26. April 2017 · Kommentare deaktiviert für »Ich fühlte mich erst mal hilflos« · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: , ,

Junge Welt | 26.04.2017

Jeden Tag versuchen Flüchtende, von Tunesien und Libyen über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Seenotretter tun ihr Möglichstes, ihnen zu helfen. Gespräch mit Thomas Kunkel

Von Claudia Wrobel

Sie waren am Osterwochenende als Seenotretter auf dem Mittelmeer und sind seit Anfang der Woche wieder in der BRD. Besonders die Ostertage entwickelten sich auf See dramatisch, viele Flüchtende, die versuchten von Libyen nach Italien zu kommen, sind ertrunken. Doch bevor wir über die Situation an dem Wochenende reden, schildern Sie uns doch bitte den normalen Einsatz als Seenotretter, damit wir ein Gefühl dafür bekommen, was an diesen Tagen anders war.

Im vergangenen Jahr war es bei Einsätzen der Sea Eye nur einmal nötig, Menschen an Bord zu nehmen. In der Regel liefen diese Einsätze so ab, dass die Sea-Eye-Besatzung die Boote gesichtet hat oder Positionen durch das Maritime Rescue Co-ordination Centres, eine Art Rettungsleitstelle, in Rom durchgesagt bekommen hat. Wir sind hingefahren, haben Rettungswesten verteilt, die Menschen mit Wasser versorgt oder medizinische Ersthilfe geleistet. In aller Regel standen aber nach wenigen Stunden andere, größere Schiffe zur Verfügung, die diese Schiffbrüchigen aufgenommen haben. So etwas hatte ich persönlich auch erwartet, als wir uns am Gründonnerstag auf den Weg machten. Die Ereignisse haben sich aber drastisch verändert. Wir mussten am Osterwochenende von dem Konzept, das Sea Eye e.V. bis dahin gefahren hatte, permanent abweichen.

Ab wann war das absehbar?

Wir sind mit ein paar Tagen Verzug losgefahren, weil das Wetter sehr schlecht war, wussten dadurch aber auch, dass sich niemand von den Flüchtenden auf den Weg gemacht hatte, wir also auch keine Boote verpassen. Gründonnerstag sind wir im Suchgebiet angekommen, weil ab dann absehbar war, dass auch Boote die libysche Küste verlassen werden. Wir rechneten also damit, dass ab Karfreitag eine größere Anzahl Boote zu erwarten ist, einfach weil zuvor viele Leute dort gewartet hatten. Wir hatten uns also drauf eingestellt, viel zu tun zu haben.

Am Freitag waren Sie also auch schon den ganzen Tag im Einsatz?

Wir haben drei Schlauchboote versorgt. Das war für uns mit viel Aufregung verbunden, weil es die ersten Einsätze waren – aber die Konzepte, die wir eingeübt hatten, haben gut funktioniert, und im Prinzip war das kein Stress. Wir haben ein Boot nach dem anderen mit Rettungswesten versorgt, die Menschen konnten innerhalb von wenigen Stunden von größeren Schiffen aufgenommen werden. Diese waren am Ende des Tages allerdings voll. Im nachhinein haben wir gehört, dass zu dem Zeitpunkt bereits etwa 3.000 Menschen schiffbrüchig waren. Die großen Schiffe der Nichtregierungsorganisationen der zweiten Reihe waren also schon voll. Von zweiter Reihe spreche ich dabei nicht wertend, sondern hinsichtlich der Aufgabenverteilung. Es gibt diejenigen, die wie wir sichten und Erstversorgung machen, und diejenigen, die auch Menschen aufnehmen und an Land bringen.

Und diese zweite Reihe fiel damit also schon ab Freitag aus?

Nach Italien fahren Sie etwa einen bis eineinhalb Tage, und dann brauchen Sie vor Ort noch relativ viel Zeit, um die Formalitäten zu erledigen und die Schiffbrüchigen von Bord gehen zu lassen. Es war also zu erwarten, dass am Wochenende diese Schiffe fehlen würden.

Wie kam es dazu, dass sich an diesem Wochenende so viele Flüchtende auf einmal auf den Weg gemacht haben?

Das hatte mehrere Gründe. Zum einen fing damit die »Hauptsaison« wieder an. Damit meine ich, dass generell die Wetterbedingungen wieder so sind, dass ein Ablegen von der libyschen Küste leichter möglich ist. Außerdem braucht es einiges an Arbeit, die den Winter über erledigt wird, um diese großen, ehemaligen Fischerboote umzubauen, die sich nun wieder vermehrt auf den Weg machen. Wir waren am Samstag an der Rettung eines einzelnen Holzbootes beteiligt, auf dem sich etwa 750 Menschen befanden. Ein Schlauchboot fasst etwa 120 bis 160 Personen. Wenn nun also diese anderen Boote unterwegs sind, erhöht sich damit natürlich auch die Zahl der Menschen auf dem Wasser.

Wie kam es zu dem Einsatz?

Wir haben erst ein kleines Boot mit wenigen Personen gesichtet, die in guter Verfassung waren. Wir haben sie geborgen und an Bord genommen, weil während des Einsatzes ein weiterer Notruf reinkam. Das war soweit unkompliziert. Aber dann kamen wir zu besagtem Holzboot mit etwa 750 Personen an Bord, wo die »Iuventa« von Jugend rettet e. V. schon vor Ort war. Sie hatten Rettungsinseln im Einsatz und haben versucht, die Leute zu bergen. Die Situation war aber extrem unruhig und ist eskaliert: Auf dem Deck sind Menschen in Panik geraten, ins Wasser gesprungen – ohne Rettungswesten oder mit solchen libyschen »Rettungswesten«.

Was ist das?

Sie können in Libyen »Rettungswesten« kaufen, die zwischen 50 und mehreren hundert Dollar kosten, je nachdem ob Sie die auf dem Markt erstehen oder erst am Strand. Das sind die blau-gelben, die man manchmal auf Fotos sieht. Wir haben die auseinandergeschnitten: Das sind ganz normale Westen aus einem dünnen Stoff, in den einige Lagen Packfolie eingelegt wurden. Das saugt sich mit Wasser voll und ist eine zusätzliche Gefährdung.

Zurück zu dem Rettungseinsatz: Wie konnten Sie in so einer Situation überhaupt den Überblick behalten?

Es war unheimlich laut: Wir waren im Schlauchboot direkt davor, aber die Besatzung der »Sea Eye«, die noch eine halbe Seemeile weg war, konnte das panische Schreien der Menschen hören. Als ich mich umgeschaut und die Freundinnen und Freunde der »Iuventa« gesehen habe, die bereits mit der Rettung begonnen hatten, fühlte ich mich erstmal sehr hilflos. In dem Moment habe ich realisiert, dass wir da ganz alleine waren und auf uns gestellt – zusammen mit sehr engagierten Helfern, die aber – der Name sagt es schon: Jugend rettet e. V. – alle blutjung sind. Das war ein ganz starkes Gefühl der Ohnmacht, aber das änderte sich schnell, als ich gesehen habe, wie stark und professionell sowohl die Leute von der Iuventa, als auch das eigene Team agiert haben.

Von welchem Zeitraum sprechen wir bei so einem Einsatz?

Das Szenario ging über mehrere Stunden, von etwa acht Uhr bis um 14.20 Uhr ein Versorgungsschiff der Bundeswehr dazukam. Zu dem Zeitpunkt waren noch etwa 200 Menschen auf dem Holzboot – es war aber stabil.

Nach diesem belastenden Einsatz, bei dem Sie vielen Menschen helfen konnten, aber bei dem auch andere ertranken, war für Sie aber noch nicht Schluss. Wie muss ich mir das vorstellen, wenn Sie im Einsatz sind: Wie bekommen Sie mit, dass an anderer Stelle ebenfalls ein Notruf abgesetzt wird? Das ist ja auch eine große psychische Belastung.

Die erste große psychische Belastung war für mich, dass wir zwar die ganze Zeit Menschen von diesem Holzboot geborgen haben, das Deck aber einfach nicht leerer wurde. Sie fahren da drei, vier Stunden hin und her, aber immer noch kommen Menschen nach, und da sind immer mehr.

Ansonsten ändert sich die Situation auf der Brücke schnell, aber das bekommen wir auf den Schlauchbooten nicht mit. Am Ende des Tages hat man immer die Hoffnung, dass in dem Gebiet, in dem man selbst unterwegs ist, die meisten Menschen auch wirklich gefunden werden konnten. Aber die Lage ist extrem unübersichtlich.

Wie viele Menschen machen sich jeden Tag auf den Weg nach Europa?

Das ist ganz schwer zu beantworten. Ich gehe davon aus, dass nicht die komplette Küste Libyens als Startort dient, sondern dass es Schwerpunkte gibt – je nach den lokalen Netzwerken der Schleuser. Aber mit den Schiffbrüchigen darüber zu sprechen, ist sehr schwer. Wenn wir nur fragten, wie viele Boote sie am Strand gesehen haben, einfach um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob wir alle gemeldet haben, verstehen einen Personen, die vorher fließend englisch sprachen nicht mehr oder sie sagten uns, dies sei ein Geheimnis.

Warum haben Sie sich entschlossen, an dem Tag noch weiterzumachen, obwohl bei Ihnen sogar ein Generator ausgefallen war?

Am Samstag hatten wir einen Arbeitstag von etwa 21 Stunden hinter uns, als der Kapitän uns fragte, ob wir weitermachen würden, da wir um Hilfe gebeten wurden. Die Bundeswehr hatte sich dagegen ausgesprochen, an der neuen Position Unterstützung zu leisten. Die standen nicht mehr zur Verfügung, nachdem sie die Menschen vom Holzbootszenario aufgenommen hatten. Eigentlich wollten wir auch nicht weiter, aber die Menschen brauchten nunmal Hilfe.

Was hat den weiteren Einsatz so besonders schlimm gemacht?

Das neue Szenario sah vor, dass wir wieder Menschen aufzunehmen hatten, obwohl wir das nicht wollten. Am Sonntag morgen wurde uns klar, dass um uns herum weit und breit keine Schiffe sind, die uns diese abnehmen konnten. Wir hatten aber etwa 200 Leute an Bord, die unterkühlt waren, es gab medizinische Notfälle – aber wir hatten auch nicht die Kapazitäten, sie alle lebend nach Italien zu bringen. Da wurde mir klar, das ist jetzt ein echtes Problem.

Unter welchen Bedingungen waren die Flüchtenden bei ihnen auf dem Boot?

Die saßen auf dem Deck bei Wind und Wetter. Bei der Bauart dieser Kutter wird das Wasser auf Deck gespült. Das war auch körperlich bedrohlich. Wir haben versucht, die Schwangeren etwas geschützter unterzubringen, soweit es die Enge an Bord zu ließ. Nach einigen Stunden waren auch die hygienischen Verhältnisse unvorstellbar: Die Menschen waren seekrank. Wir hatten zwar eine Toilette, aber die reichte natürlich nicht, und viele waren auch einfach zu schwach, um sie aufsuchen zu können. Es war so voll, dass es kein Durchkommen gab. Wir waren auf unserem eigenen Schiff nicht mehr handlungsfähig.

Wie konnten Sie das lösen?

Letztendlich nur durch einen Mayday-Call. Das MRCC schickte dann ein Boot der italienischen Küstenwache zur Begleitung sowie Speedboote aus Lampedusa. Ein Frachter, der zuvor schon die Iuventa unterstützt hatte gab uns Windschatten.

Wenn man hier davon liest, hat man etwa wegen des Mandats der Bundeswehr oder der italienischen Küstenwache das Gefühl, es müssten relativ viele offizielle Schiffe in dem Bereich unterwegs sein. Warum muss die Seenotrettung trotzdem von privaten Initiativen betrieben werden?

Die »EU Navfor Med Sophia« hat kein Seenotrettungsmandat, deren Aufgabe ist die Bekämpfung von Schleusern. Natürlich war es ein gutes Gefühl, dass überhaupt jemand kam, als das Bundeswehrschiff da war, aber es war auch ernüchternd zu sehen, dass sie nur machten, was notwendig ist, aber sich den weiteren Notfällen entzogen. Dadurch mussten wir mit technischen Defekten weitere Einsätze fahren. Ich habe keinen Überblick, welche Kontingente an Kriegsschiffen vor Ort waren bzw sind. Bereits am Freitag war aber klar, dass es einen großen Bedarf in der Region gibt. Es kann doch nicht sein, dass so viele Menschen in dem Areal schiffbrüchig sind, und es außer kleinen privaten Schiffen, zivilen Frachtern und einem italienischen Küstenwachschiff keine Kapazitäten für sie gibt.


Thomas Kunkel ist Mediziner und war bereits mehrmals mit Sea Eye e. V. im Mittelmeer als Seenotretter im Einsatz

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