und gar Verleumdungen“ ausgesetzt seien – bis hin zu physischen Angriffen auf ihre Mitarbeitenden.

  • Tatsächlich wurden diese humanitären Organisationen nicht nur von Rechtspopulisten (wie der „Lega Nord“ oder der „5 Sterne Bewegung“) und Rechtsextremen (wie z. B. von Aktivisten der sogenannten Identitären Bewegung), sondern auch Fabrice Leggeri, Direktor Frontex, öffentlich beschuldigt, sie würden gemeinsame Sache mit den modernen Sklavenhändlern machen. Dabei hat eine Untersuchung der University of London widerlegt – dass die Maßnahmen der Seenotrettung, wie bei den EU-Operationen zur Seenotrettung „Triton“ und „Mare Nostrum“, zu nachweisbaren Anreiz- oder Pull-Effekte geführt hätten.
  • Diese humanitären Organisationen werden aber auch auf Hoher See attackiert – insbesondere durch die libysche Küstenwache, die von der EU nicht nur finanziert und ausgerüstet, sondern auch geschult wird: Die Schiffe der humanitären Organisationen werden auch in lebensgefährlicher Weise abgedrängt und aufgebracht. Die humanitären Helfer werden festgesetzt und deren Boote beschlagnahmt. Es fallen vereinzelt Schüsse.
  • Einzelne Crew-Mitglieder der humanitären Rettungsschiffe wurden zudem angeklagt – und dies nicht nur in Italien, sondern inzwischen auch in Deutschland (Sachsen).
  • Der Actionplan der EU führt dazu, dass der Aktionsradius der humanitären Organisationen mithilfe sogenannter Leitlinien bewusst eingeengt wird. Die Drohung, dass humanitäre Rettungsschiffe im Falle eines Falles keine italienischen Häfen mehr anlaufen dürften, nimmt in Kauf, dass Flüchtlinge auf hoher See ihrem Schicksal überlassen werden.

Ich wende mich an Sie, sehr geehrter Herr Minister des Innern, weil Sie derzeit mit derartigen Plänen zur Einschränkung der humanitären Hilfe von Bootsflüchtlingen befasst sind. Und ich hoffe, dass wir beide in folgenden Punkten übereinstimmen:

  • Libyen ist bis auf weiteres nicht imstande, Flüchtlinge aufzunehmen, sie humanitär zu betreuen und zu versorgen bzw. nach europäischen Standards rechtstaatlich zu betreuen.
  • Die Seenotrettung von Bootsflüchtlingen ist nicht strafbar, sondern ist eine menschenrechtliche und völkerrechtliche Verpflichtung (nach Art. 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen sowie der Guidelines der International Maritime Organization – aber auch nach Art. 3 und Art. 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention – und selbst in den Anwendungshinweisen zum deutschen Aufenthaltsrecht finden sich humanitäre Ausnahmeklauseln bei der Hilfe zum unerlaubten Grenzübertritt).
  • Und wir sind uns hoffentlich auch darüber einig, dass Überlegungen, Flüchtlingsboote auf dem Weg nach Europa abzufangen und nach Nordafrika zurückzubringen, im Widerspruch sowohl zur Genfer Flüchtlingskonvention als auch, spätestens nach dem sogenannten Hirsi- Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2012, zur Europäischen Menschenrechtskonvention stehen.

Vor diesem Hintergrund appelliere ich eindringlich an Sie: Die Alternativen zum Massengrab Mittelmeer liegen auf der Hand. Öffnen Sie legale Wege für Flüchtlinge in die EU – insbesondere mithilfe eines großzügigen, langfristig angelegten und auch verlässlichen Aufnahmeangebots im Rahmen des Resettlement-Programms des UNHCR. Halten Sie – im Namen Deutschlands – die Verteilungs-Quoten gegenüber Italien und Griechenland ein. Setzen auch Sie sich bitte mit dem gebührenden Nachdruck für eine durch die EU unterstützte zivile Seenotrettung im Mittelmeer ein.

 

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