Anmerkungen zu Peter Boman
Materialien zur Russischen Revolution 1912-1918
Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Heft 10/2017, 170 Seiten
im Web veröffentlicht unter http://materialien1917.org/
Für wen schreiben wir? Dieser Text über die Russische Revolution von 1917 und ihre Vorgeschichte ist einerseits von Interesse für diejenigen, die jetzt um die 60 oder älter sind, denn sie haben die Zeiten erlebt, in denen jede Linke welcher Art auch immer um eine Stellungnahme zum Bolschewismus nicht herumkam. Und es gab ja nicht wenige leninistisch geprägte Gruppierungen, die Fellow traveller waren oder Geschichte geklittert haben wie sie nur konnten, bevor sie den Offenbarungseid leisten mussten. Auch und gerade für diejenigen, die sich mit 1917 und den Folgen bereits intensiv auseinandergesetzt haben, beschreibt der Text von Peter Boman, über spannende Details hinaus, einen systematischen Perspektivenwechsel, dem es nicht um Arrangements geht, sondern um die Frage, was ist aus heutiger Sicht auf 1917 noch wichtig, wenn über die sozialen Grundlagen revolutionärer Prozesse nachgedacht werden soll? Und um die Frage nach historischen Alternativen zum Bolschewismus und zur „Entwicklungspolitik“ überhaupt.
Ich weiß nicht, ob jemand* aus dem Kreis unserer jüngeren Freund*innen, die einen mehr selbstbezogenen Begriff von Autonomie und Subjektivität und eigene Visionen entwickeln, einen Text über die Russische Revolution noch lesen möchte. Aber wenn einen, dann diesen! Nicht nur wegen der Ereignisse, die in diesem Text in verständlicher Sprache, eine Freude zu lesen, geschildert werden, sondern auch, weil hier Fragen aufgeworfen werden, die über Russland selbst weit hinaus gehen: Wie entstehen Subjektivität und soziale Handlungsräume? Oder: Gibt es Fortschritt ohne Gewalt?
Bei der Lektüre drängen sich Fragestellungen, die unmittelbar mit der jüngsten Geschichte, etwa der Arabellion und dem Sommer der Migrationen, verknüpft sind, immer wieder auf – Mobilität und Migrationen stehen im Mittelpunkt der Darstellung: „A Whole Empire Walking“ – die transuralische Migration und die Mobilität der Bauernarbeiter*innen, Desertion und Flucht, der Handel der „Sackmenschen“ oder die Mobilität der Lebensmittelrevolten entlang der Bahnstrecken. Ein lebendiges Panorama von etwas, das neuerdings mit dem Begriff „mobile commons“ recht treffend bezeichnet wird (Papadopoulos und Tsianos, 2013). Auch Parallelen der migrantischen Netzwerke in Russland zu den heutigen im arabischen Raum werden reflektiert, mit Bezug auf das „kollektive Handeln nicht-kollektiver Akteure“, das Asef Bayat als „quiet encroachment“ bezeichnet hat.
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Der Autor gibt nicht vor, die Wahrheit gepachtet zu haben. Die Verweise sind offen, (mit-)lesenswerte Bücher werden hervorgehoben und zitiert, offene Fragen werden benannt, nichts wird zugeschüttet. Eigentlich die ideale Lektüre auch für „Einsteiger“, nicht nur für Fortgeschrittene. Die Klassiker zur Russischen Revolution werden erwähnt, ihre Grenzen werden aufgezeigt. Die Öffnung der russischen Archive in den 90er Jahren hat zu einer Fülle von überwiegend englischsprachigen Darstellungen und Neubewertungen geführt, die mit großer Kenntnis bis ins Detail eingearbeitet werden. Natürlich sind die Bücher von Teodor Shanin, Orlando Figes, Peter Gatrell oder Lynne Viola ein Bestand, mit denen sich der Autor redlich beschäftigt. Er fordert aber: „Wir brauchen eine neue Diskussion“.
„Die Hauptthese lautet, dass die marxistisch-leninistische-Diktatur eine Antwort auf die ungeheure Stärke der Bauernautonomie und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Kämpfe und Widerstandsformen war. Der herrschenden Macht ging es darum, die aus der sozialen Gegenmacht der Bauerngesellschaft kommende Sozialrevolution mit einer zentralistischen Form der Industrialisierung zu zerbrechen, und damit den lange fälligen und ersehnten Anschluss an westlichen „Fortschritt“, jedoch unter dem sozialistischen Vorzeichen des allgemeinen Wohls zu erkämpfen. Eigentlich ist es eine ziemlich simple Grundthese …“ (S. 4)
Die „Bauernautonomie“, das ist das zentrale Thema des Texts, radikalisiert und erneuert sich unter den Einwirkungen der Moderne, besonders des Eisenbahnbaus und einer neuen Zentralität der Entwicklungsplanung. Die Vorgeschichte der Revolution wird im Text nur gestreift (vielleicht ist es deshalb erlaubt, die Daten 1861 und 1905 hier auch zu nennen und auf Shanins großes Werk, The Roots of Otherness, 1985, zu verweisen). Die Formen bäuerlicher Renitenz verlängern sich hinein in die Fabriken in Petersburg und in Moskau und den umgebenden Städten. Statt der Artels, den von den Dörfern saisonal einreisenden Bauernarbeiter*gruppen, treten Fabrik- und Stadtteilkomitees in Erscheinung, auch mehr und mehr Frauen, im Alltag, in den Komitees und in den Nahrungsmittelrevolten. Die Desertion, zurück auf die Dörfer, nimmt im Krieg unglaubliche Ausmaße an. Der Hunger treibt die Menschen, aber viele haben eine Zuflucht: Zwei Drittel der Menschen aus Petrograd und die Hälfte der Menschen aus Moskau fliehen zwischen 1917 und 1920 vor dem Hunger zurück auf die Dörfer, wo sie kampferprobt und mit neuen Erfahrungen die alten patriarchalen Strukturen aufbrechen und erneuern.
Die „Oktoberrevolution“ ist ein historiographisch überhöhtes, politisches Ereignis. Bomann spricht in diesem Zusammenhang nicht von einem Putsch, sondern er beschreibt die soziale Revolution als einen Prozess, in dem die Bolschewiki im Dialog mit den Massenforderungen eine Machtposition erlangen. Die Bolschewiki versuchen, die Bewegungen von innen her unter Kontrolle zu bekommen und nutzen ihre Position, um den Sommer der Unregierbarkeit und Blockierung nach dem Kornilow-Putsch zu beenden. Die Kehrseite wird dann im Dezember 1917 spürbar, als die Bolschewiki beginnen, sich gegen die aus der „Bauernautonomie“ erhobenen Demands zu stellen. Viel lieber beschreibt Peter Boman in vielen Farben den „Sommer der Anarchie“, der im Februar 1917 beginnt und bis zum Winter andauert. Zusammenfassend schreibt Boman zur Februarrevolution und zu den Monaten bis Oktober:
„Streiks, Straßenkampf und Lebensmittelrevolte in Petrograd waren die ersten Kampfschritte, dann am fünften Tag, am Montag, den 27. Februar, kam als viertes die Befehlsverweigerung der Soldaten und deren Teilnahme am Straßenkampf hinzu. Nun brachen die militärischen Befehlsketten von oben innerhalb von weniger als 12 Stunden zusammen. Nach dem Sieg auf der Straße wurde fünftens eine Delegiertenversammlung gegründet, die aus den Fabriken und Kasernen beschickt wurde, genannt Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Damit vollendeten die Massen am 7. Tag das Werk dieser Petrograder Revolution. Und konnten ruhen – ein bisschen. Aber da soziale Prozesse Zeit brauchen, sollte diese Revolution mit Stilllegung der Repression nur der erste Schritt zur Entfaltung sozialer Bewegungen sein, die bis zum Ende des Jahres offensiv anhielten. Im Laufe des Jahres waren die Menschen auf den Dörfern am Zuge, indem sie in direkter Aktion das Land im gesamten Russischen Reich auf Dorfebene neu verteilten. In paralleler Teilnahme an diesen befreienden Taten lösten die Soldaten die Armee ebenfalls in eigener Regie auf, indem sie sich langsam, aber sicher, nach Hause absetzten (siehe dazu oben das Kapitel zur Desertion). Der Run nach Hause nahm sofort nach der Petrograder Revolution im gleichen Maße zu, wie das Land verteilt wurde, über alles Bisherige an Desertion hinaus. Alle Bewegungen zusammengenommen vom Februar bis zum Oktober sind die russische soziale Revolution, nicht nur Großereignisse im Februar oder Oktober. Dann erscheint der rote Oktober mit einem doppelten Charakter: er war einerseits Höhepunkt der revolutionären Entwicklung und staatliche Anerkennung der erreichten Kampfergebnisse, aber gleichzeitig Beginn von Eindämmung und Spaltung, und bekommt damit auch einen gegenrevolutionären Charakter.“ (S. 54 f.)
Der erste Teil der „Materialien 1017“ beschreibt, als Ausgangsebene, exemplarische Kampfszenen aus den Jahren 1912 – 1916, der Kernabschnitt die Revolution 1917 und in einem dritten Abschnitt wird die Gegenrevolution der Jahre 1917/18 beschrieben. Die sozialrevolutionäre Orientierung, Bomans, macht einerseits den Blick auf die sozialen Prozesse über ein lockeres Panorama wie bei Figes hinaus überhaupt erst möglich. Andererseits tauchen bisweilen Begriffe aus früherer Zeit auf, wie „die Klasse“,„Klassenzusammensetzung“ oder „revolutionäres Subjekt“, die den post-operaistischen Analysen und Debatten aus den 1970er und 80er Jahren entstammen und die zwar das Interesse und die Zielrichtung der Forschungen signalisieren, die aber nach ihrem Wert für eine Untersuchung der Sozialprozesse in Russland nach der Jahrhundertwende hinterfragt werden müssen. Und, so wäre hinzuzufügen, auch nach ihrem Wert für die Untersuchung der Sozialprozesse in globalen Kontext heutzutage. Die Bauernautonomie hatte Shanin 1972 einer „Awkward Class“ zugeschrieben – eine ungehobelte Widerspenstigkeit, die vieles gut charakterisiert. Aber in der sozialen Revolution treten die Akteur*innen „aus ihren statischen Kategorien heraus, es entsteht ein völlig neues, agierendes Amalgam aus Bauernarbeiter*innen, Bauernsoldaten, Deserteuren, Frontier-Arbeitern, Frauen, Soldatkis etc“. Ein „Laboratorium“ neuer kollektiver Aktionsformen, neuer Subjektivität. Oder in den Worten von Figes: „Es war, als ob die Menschen auf der Straße plötzlich durch eine weites Netzwerk von unsichtbaren Fäden miteinander verbunden wären, und das war es auch, was ihren Sieg gewährleistete.“ (S.63) Solange Begriffe dafür noch nicht gefunden sind (und sie werden bestenfalls in den konkreten Kämpfen gefunden, und nicht von Soziologen und Historiker*innen), hat eine möglichst dichte Beschreibung, wie Boman sie an vielen Stellen liefert, noch am besten Bestand.
Nur sporadisch geht der Text darauf ein, dass die russische Revolution in einem weltweiten Zusammenhang von Kämpfen stand, den Kämpfen der Wobblies in den USA, der Revolution in Mexiko oder den Ereignissen in China. Kämpfe von Menschen, die durch die globale Expansion des Kapitals mobilisiert, aber nicht in ein soziales Kapitalverhältnis integriert waren. Die transnationale Mobilität dieser Kämpfe ist noch immer nicht gut untersucht. Die für Russland so gut dokumentierten Ereignisse haben in dieser Hinsicht exemplarische, und geradezu eine paradigmatische Bedeutung. Der Leninismus und die marxistisch überdeterminierten Entwicklungen in Deutschland haben die Wahrnehmungen nachfolgender Generationen überlagert und den Blick auf die großen revolutionären Bewegungen den beginnenden 20. Jahrhunderts vielfach verstellt. Peter Boman verweist an dieser Stelle auf das Buch von Detlef Hartmann, Krise Kämpfe Kriege Band 2, das in Kürze erscheinen soll und das in dieser Hinsicht hoffentlich einen ausführlichen Überblick geben wird.
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Im dritten Abschnitt des Texts geht es um die bolschewistische Gegenrevolution, wobei die Eindämmung der Versorgungsmigration und das Zurückdrängen der Arbeiter*innenkontrolle in den Fabriken ausführlich dargestellt werden. Wichtigster Gegner des leninistischen Staats aber war „das Dorf“. Zusammenfassend schreibt Boman:
„Uns geht es darum, die soziale, nicht politische Gegnerschaft zum frühen leninistischen Staat zu begreifen und die vielgestaltigen Existenzkämpfe und Überlebensstrategien als Klassenkämpfe einfach wahr- und ernst zu nehmen. Dabei zeigt sich, dass, ein Augenmerk auf die Mobilität von Bauern, Arbeiter*innen und Soldaten zu richten, neue Verständnisse für sozialen Alltags-Kampf ermöglicht und sehr ergiebig ist, um die Breite des Widerstands zu sehen; ebenso wird deutlich, wie der Theorie-Krampf (mit „r“) abzulehnen ist, aus dem Dorf eine Oberschicht der Kulaken als Klassengegner herausschneiden zu wollen. Nicht die zahlenmäßig kleine Kulakenschicht, sondern das Dorf als Ganzes war der Klassengegner des Regimes, aber mit umgekehrter Bewertung, nämlich als dörflicher Antikapitalismus und antistaatlicher Kampf gleichermaßen. Das Dorf mit seinen revolutionär gewendeten Traditionen ist als epochaler und global wirksamer Widerstandsort zu betrachten, der Vergleichsmaßstäbe fur antikoloniale Bewegungen im 20. Jahrhundert liefert.“
(S. 113)
Auch ohne dass Boman, wie er es geplant hatte und vielleicht noch nachholen wird, die Zeit des Holodomor mit behandelt (und dies wäre auch in Hinsicht auf den Großen Hunger in China von Bedeutung), versteht er es doch, nicht nur das Dorf, sondern den Hunger und „den Überlebenskampf“, gegen Getreidemonopol des Staats und gegen Requisitionen, als entscheidendes Terrain der Kämpfe zu interpretieren:
„Auf dem Lande hatten sich unabhängige befreite Zonen gebildet; kleine freie Bauernrepubliken waren ohne Staatsanwesenheit entstanden, die darauf schauten, welche administrativen Maßnahmen in den kleineren und größeren Städten eingeführt wurden, denen gegenüber sie skeptisch gewesen waren, zu denen sie aber durch die heimkehrenden Soldaten in Verbindung standen. Der selbstorganisierte Handel mit Lebensmitteln, ohne Firmen selbstredend, stand im Zentrum (Kriegskommunismus) und wurde durch die Militarisierung dieses Bereichs durch die Politik des staatlichen Getreidemonopols und Requisitionen überformt und bekämpft. Von daher kommen wir darauf, den existenziellen Kampf vieler einzelner um das physische Überleben an die erste Stelle zu setzen (volkstümlich als „Recht auf Leben“, als Existenzrecht ausgedrückt), um von daher das Schicksal der Revolution zu begreifen. Darin werden wir eine Kontinuität zu den Kampfzyklen der Zeit davor entdecken, an deren Inhalten sich auffällig wenig geändert hatte. Schon im Kampf gegen den Zarismus und gegen provisorische Regierung hatte der „Überlebenskampf“ gegen das Morden an der Front sowie gegen die erbärmlichen Ernährungsverhältnisse in den Heimatorten die sozialen Bewegungen zusammengeführt; ganz verschiedenartige Solidarisierungen hatten sich quer durch die Massen an ihren Lebens- und Arbeitsorten, an den sozialen Kampffronten ergeben und zu großartigen Durchbrüchen gegen die herrschende Klasse geführt.“
(S. 115 f.)
„Food First“, ein Thema von Aktualität in ungeheurem Ausmaß, und zwar nicht nur im Sinne des Versorgungsmanagements. Sondern die Frage ist: unter welchen Bedingungen gelingt es den Menschen, ihr „Droit de subsistance“ zu verteidigen und in antistaatliche, antikapitalistische Strategien umzusetzen und sich gegen die Politik der Vertreibungen und des Sterbenlassens im globalen Kapitalismus zur Wehr zu setzen? Die Geschichte der sozialen Revolution in Russland bietet, so wie Peter Boman sie schreibt, dazu ganz wichtige Hinweise. Das betrifft die Persistenz und Transformation dörflicher Sozialstrukturen und den „Überlebenskampf“ als Movens ebenso wie die Migration. Es wird aber auch deutlich, welch eine entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang Migrationsbeschränkungen und Zonierungen spielen.
W.B.
Lesehinweis: Die besten Überblicke zur Russichen Revolution
Altrichter, Helmut (1997, 2016): Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn etc.
Gatrell, Peter (1999): A whole Empire walking. Refugees during World War I, Bloomington and Indianapolis, (Paperback 2005)
Read, Christopher (2013): War and Revolution in Russia, 1914 – 22. The Collapse of Tsarism and the Establishment of Soviet Power, London
Wade, Rex A. (2017): The Russian Revolution, 1917, 3rd. Ed., Cambridge