01. Juli 2017 · Kommentare deaktiviert für „Marokkos Norden steht auf“ · Kategorien: Marokko · Tags:

NZZ | 29.06.2017

Marokkos aufmüpfiger Norden probt erneut den Aufstand. Die Forderungen nach Arbeit und Würde sind verständlich. Doch die Zentralmacht reagiert mit Festnahmen und Überwachung.

von Ulrich Schmid, Hoceima

Ramadan im Sommer. Nichts regt sich in Imzouren, einer Stadt im Norden der marokkanischen Rif-Region. In der erbarmungslosen Sonne verglühen Farben, Bewegungen und Gedanken. Kaum vorstellbar, dass hier noch am selben Abend Tausende auf die Strasse gehen und ihrer Wut auf Regierung, Willkür und Korruption freien Lauf lassen werden. Und doch kommt es so, und niemand weiss das besser als die Regierung selber. Dicht an dicht stehen in den Seitenstrassen die Mannschaftswagen. Aus Verwaltungsgebäuden dringen barsche Befehle, Hundertschaften der Polizei werden auf ihren Einsatz vorbereitet.

Umfassende Überwachung

Imzouren ist keine Ausnahme. Die ganze Rif-Region befindet sich im Belagerungszustand in diesen Wochen. Seit am 28. Oktober letzten Jahres in der Mittelmeerstadt Hoceima der Fischhändler Mouhcine Fikri in der Presse eines Kehrichtautos zerquetscht wurde, ist die Region nicht mehr zur Ruhe gekommen. In Hoceima selber, wo die grössten Kundgebungen stattfanden, griff die Polizei im Juni hart durch und verhaftete Dutzende von Aktivisten, darunter fast die gesamte Elite der Hirak al-Shabi, der «Volksbewegung», in der sich die Unzufriedenen zusammengeschlossen haben. Das hat gewirkt. Seit Ende Mai der Hirak-Führer Nasser Zafzafi festgesetzt wurde, haben sich die Demonstrationen nach Imzouren verlagert. In Hoceima ist die Polizeipräsenz erdrückend. Sämtliche Zugänge zu grösseren Plätzen sind blockiert, Kundgebungen unmöglich.

Doch erloschen ist der Widerstand nicht. Im Café Basilika im Zentrum Hoceimas treffen wir Rafik Hamdouni, einen Hirak-Führer. Er ist Berber, 40 Jahre alt, Spezialist für internationales Recht, bezeichnet sich als «Sozialist, Kommunist, Demokrat», derzeit arbeitslos und Führungsmitglied in der Association Nationale des Diplômés Chômeurs du Maroc, einer Selbsthilfegruppe für akademische Arbeitslose. Nebst alledem ist Hamdouni auch bescheiden. Er sei eigentlich zweite Garde im Hirak, sagt er entwaffnend. Aber da die erste im Gefängnis darbe, sei er eben aufgerückt. Glühend und irgendwie rührend klingt das Plädoyer des Kommunisten für Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Er will keine Verstaatlichungen, keine Diktatur des Proletariats und keine Planwirtschaft. Hamdouni will viel Simpleres: «Arbeit. Ein Leben in Würde. Eine Universität im Rif. Einen Entwicklungsschub für die ganze Region.»

Regierungen sind stets gut beraten, strukturschwache Gebiete zu fördern. Doch ob die marokkanische Regierung zu dieser Einsicht durchgedrungen ist, kann man sich fragen. Marokko präsentiert sich der Welt gerne als Nation auf dem Sprung in die Demokratie, als Beispiel dafür, dass es möglich war, die liberalen Anliegen der Arabellion 2011 mit dem Islam und den Traditionen des Landes zu vereinen. Insider aber schildern die Herrschaft König Mohammeds VI. als mafiös, korrupt und repressiv.

Aufmerksam ist die Machtelite im royalen Dunstkreis auf jeden Fall. In den Lobbys sämtlicher Hotels in Hoceima wimmelt es von Sicherheitsleuten, die auf Polstergruppen ihre Kommunikationsgeräte streicheln. Dies sei nun endlich der erwartete Korrespondent aus der Schweiz, sagt einer so laut, dass es der Erwartete mitbekommen muss. Am Abend erlöschen auf dem Handy des Korrespondenten nacheinander Whatsapp, Viber und Skype. Um zwei, drei und vier Uhr nachts schrillt das Telefon, und eine Männerstimme erkundigt sich halb besorgt, halb mokierend, ob denn auch alles in Ordnung sei.

Es ist nicht viel in Ordnung, nicht in Marokko, und in Hoceima schon gar nicht. Es gab Polizeibrutalität. Rafik Hamdouni ist wortkarg, was seine Erlebnisse angeht, aber auch er sei gefoltert und bedroht worden. Er hat Angst, seine Familie möchte, dass er sich anderem zuwendet, Unverfänglicherem. Doch Hamdouni will weitermachen. Lohn wäre ihm, wenn der König in Rabat «echtes Interesse» zeigte, wenn er Emissäre schickte mit offenen Ohren für die Sorgen der Menschen. Aber kann Hirak überhaupt mit einer Stimme sprechen? Hamdouni zögert. Rund fünfzig Gruppen vereinigt die Bewegung, von marxistischen über liberale bis hin zu islamistischen. Ein gemeinsames Programm ist Illusion. Aber auf eine «Strategie der Strasse» habe man sich einigen können, sagt Hamdouni. «Fast, wenigstens.» Denn während linke, liberale und bürgerliche Gruppen in erster Linie an der Taktik und den Parolen interessiert seien, wollten die Islamisten immer nur eins: Frauen und Männer trennen.

«Place Mohammed VI.» heisst der Hauptplatz in Hoceima. Die Unzufriedenen nennen ihn «Place des Méritants», «Platz der Verdienstvollen». Über ihn spazieren wir mit Abdel Majid Azriah, einem Rechtsanwalt mit leiser Stimme und argumentativer Trittsicherheit. Azriah ist Advokat vom Scheitel zur Sohle, keine Sekunde gerät er in Gefahr, irgendjemandes Zorn zu erwecken. Dass er Mitglied einer Menschenrechtsliga ist, «kann niemanden stören». Dass er junge Leute verteidigt, «hat mit Politik nichts zu tun», das sei im marokkanischen Justizsystem so vorgesehen. Angst vor dem Zorn der Macht hat er keine, warum denn auch? «Ich tue meine Pflicht.» Das Justizsystem hält Azriah für unabhängig. Reformieren möchte er es dennoch, und zwar durch die Integration der Anliegen von Unzufriedenen, auch von Islamisten. Es müsse ein Gleichgewicht zwischen Tradition und Moderne hergestellt werden.

Die Zurückhaltung des Advokaten Azriah entwertet die Anliegen der Demonstranten nicht, aber sie ist ein Fingerzeig auf den Sonderfall Marokko. Die Unzufriedenen im Land sind weder Sektierer noch Umstürzler, sondern in ihrer Mehrzahl besonnene Leute, die sich an Korruption und Willkür stossen. Mit wem man auch spricht: Es wird französisch elegant, zurückhaltend und verantwortungsbewusst argumentiert, mit Abscheu werden die «Barbareien» in Syrien, im Irak und in Jemen erwähnt. So etwas darf hier nicht geschehen, da ist man sich einig.

Angst vor Märtyrern

Die Contenance der Revolteure hat ihre Entsprechung aufseiten der Macht. Mohammed ist weder ein Putin noch ein Kim Jong Un. Kritische Journalisten und Aktivisten haben eine Überlebenschance. «Der König will keine Toten», sagt uns Maati Monjib, der Präsident der Menschenrechtsgruppe Freedom Now. Monjib ist Professor für Afrikastudien und Politische Geschichte an der Uni Rabat, und er weiss, wovon er spricht. Bis heute ist er Ziel staatlicher Diffamierungskampagnen. In über 200 Artikeln regierungstreuer Zeitungen wurde er als Dieb, Schwuler und Häretiker diffamiert. Er wurde juristisch verfolgt wegen Gefährdung der Staatssicherheit und illegaler Entgegennahme ausländischer Gelder. Berühmt geworden ist Monjib durch seinen Hungerstreik 2015, mit dem er gegen eine Ausreisesperre protestierte. Dass er sich durchsetzte, ausreisen konnte, dass er seinen Job behalten hat, ein gutes Leben lebt und seinen Gast nicht in Paris, sondern in der Altstadt Rabats bewirtet, ist bezeichnend. In Moskau hätte man ihm wohl eine Kugel gegeben. Monjib hat keine Angst. «Sie wollen keine Märtyrer.»

Monjib kennt die Aktivisten in der Rif-Region gut, und er argumentiert wie sie. Dies sei keine «Arabellion», sagt er, sondern vor allem ein Aufbegehren der Rif-Berber. Die Berber sind weder Araber noch eine Minderheit, sie sind übers ganze Land verteilt, stellen je nach Zählung die Hälfte der Bevölkerung oder mehr, und nur etwa die Hälfte von ihnen ist arabisiert. Und anders als in der Arabellion 2011 sind die Berber in ihren politischen Forderungen moderat. Sie wollen weder einen Systemwechsel noch eine islamistische Revolte oder gar eine Abspaltung. «Wir sind keine Separatisten, bon Dieu!», sagt Hamdouni und hebt erschrocken die Hände. Zwar sind die meisten Demonstranten in Hoceima und Imzouren Muslime. Hirak ist dennoch eine säkulare Sammelbewegung. Die Imame mögen die Geschlechter trennen wollen, doch zu sagen haben sie vorderhand wenig. Der grosse Held der Unzufriedenen, der Hirak-Führer Zafzafi, wurde festgesetzt, nachdem er einen Freitagsprediger rüde unterbrochen und als Lakaien «im Solde des Palastes» gescholten hatte. Das war zu viel. Mohammed VI. ist nicht nur König, sondern auch «Führer der Gläubigen».

Die Vorteile des Königs

Diese Rolle nützt der König aus, augenscheinlich nicht ohne Erfolg. Die Demonstranten im Rif erhoffen sich von ihm mehr als von der Regierung. Sie möchten eine Amnestie – vom König. Man trifft in Hoceima und in Rabat viele Unzufriedene, die der Meinung sind, es sei die korrupte Regierung, die die Anstrengungen des Königs hintertreibe.

Tatsächlich stiess Mohammed VI. in der Rif-Region viele Infrastrukturprojekte an und bemühte sich, das Los der Armen zu verbessern. Das ist ein Novum. Sein Grossvater Mohammed V. hatte 1958/59 einen Aufstand in der traditionell aufmüpfigen Region noch brutal niederschlagen lassen, sein Vater Hassan II. ignorierte den Rif während seiner ganzen Amtszeit. Dass die Efforts Mohammeds VI. nicht viel brachten, liegt wohl eher an Schlamperei und Korruption im Staatsapparat als an mangelndem Willen. Man kann diese Analyse als naiv bezeichnen. Maati Monjib, der Afrikanist, hat weniger Sympathie für Mohammed VI., den er als Kopf einer korrupten und «gesamthaft recht grausamen» Machtkonstellation sieht, in deren Umlaufbahnen sich Politiker wie mächtige Geschäftsleute bewegen. Als die grosse sinistere Figur, die im Hintergrund die Fäden zieht, gilt Fuad Ali al-Himma, ein Intimfreund des Königs und Gründer der Partei «Authentizität und Modernität», die als progressiv, laizistisch und pragmatisch gilt, aber so richtig immer nur eines ist: pragmatisch.

Der Machtclique um den König und Fuad Ali al-Himma spielt in diesen Tagen vieles in die Hände. Sie profitiert davon, dass der Monarch in Teilen des Volkes noch immer als unparteiische, über den Niederungen profaner Politik schwebende Figur gesehen wird. Dabei dient der Parti de la justice et du développement, die Regierungspartei, die als moderat islamistisch gilt, dem Monarchen als willkommenes Ventil für religiös motivierten Unmut. Die allgemeine Angst vor einem Abgleiten in «syrische Zustände» hilft dem König, der sich als Bollwerk gegen den Jihadismus präsentiert. Und es nützt ihm, dass nicht nur die verbotene, aber tolerierte Islamistenpartei Al-adl wal-ihsan («Gerechtigkeit und Wohltätigkeit») um die Stimmen der Opposition buhlt, sondern dass die vielen zerstrittenen Linksparteien dasselbe tun. Doch allzu sicher sollte sich der König nicht fühlen. Der politisch-gesellschaftliche Grundkonsens in Marokko bricht weg. Fast zwei Drittel nehmen an der Politik nicht mehr teil. Die Legitimität des Regimes schwindet. In dieser Lage kann auch eine so gut begründete, so bescheidene Revolte wie die im Rif rasch zur Gefahr werden.

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