Telepolis | 05.07.2017
Der Verhaltenskodex für die NGOs gibt den Aktionen der libyschen Küstenwache mehr Freiräume. Für die Seenot-Retter ist das ein Signal in die falsche Richtung
Thomas Pany
Geht es um Flüchtlinge, ist auch schon die Hysterie da. Es dröhnen die Überschriften wie im Krieg: „Kanzler Kern: Derzeit keine Panzer und Truppen auf dem Brenner“. Es würden derzeit keine Grenzkontrollen am Brenner durchgeführt und „kein Einsatz des Bundesheeres unmittelbar bevorstehen“, lautet die Entwarnung des SPÖ-Kanzlers.
Martialische Rhetorik
An der Erklärung von Kanzler Kurz wird eine charakteristische Fallhöhe zwischen Normalbetrieb und einer Eskalation sichtbar. Er versichert einerseits, dass der Geschäftsverkehr und der Urlaubsverkehr in den nun beginnenden Sommerferien bis auf weiteres von lästigen Verzögerungen durch Grenzkontrollen verschont bleiben. Anderseits behält er sich die Möglichkeit eines „Assistenzeinsatzes“ des Bundesheeres im Notfall vor, um der Bevölkerung zu versichern, dass sich „die Situation von 2015, als tausende Flüchtlinge unkontrolliert die Grenzen passierten, nicht wiederholen dürfe“.
Die Überschrift des Standard-Artikels ist reißerisch martialisch. Aber sie ist keine Ausnahme; sie greift auf, was der Innenminister Hans Peter Doskozil in den letzten Tagen durchaus vermitteln wollte. Er ließ verlauten, dass er einen entsprechenden Einsatz des österreichischen Bundesheeres „für unabdingbar“ halte, „wenn der Zustrom (von Flüchtlingen/Migranten, Erg. d.A.) nach Italien nicht geringer wird“. Auch die Meldung über die Unabdingbar-Äußerung war mit einem Panzer illustriert.
100.000 Migranten aus Libyen: „Stoppt den Pull-Faktor“
Über 100.000 Flüchtlinge und Migranten sind in diesem Jahr bis zum 3.Juli über das Mittelmeer nach Europa gekommen, meldet die Internationale Organisation für Migration (IOM). Nach ihren Informationen sind 85.183 Personen in Italien angekommen. Laut Schätzungen sind bis Anfang Juli 2.247 Flüchtlinge und Migranten bei ihrer Flucht ums Leben gekommen.
Italien ist mit der Aufnahme von Flüchtlingen ans Limit gekommen. Dabei hat die Zeit der für die Überquerung des Mittelmeeres günstigen Wetterbedingungen erst angefangen. Das Land hatte vergangene Woche einen deutlichen Notruf abgesandt. Europa solle sich endlich solidarisch zeigen und Italien nicht alleine lassen. Das war der eine Teil der Botschaft, den anderen könnte man so übersetzen: „Stoppt den Pull-Faktor der NGOs“ (siehe dazu: Italien erwägt Hafenverbot für NGO-Schiffe).
Am Sonntagabend fand in Paris eine Art Mini-Gipfel der Innenminister aus Deutschland, Italien und Frankreich statt unter Beisein des EU-Kommissars für Migration, Avramopoulous. Dabei wurde ein Sechs-Punkte-Plan ausgearbeitet, der in einer offiziellen EU-Erklärung nachzulesen ist. Fünf Punkte entsprachen mehr oder weniger bekannten Zielen. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte der erste Punkt: Die Ausarbeitung eines Verhaltenskodex (siehe: „Verhaltenskodex für NGOs gefordert“).
Der Verhaltenskodex: eine politische Kampfansage
Italien sollte den Verhaltenskodex ausarbeiten und über den Sechs-Punkte-Plan sollte dann beim Treffen der EU-Innenminister am Donnerstag in Tallin beraten werden. Der Zeitung Die Welt ist nun der unter Leitung des italienischen Innenministers Marco Minniti entstandene „Verhaltenskodex für die an den Rettungseinsätzen für Migranten im Meer beteiligten NGOs“ zugespielt worden. Man habe ihn vorab aus dem Ministerium erhalten, berichtet die Zeitung.
Anders als am Brenner ist man hier mittendrin in einer sich abzeichnenden Eskalation. Die NGOs haben zur Stunde noch nicht auf die Veröffentlichung reagiert, da es sich ja auch nicht um ein offizielles Dokument handelt. Abzusehen ist, dass sie sich über einige Punkte entrüsten werden. Zumal sie schon im Februar einen gemeinsamen Verhaltenskodex ausgearbeitet hatten.
Das italienische Papier kann aus ihrer Sicht nur eine politische Kampfansage bedeuten, die laut der NGOs aufgrund von „konstruierten Vorwürfen“ erstellt wurde. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie auf unterschiedliche Weise mit den Schleusern kooperieren. Die NGOs verweisen dies ins Land der Fabel. Tatsächlich gibt es bislang vor allem Anklagen, aber keine Beweise. Wie es in einem Fall einer NGO in Dresden offen gezeigt hat, wo die Staatsanwaltschaft bereits gegen „Mission Lifeline“ ermittelt hat aufgrund unhaltbarer Vorwürfe.
Die libysche Küstenwache als martialische Abschreckung
Mit den Vorwürfen wird politisch Druck gemacht. Das Ziel wird im Verhaltenskodex angesprochen: Bahn frei für eine robuste Abwehr von Flüchtlingen und Migranten zwar nicht mit Panzern, aber mit martialischen Mitteln. Es geht darum, der libyschen Küstenwache einen möglichst großen Aktionsfreiraum zu verschaffen, wie schon die erste Auszüge verdeutlichen.
Elf Punkte enthält der Kodex. Oberstes Gebot ist es, nicht in libysche Gewässer zu fahren. Dies sei nur in absoluten Ausnahmensituationen genehmigt. Genauso dürfe die Arbeit der libyschen Küstenwache in ihrem Hoheitsgebiet nicht behindert werden.
Nun liest sich das wie eine selbstverständliche Forderung. Die libysche Küstenwache ist schließlich zuständig. Die Selbstverständlichkeit, dass hier Recht und Ordnung genüge getan wird, bekommt erste Risse, wenn man sich die Vorwürfe vor Augen hält die gegen die libysche Küstenwache erhoben werden. Sie sind immerhin bis vor den Internationalen Strafgesichtshof in Den Haag gelangt.
Der prüft nun, ob gegen die libysche Küstenwache ermittelt werden kann, teilt die NGO Sea-Watch mit, die die Klage angestoßen hat. Ihr Vorwurf: „In mehreren Fällen hatte die sogenannte Libysche Küstenwache in internationalen Gewässern Retter*innen und Flüchtende in Lebensgefahr gebracht, um unter Einsatz von Waffengewalt Flüchtende nach Libyen zurückzubringen – ein klarer Verstoß gegen das international gültige Zurückweisungsverbot.“
Einen solchen Vorfall kann man sich auf YouTube anschauen. Inwieweit hier eine lebensbedrohliche Situation vorlag, wie dies von den NGO-Mitgliedern herausgestellt wird, vermag der Autor nicht einzuschätzen. Das ist Sache von Spezialisten und Gerichten. Unübersehbar ist, dass die libysche Küstenwache mit der Schockwirkung arbeitet und mit Kriegsgerät.
Die Schmutzarbeit für die Europäer machen
Das ist in einem größeren Bild von Bedeutung, zu dem einmal die Ausbildung der libyschen Küstenwache in Zusammenarbeit mit EUNAVFOR MED gehört, die Wünsche der Libyer nach mehr Bewaffnung und das Fehlen der Kontrollen zur Einhaltung von internationalen völker- und seenotrechtlichen Standards.
Zum anderen gehört zu dem größeren Bild, dass davon auszugehen ist, dass Mitglieder der Küstenwache in enger Beziehung zu den Milizen in Tripolis stehen. Das kann, wie manche militärische Aktionen, die in Libyen in diesem Jahr von der Einheitsregierung durchgeführt wurden, welche ebenfalls die Rückendeckung Italiens hatten, zu unguten Verbindungen mit islamistischen Milizen führen (vgl. dazu „Extremes europäisches Interesse an einer Lösung).
Man könnte die Entwicklung derart zusammenfassen: Die libysche Küstenwache soll die Schmutzarbeit für die Europäer machen, durchaus mit militärischen Mitteln. Die Überschrift dazu ist, dass es sich um einen „Krieg“ gegen die Schleuser handelt. Auf dem Meer ist dies wohl nicht immer so eindeutig. Aus Sicht der Flüchtlinge/Migranten kann das den Anschein annehmen, dass auch Krieg gegen sie geführt wird.
Forderungen und „Märchen“
Flüchtlinge können zukünftig nur in wirklichen Notfällen an Schiffe der italienischen Küstenwache oder internationaler Missionen übergeben werden. Die Retter müssten die nächsten Häfen selbst anlaufen.
Ausschnitt aus dem Verhaltenskodex, Die Welt
Für die viele NGO-Schiffe dürfte dies nicht durchführbar sein. Sie sind zu klein, um viele Flüchtlinge oder Migranten aufzunehmen. Sie brauchen die größeren Schiffe.
Kontakte zwischen Rettern und Schleusern sind verboten: weder Telefonate noch Lichtsignale, die das Einschiffen der Flüchtlingsboote an libyschen Küsten noch motivieren, dürfe es geben.
Ausschnitt aus dem Verhaltenskodex, Die Welt
Nach Aussagen von NGOs sind, wie es auch in ihrem Verhaltenskodex nachzulesen ist, Kontakte zu Schleusern ohnehin verboten. Die Telefonate werden mit der zuständigen Seenotrettungsleitstelle in Rom, dem MRCC, geführt. Das sei die Notrufnummer. Rettungen erfolgen über das MRCC oder durch Zufallsfunde, worüber dem MRCC umgehend Bescheid gegeben werde. Die Vorwürfe der Absprachen seien aus Märchen, ist aus den Kreisen der NGOs zu hören. Ihre Satelliten-Telefonnummern seien nur untereinander bekannt. Bei jeder Rettungsaktion sei das MRCC involviert.
Die Lichtsignale seien auf hoher See aus Überlebensgründen notwendig, anderseits aber viel zu schwach, um weit zu strahlen, und wegen der Erdkrümmung an der Küste nicht zu sehen.
Die Rettungen sind nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen eine Verpflichtung. Aus den Regelungen sowie aus europäischer Rechtssprechung folgt, dass sie die Geretteten in sicheres Land bringen müssen. Tunesien würde als solches gelten, Ägypten, Algerien oder Marokko, Libyen nicht, wegen der unzumutbaren Bedingungen in den Haftanstalten für irreguläre Migranten/Flüchtlinge.
Ausweichmöglichkeiten
Tunesien, Ägypten und die anderen genannten nordafrilanischen Staaten weigern sich aber, die Flüchtlinge aufzunehmen. Der deutsche Außenminister Gabriel war jüngst in Libyen, um mit Geldversprechen dafür zu sorgen, dass die Bedingungen in den „Detention-Centers“ besser werden und menschengerechte Standards bekommen. Dies ist auch ein Ansatzpunkt im genannten Sechs-Punkte-Plan, der den EU-Innenministern vorgelegt wird.
Der darin nicht ausdrücklich genannte Planungspunkt heißt „Abschreckung“. Er steht mit dem geforderten Verhaltenskodex der NGOs in engster Verbindung. Spekuliert wird darauf, dass die Gängelung der NGOs, am besten deren Vertreibung, dazu führt, dass eine Art militärischer Abschirmung mit robustem Vorgehen, die mehr Tote zur Folge hat, dafür sorgt, dass der Fluchtweg von Libyen nach Italien „weniger attraktiv“ oder unmöglich wird.
Spekulativ ist allerdings auch möglich, dass sich das bestens organisierte „Fließband“ des Handels mit Migranten eine andere Route nach Europa ausdenkt, die aber ebenfalls gefährlich ist, zum Beispiel über den Atlantik.