DW | 10.07.2017
Jeder siebte Migrant, der in Italien ankommt, ist ein Kind. Viele sind ohne Begleitung, etliche schwer traumatisiert. Ihre Versorgung stellt die Behörden vor große Herausforderungen. Doris Pundy berichtet aus Sizilien.
Amadou* hat es geschafft, er ist in Sicherheit. Glauben kann er es aber noch nicht. Unsicher sitzt er im Aufenthaltsraum des Kinderheims für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge im südsizilianischen Scicli. Seine Arme sind fest über der Brust verschränkt, nervös wippt er mit dem Fuß, seine Augen wandern durch den Raum. „Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, was es für mich bedeutet hier zu sein und nicht mehr in Libyen sein zu müssen“, sagt der 17-Jährige mit leiser Stimme. „Italien ist wie das Paradies für mich!“ Bei dem Wort „Paradies“ huscht ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. „Ich bin so dankbar, dass ich hier sein kann“, sagt Amadou kopfschüttelnd. Er macht eine kurze Pause, sein Blick sinkt auf den Boden. „Ich weiß gar nicht, wie ich das überlebt habe. Gott muss mich beschützt haben.“
Entführt und misshandelt
Amadou lebt seit drei Wochen im „Casa delle Culture“, dem Haus der Kulturen, im Touristenort Scicli. Das Kinderheim der evangelischen Kirche öffnete vor gut zwei Jahren, als Plätze in staatlichen Einrichtungen knapp wurden. Es liegt rund zwanzig Kilometer vom Hafen von Pozzallo entfernt, wo Amadou Mitte Juni erstmals italienischen Boden betrat. In erster Linie wohnen hier Mädchen und junge Mütter, aber für schutzbedürftige Jungs werden Ausnahmen gemacht. „Ich war komplett gestresst, als ich in Italien ankam“, sagt Amadou. Noch im Auffanglager im Hafen wurde ein Arzt auf ihn aufmerksam und schickte ihn zum Psychologen.
„Ich hatte so Angst davor, diesen Psychologen zu treffen“, sagt Amadou. „Ich hatte Angst, wieder geschlagen zu werden. Ich wusste ja nicht, was mich erwartet.“ Amadou wurde in Libyen mehrfach entführt und misshandelt. Gut zwei Jahre hing er in dem nordafrikanischen Land fest, bevor er es auf ein Boot Richtung Europa schaffte. „Jedes Mal, wenn ich jetzt einen Menschen mit heller Haut treffen, habe ich Angst wieder geschlagen zu werden“, sagt Amadou. Selbst der Kontakt zu den Betreuern im Kinderheim fiel im anfangs schwer.
Amadou war 14 Jahre alt, als er im Oktober 2014 seinen Heimatort Bakau in Gambia verließ. Sein Vater unterstütze seinen Entschluss. Amadous Reise dauerte fast drei Jahre. Er ist der älteste von vier Brüdern. Sein Vater hätte eigentlich einen guten Job in Gambia, würde aber manchmal monatelang kein Gehalt bekommen, berichtet der Junge. Seine Mutter kümmere sich zu Hause um die jüngeren Geschwister. „Als der älteste Bruder musst du in Gambia Erfolg haben und deinen jüngeren Geschwistern aushelfen“, sagt Amadou. Er wusste von einigen Bekannten, die sich auf den Weg nach Europa gemacht hatten.
Jeder siebte Flüchtling ist minderjährig
Gut 85.000 Migranten sind in diesem Jahr bislang über das Mittelmeer nach Italien gekommen – darunter mehr als zehntausend Kinder. Zwei Drittel aller Migranten kommen im süditalienischen Sizilien an. Nur ein Bruchteil bleibt auf der Insel. „Wenn ein Schiff mit geretteten Menschen in Sizilien ankommt, dann warten im Hafen bereits Busse, die die Menschen in Unterkünfte auf dem Festland bringen“, sagt Marco Rotunno vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) im Gespräch mit der DW. Das italienische System funktioniere eigentlich gut, nur sei es angesichts der steigenden Zahlen ankommender Migranten an der Belastungsgrenze, so Rotunno.
Besonders schwierig sei es, in der kurzen Zeitspanne zwischen der Rettung auf hoher See und der Weiterfahrt in Flüchtlingsunterkünfte zu erkennen, welche Personen besonders schutzbedürftig seien, so Rotunno. „Kinder sind in Italien gesetzlich sehr gut geschützt, nur ist es manchmal die Altersfeststellung schwierig.“ Mädchen gäben sich häufig als volljährig aus, dann müsse genau hingesehen werden, weil oft Menschenhandel dahinter stecke. „Die prekären Fälle behalten wir vom UNHCR genau im Auge“, sagt Marco Rotunno.
Um den körperlichen und seelischen Zustand der Migranten schneller erfassen zu können, arbeiten italienische Behörden und UNHCR eng mit jenen Organisationen zusammen, die auf hoher See Menschen retten. „Der Wille zu überleben ist oft stärker als der Körper“, sagt der Arzt Craig Spencer von der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“. Spencer arbeitet auf Rettungsschiffen im Mittelmeer. Gerettet auf dem Schiff falle der Druck ab, so der Mediziner, Traumata und körperliche Verletzungen würden sich nach der Rettung oft rapide verschlechtern.
Etliche Migranten hätten Spuren von Misshandlungen und Folter durch libysche Schlepper: offene, infizierte Wunden, manchmal sogar Stich- oder Schusswunden, so Spencer. Vor Frauen und Kindern werde nicht Halt gemacht. „Achtzig Prozent der Frauen und Mädchen, die wir retten, sind Opfer sexueller Gewalt“, sagt der Arzt. Jungs hätten oft Narben. Der jüngste unbegleitete Migrant, den Craig Spencer behandelte, war sieben Jahre alt.
Angst vor der Zukunft
„Hätte ich gewusst, was mich in Libyen erwartet, ich wäre nie von zu Hause weggegangen“, sagt Amadou heute. Oft habe er es bereut, nach Europa aufgebrochen zu sein. Mit seinem Vater war er über sein Smartphone regelmäßig in Kontakt. Das habe ihm geholfen durchzuhalten. Seit er in Italien ist, telefoniere er täglich mit seinen Eltern. „Ich würde es nicht aushalten, nicht mit meiner Mutter und mit meinem Vater zu reden. Die halten mich am Leben“, sagt Amadou.
Im „Paradies“ Italien versucht Amadou wieder zurück ins Leben zu finden. Frühmorgens, bevor es zu heiß wird, geht er in Scicli joggen, dann stehen Handwerkskurse und Italienischunterricht auf dem Stundenplan, dazwischen trifft er seinen Psychologen. Die meisten Kinder und Jugendlichen im „Casa delle Culture“ bleiben nur wenige Wochen, bevor sie in Unterkünfte auf dem Festland umziehen. Amadou wird vermutlich länger bleiben.
„Wenn ich an meine Zukunft denke, habe ich einfach nur Angst“, so der junge Flüchtling. Er habe in Libyen so viele schlimme Dinge erlebt, die er kein zweites Mal durchmachen möchte. „Ich will lernen, wieder auf eine normale Schule gehen und dann Informatik und internationale Beziehungen studieren“, aber davor müsse er zuerst lernen, seine Angst in den Griff zu bekommen.
* Der Name wurde von der Redaktion geändert.