23. April 2017 · Kommentare deaktiviert für „Reportage über Flüchtlinge (2006): Die afrikanische Odyssee“ · Kategorien: Afrika, Lesetipps · Tags: ,

[Diese Reportage aus dem SPIEGEL, Ausgabe 26/2006, gewann 2007 den 1. Henri Nannen-Preis.]

Spiegel Online | 22.04.2017

John Ampan brauchte vier Jahre, um von Ghana bis nach Spanien zu kommen. Im Treck der Verzweifelten begann er immer wieder von vorn – eine preisgekrönte Reportage, wiederentdeckt zum 70. SPIEGEL-Geburtstag.

Von Klaus Brinkbäumer

Reisen gibt es, die den Reisenden verändern und zu einem anderen Menschen machen. Vielleicht wäre er hinterher, nach seiner Reise, gern wie vorher, aber es geht nicht, seine Welt ist nun eine andere.

John Ampan hat Afrika seine Heimat genannt in den Jahren seiner Reise. Dann verlor er seine Sicherheit. Seine Freunde, seine Bräuche, seine Sprache, sein Lachen. Er wollte Europäer werden. Er zieht sich an wie ein Europäer, arbeitet wie einer, kauft die Fernseher und Waschmaschinen der Europäer.

„Ich werde nie einer“, sagt er.

John Ekow Ampan, 46, hat kurzgeschorene Haare und auf der linken Wange die Narbe der Fante, halbmondförmig; es ist eine Art Brandzeichen, mit diesem Schnitt kennzeichnet der Stamm der Fante seine Kinder. John trägt ein grünes T-Shirt, graue Levi’s, eine blaue Schirmmütze und Kopfhörer, er hat Geschenke dabei für seine Kinder, viele, viele Plastiktüten.

Vor drei Tagen hat John seine Frau in Ghana angerufen und ihr gesagt, dass er nach Hause komme. „Nein“, sagte Vida, „spiel nicht mit uns, und versprich nicht so etwas. Ich sage den Kindern nichts, ich will nicht, dass sie ihre Zeit vergeuden mit dieser Scheißhoffnung auf einen Vater, der vor 14 Jahren verschwand.“ Einmal pro Woche telefonieren, eine Minute lang vielleicht, E-Mails, 200 Euro im Monat von Europa nach Accra: ein afrikanisches Familienleben.

Und nun landet John, um 18.12 Uhr an einem Montag, heimgekehrt nach 14 Jahren. Seine jüngste Tochter Alice kennt den Vater, der in Europa lebt, nur von Briefen und vom Telefon, und sie weiß, dass sie zur Schule gehen kann, weil er 200 Euro schickt, Monat für Monat. Gesehen hat sie ihren Vater nie, nie mit ihm gespielt.

John geht zum Gepäckband, nimmt seine Tasche, er lächelt nicht, er geht zum Ausgang. „Germany 2006, wir kommen“, steht auf einem Poster, es meint Ghanas Fußballnationalmannschaft, die herzlich willkommen sein wird in Europa.

Die, die jetzt aufbrechen in Westafrika, sind nicht erwünscht in Europa. Sie gehen verzweifelt und hoffend, und die wenigsten von ihnen erreichen das Ziel. Die meisten landen in Gefängnissen oder Lagern, werden krank oder sterben, scheitern, weil sie kein Geld mehr haben oder verraten werden – oder sie sind schon beinahe angekommen, müssen nach rund 5000 Kilometern über Land noch etwa 14 Kilometer Mittelmeer überwinden, und dann sinkt ihr Schlauchboot, und niemand erfährt, dass sie jemals unterwegs waren.

910 Millionen Menschen leben in Afrika, das sind 14 Prozent der Weltbevölkerung. 71 Prozent der Afrikaner sind jünger als 25 Jahre. 45,7 Prozent der Schwarzafrikaner leben von weniger als einem Dollar pro Tag. Von den 38 Staaten, die der Internationale Währungsfonds als „hochverschuldete arme Länder“ bezeichnet, sind 32 afrikanisch. Von 1000 Kindern sterben in den Ländern südlich der Sahara 102 vor ihrem ersten Geburtstag. Die durchschnittliche Lebenserwartung in diesen Ländern beträgt 46 Jahre. Die häufigste Todesursache ist Aids. Südlich der Sahara sind 30 Millionen Schusswaffen in Umlauf.

Über 17 Millionen Afrikaner sind auf der Flucht.

Will man diese Flucht verstehen, kann man keinen besseren Begleiter finden als John Ampan. Er hat das alles erlebt, vier Jahre lang war er unterwegs. Seit zehn Jahren lebt er in Andalusien und betreut jene, die aus Marokko herüberkommen. Und er ist bereit, von Ghana aus, die Reise durch die Sahara bis an die Küste des Mittelmeers ein zweites Mal zu machen.

Er geht zum Ausgang. Die Türen öffnen sich, hitzig und schwer und feucht ist die Luft dort draußen. „Finally“, sagt John, ganz leise sagt er das: „endlich“.

John Ampans Weg nach Europa von 1992 bis 1996

Accra, Ghana, Beginn der Reise

Sie stehen voreinander und können nichts sagen. Auf der einen Seite eines Gitters steht John, auf der anderen Seite des Gitters steht Vida, Johns Frau, sie trägt die Haare hochgesteckt, eine Matrone in gelbem Kleid, im Dekolleté ein Handtuch gegen den Schweiß, und Vida lacht.

Alice steht da, die 14-Jährige; Alice trägt ein knappes Shirt mit schmalem Träger auf einer Seite. Und Ohrhörer. Sie nimmt die Ohrhörer nicht heraus.

Glenn steht da, Glenn ist 18 Jahre alt und Fußballer; sie nennen ihn „Pelé“, nach Abédi Pelé, dem ghanaischen Helden. Glenn trägt knielange Jeans und T-Shirt und lächelt vorsichtig, er schweigt und bewegt sich nicht.

Und Eva steht hinter dem Gitter, 20 Jahre alt, Studentin, bauchfrei und in engen Jeans, sie streckt die Arme in die Höhe, als müsste sie die Wirbelsäule dehnen, es sieht aus wie die Pose einer Frühreifen: Sieh endlich her, Daddy, wie schön ich bin.

Und John geht auf sie zu, öffnet den Mund und schließt ihn, seine Frau schließt die Augen. Beide heben die Arme und lassen sie wieder fallen.

Sie stehen voreinander. Die Frau und die drei Jugendlichen lächeln scheu, die Kleinste streckt den Arm aus und lässt ihn sinken, und John schiebt den Gepäckwagen und geht auf sie zu. Sie stehen da, schweigen, er umarmt seine Frau, diese Fremde, und die Kinder erkennen ihn nicht, wer ist der Mann?

„Dad?“, fragt Alice.

Es vergehen fünf Minuten, dann reden sie übers Gepäck, wer fährt in welchem Auto, wo sind die Taxis?

Die Ampans leben 35 Kilometer vor Accra in der Hafenstadt Tema, Community 5 heißt ihr Viertel. 100 000 Menschen wohnen in Tema, sandig sind die Straßen, Tema ist eine Stadt der Bauruinen. Die Ampans haben ein kleines Steinhaus, vorn führt Vida eine Straßenbar, gelb die Wände, weiß die Decke, der Boden nackter Beton. Einen tragbaren Gaskocher mit zwei Platten gibt es hier, zwei Wäscheleinen ziehen sich diagonal durch den Raum, und es gibt zwei Plastikschüsseln, in denen Vida und die Töchter die Gläser spülen. Der Ghettoblaster vorn am Eingang, der die Gäste lockt, war Johns erstes Geschenk aus Europa.

Sie leben gut, relativ gut, die Kinder gehen zur Schule oder, wie Eva, die Älteste, aufs College, und dafür sorgt Johns Geld. Und Vida macht, was all die Frauen in all den Krisenregionen machen: Sie erledigt die Krise, indem sie den Alltag erledigt. So ist es oft: Der Mann zieht los, um nach Europa zu kommen, und die Frau steht um 5.30 Uhr auf, um Coco, das ghanaische Porridge, zu machen, dann weckt sie die Kinder wegen der Schule, um 8 Uhr öffnet sie die Bar, und um 23 Uhr schließt sie.

Er bleibt fünf Tage lang. Glenn, sein Sohn, schweigt und läuft ständig weg; wenn sein Vater unten sitzt, muss Glenn nach oben, irgendetwas holen, und bleibt lange fort. Er sagt: „Ich will sein Geld nicht, ich brauche keine Klamotten, ich habe in all den Jahren meinen Vater vermisst. Dieser Mann in unserem Haus gehört nicht zu uns.“

Damit fängt es schon an, wem gehört das Haus? „Kommt morgen um eins zu meinem Haus“, sagt John. „Unser Haus, Dad“, sagt Eva. „Euer Haus“, sagt John.

Dann sieht er seine Tochter an, wie Väter ihre Töchter ansehen, zärtlich und stolz. „Ich habe sie so lange auf dem Arm gehalten. Bis sie vier Jahre alt war“, sagt er.

„Sechs. Ich war sechs, Dad, als du fortgingst.“ „Sechs also.“ „Von da an liebten mich andere Menschen besser“, sagt Eva.

Die Hochzeit war nicht sehr romantisch, sie war sehr afrikanisch

John Ekow Ampan ist ein Cousin des Fußballers Samuel Osei Kuffour, genannt Sammy, der viele Jahre lang für Bayern München spielte, ehe er nach Rom wechselte. Im Frühjahr 2000, als Bayern München in Madrid spielte, besuchte John seinen Cousin. Es gibt ein Foto, das John neben Franz Beckenbauer zeigt. Beckenbauer blickt bissig in die Gegend wie selten.

Johns Mutter und Sammy Kuffours Mutter stammen aus Kumasi, 200 Kilometer nördlich von Accra, im Dorf gab es einen Mann, den sie „Hamburger“ nannten, weil er in Deutschland arbeitete.

„In Deutschland ist es so kalt, dass du keinen Kühlschrank brauchst; du stellst dein Bier auf das Fensterbrett, wenn du zum Klo gehst, und wenn du vom Klo kommst, ist es gefroren.“ Solche Geschichten erzählte Hamburger, der einen 230er Mercedes fuhr mit einer Hupe, die muhte wie eine Kuh. Und Hamburger erzählte, er habe als Tellerwäscher begonnen und nun drei Jobs zugleich, aber er sagte auch, dass in Deutschland jeder eine Chance habe, und dann brachte er den ersten Farbfernseher ins Dorf und einen Lederball für die Jungs.

So wurde Hamburger der, der sie alle infizierte mit seinen Geschichten von Europa, und John sagt, dass jedes afrikanische Dorf seinen Hamburger hat, der stärker und prägender ist als diese Gerüchte von sinkenden Schlauchbooten, von denen es keine Bilder gibt.

John ging zur Grundschule und machte eine Ausbildung als Tischler und Polsterer. In Nordghana traf John auf Vida, sie war 17 Jahre alt und half ihrer Mutter im Laden, wo sie Papier und Süßigkeiten und Bier verkauften. „Sie war so schön und so lustig und so nett“, sagt John; er fragte einen Freund um Rat, der mit Vidas älterer Schwester sprach, die ihre Mutter einweihte, und so wurde ein Treffen arrangiert zwischen John und Vida zum Zwecke der Heirat. Es war nicht besonders romantisch, es war sehr afrikanisch.

Es war Sommer 1993, sie waren seit ein paar Jahren verheiratet, als Vida Ampan eine Nachricht von ihrem Mann erreichte. John war seit eineinhalb Jahren Gastarbeiter in Lagos, Nigeria; er ließ ihr ausrichten, er müsse sie dringend sehen, aber nicht zu Hause, sondern draußen vor der Stadt, 125 Kilometer entfernt.

Sie weinte, sie schrie, sie hatte Angst

Um 21 Uhr war John in dem Hotel, es lag in Sogakope, ein flacher, weißer Bau mit Veranda und einer Treppe, die von der Veranda zu den Zimmern führte. „Volta View Hotel“ hieß der Laden, die Zimmer waren billig, zehn Euro, und man konnte handeln, dann kostete es vier Euro. Laut war es hier, weil das Volta View direkt an der Hauptstraße lag, man hörte die Motoren und die Hupen, die Trommeln und Musik, und das wurde auch nachts nicht ruhiger. John wartete, wenig später kam Vida, das Baby brachte sie mit, das er noch nicht gesehen hatte. Alice, ein Jahr alt.

Sie hatten nur eine Nacht. Sie schliefen nicht, keine Minute.

Vida war dagegen. Sie wusste, es würde für lange Zeit sein und vielleicht für immer. Er sagte, sie seien verheiratet, und darum müsse er für sie und die Kinder sorgen, das könne er in Afrika nicht. Sie sagte, nein, das sei nicht wahr, sie seien verheiratet, um zusammen zu sein. Sie weinte, sie schrie, denn nichts wusste sie über Europa, sie wusste nur, dass sie Angst hatte vor dem, was kommen würde. Aber er war seltsam hart, er war entschlossen. Er hatte Schulden in Accra, 1000 Dollar, die er niemals zurückzahlen konnte, er sagte, er wolle um die Zukunft seiner Familie kämpfen, hier in Afrika gebe es keine Zukunft.

So lagen sie nebeneinander, hielten sich und redeten, und im Morgengrauen ging er und war schnell weit fort; er erwischte ein Sammeltaxi nach Lomé in Togo.

Vida, konntest du John verstehen?

„Nein, damals nicht.“

Und mehr als zehn Jahre später, kannst du John heute verstehen?

Vida schweigt, dreht ihren Armreif, und John sagt: „Es geht ihr gut, sie ist glücklich.“ Und Vida sagt, dass die Schule für jedes Kind 100 000 Cedi im Monat koste, etwa 9 Euro; alle drei Monate müsse gezahlt werden, und wenn Eltern das Geld nicht haben, fliegt ihr Kind von der Schule, sofort. Knapp 2,2 Millionen Cedi sind die 200 Euro wert, die John jeden Monat schickt, das reicht, und Vida sagt: „Familien, die niemanden in Europa haben, schaffen das nicht. Heute verstehe ich ihn.“

Wir fahren die Küste entlang, sehen den Konkomba-Markt; Früchte verkaufen sie hier und deutsche Altkleider, die in Afrika ein zweites, drittes, viertes Mal in den Handel kommen. Wir sehen den „Wind Star Night Club“, ein Brett als Tresen und zwei Sofas am Straßenrand. „Ich erkenne nichts wieder“, sagt John, „meine Heimat ist mir fremd.“ Wir fahren nach Cape Coast, zu einem der 37 ehemaligen Sklavenforts an der Küste Ghanas.

Grün und hügelig ist diese Küste. Ein Handelsdreieck zwischen Europa, der Neuen Welt und Afrika zogen die Briten damals auf, und nach Afrika importierten sie Rum für die Häuptlinge und Glasperlen fürs Volk, und aus Afrika exportierten die Herrenmenschen Gold und Untermenschen. Ungefähr 29 Millionen Afrikaner verschleppten die Europäer und Nordamerikaner; weitere 29 Millionen sollen in vier Jahrhunderten gestorben sein – die Europäer warfen die Rebellen ins Meer, die Kranken, die Schwangeren, die Vergewaltigten, die Unwilligen, das ganze nutzlose Menschenfleisch warfen sie über Bord in den Atlantik.

Die Geschichte der Sklaverei ist ein Kern afrikanischer Geschichte, und sie hat mit der Geschichte der Migration zu tun. Es geht ja heute um einen Kontinent, der in jener Zeit beraubt wurde, als Europa und Amerika sich entwickelten, Erfindungen machten, sich bildeten. Es ist nicht wirklich überraschend, dass dieser Kontinent nicht mithalten kann im Zeitalter der Globalisierung, der Hochtechnologie – er war zerrissen, als dieses Zeitalter begann.

Die Jungen und Starken gehen, sagt John

John sagt, es sei heute das Gleiche wie früher. Europa bestimme, und Afrika gehorche, Europa sorge für sich, und Afrika bleibe keine Chance. „Wir müssen nach Europa gehen, wenn wir leben wollen“, sagt John. Und auch heute gingen die Jungen und Starken, und wieder werde ein Kontinent ausgezehrt durch einen Exodus.

Ghana, einst britische Kolonie, ist seit 1957 unabhängig. 21,1 Millionen Einwohner leben hier, sie sprechen Englisch, Akan, Ewe oder Gã. Es gibt keine Krankenkasse, im vergangenen Jahr starben wieder 15 000 Kinder an Malaria; es gibt keine Versicherungen und lausige Löhne, denn es gibt keine Arbeit. Darum sitzen auch hier in Accra, wie überall in Afrika, junge Männer in den Vorstädten im Staub und wissen nicht, wohin mit ihrer Kraft. Lehrer verdienen im Monat 200 Euro, und die vielen, die an der Straße stehen und versuchen, Getränke zu verkaufen, verdienen 2 Euro am Tag, wenn sie Glück haben.

Und wenn es einer schafft, etwas aufzubauen, ein kleines Computergeschäft oder einen Telefonladen, dann schafft es seine Familie mit ziemlicher Sicherheit, den Erfolgreichen wieder hinabzuziehen aufs Niveau des Kollektivs. Weil die Angehörigen neidisch sind, weil sie teilhaben wollen am Erfolg. Darum gehen Ärzte und Krankenschwestern, Elektriker oder Ingenieure; darum gehen jene, die ein Auto, einen Fernseher, ein bisschen Glück durch Kommerz suchen; und die, die einen Studienplatz erwischen und nicht zurückkehren. Und ihr Motiv ist natürlich immer das Kalkül: Zu Hause ist das Leben hart, in der Ferne wird es besser sein.

Glenn Ampan hat ein Fußballspiel, und sein Vater hat versprochen zu kommen. Noch nie hat er ihn spielen sehen, John erscheint nicht, Glenn verliert 0:1. „Ich war Scheiße“, sagt er. John stand im Stau.

Vida zeigt Fotos. In dem Album liegen Bilder von John, mit Schnauzbart damals und dünner, und da liegt die Todesanzeige von Jacob Ebenezer Ampan, geboren am 26. Dezember 1925. Mister Ampan, so steht es da, „kränkte niemanden“ und „war ein echter Gentleman“. 15 Kinder trauerten, als sein Vater 2002 starb, John war nicht da. Seine Mutter starb 2004, John war nicht da. Er zahlte die Beerdigung, 4000 Euro für all die tagelang essenden Verwandten.

Und dann fahren wir los, es ist Samstagmorgen, acht Uhr, die Kinder sind nicht gekommen, nur Vida steht auf dem Parkplatz und sagt: „Habt eine sichere Reise“, immer wieder sagt sie diesen einen Satz.

Benin, Kilometer 348

Es dauert Stunden, bis John Ampan etwas sagen kann. Er sitzt hinten links, der Wagen, ein Nissan, rollt über die Straßen, die die Küste entlangführen, immer nach Osten, von Ghana in Richtung Lagos. John blickt aus dem Fenster und weint.

Damals fuhr er in einem Ford Caravan, vier Männer saßen auf der Rückbank. Sie hatten umgerechnet jeweils zehn Euro bezahlt, den Fahrer kannten sie nicht, sie fuhren in ihre Zukunft, und keiner von ihnen wusste, wo diese Zukunft sein würde.

Als er wieder reden kann, sagt John, es sei wie damals. Die Gefühle seien wieder da, die gleichen. Auch damals hätte seine Frau ihn am Morgen festgehalten, nicht loslassen können, nichts sagen können. Auch damals sei er ganz starr gewesen und am Ende einfach gegangen, er habe sich umgedreht und sei eingestiegen. Das sei gar nicht so schwierig, sagt er: Man kann gehen, es ist ganz leicht. Man ahnt nur nicht, dass man hinterher der einsamste aller Menschen sein wird.

John blickt hinaus, sieht die Slums an der Grenze zwischen Togo und Benin, darin die Plakate: „Gott liebt dich.“

Afrikanische Grenzsoldaten haben Macht. Sie missbrauchen ihre Macht. Afrikanische Grenzsoldaten sind ein Sinnbild dessen, was schiefläuft auf dem Kontinent. Sie verscheuchen Menschen wie Fliegen mit Handbewegungen der Arroganz; fort mit euch. Sie haben ein Seil an einen Pfosten gebunden, sitzen breitbeinig auf einem Stuhl, kauen auf Zahnstochern, spucken auf den Boden, und das andere Ende des Seils haben sie in der Hand.

Kommt eine schöne Frau des Weges, auf dem Kopf einen Eimer mit Wasser oder Stoffballen, dann ziehen die Mächtigen der Grenze das Seil straff, und die schöne Frau muss stehen bleiben. In der Mittagssonne. „Dreh dich um“, sagen die Mächtigen. Die Frau dreht sich. „Noch einmal.“ Sie dreht sich noch einmal. „Was hast du unter dem Rock?“ Sie hebt den Rock. Die Mächtigen stehen auf, gehen weg, kommen mit einer Tüte Trinkwasser wieder, beißen eine Ecke ab, spucken die Ecke in den Staub, trinken und starren der Frau auf die Beine. Dann winken die Männer die Frau fort, weg mit dir, aus meinen Augen.

Und sie kassieren, immer wieder, von allen, die nach Geld aussehen. 15 Euro zahlen wir dem Kerl, der am Kofferraum steht, für 15 Euro verzichtet er darauf, dass wir alle Taschen leeren. 30 Euro soll John zahlen, damit sie sich seinen Pass ansehen. Er will nicht, darum legen sie den Pass auf den Tisch und winken die Nächsten herbei. Eine Stunde vergeht. John zahlt.

Dann dürfen wir fahren, und John erzählt von seinem Kontinent.

Lagos, Nigeria, Kilometer 469

Es sind noch 20 Minuten bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann müssen wir im Hotel sein, denn das hier ist Lagos. Das sagt John ständig: „This is Lagos!“ Bedeuten soll es, dass keine Regeln mehr gelten, dass nichts mehr ist wie in anderen Städten.

Lagos ist eine erbärmliche Stadt. Nichts als Dreck und Müll und Schlamm und Wege durch Abwasser, in das Bretter geworfen wurden, damit man halbwegs trocken rüberkommt – die Bretter heißen hier Hauptstraßen. Kinder sitzen vor Ölfässern und lassen Stöckchen in der Brühe schwimmen. Wer Müll hat, wirft ihn zu dem anderen Müll vor der Hütte.

Und alle haben verdammt leere Augen. Die Menschen hier sind andere Menschen als Alte oder Arbeitslose in Deutschland – die hier werden nicht geliebt, nicht gebraucht, nicht gefördert, nicht gewollt, sie sind ganz und gar überflüssig. Die haben keine Schulen, keine Versicherungen, keine Bücher. Sie haben kein Wasser und nicht mal Luft, hier ist nur Gestank.

„Lagos: Centre of Excellence“ steht auf jedem Nummernschild.

Rund 15 Millionen Menschen leben in dieser Metropole, in 15 Jahren sollen es 25 Millionen sein, und diese Stadt wird niemals mehr irgendwer in eine bessere Richtung lenken. Diesen Müll kriegt niemand mehr weg, diese Menschen finden nicht mehr heraus, es ist zu spät.

Und jeder fragt nach Europa. Wie komme ich dorthin? White man, lädst du mich ein? Willst du mich heiraten? Nimmst du meine Schwester mit? Meine Tochter?

Und für jeden Schritt muss man bestechen. Polizisten sind in Nigeria nichts anderes mehr als Straßenräuber, da ihr Job keinen anderen Sinn mehr hat, als Geld einzutreiben. 17 Checkpoints hatten sie aufgebaut von der Grenze bis nach Lagos, 100 Kilometer sind das, und überall standen Polizisten mit Knüppeln in der Hand. 200 Naira hier, 1000 dort, immer und überall geht es nur darum: Her mit eurem Geld!

Das Ganze ist legalisierter Diebstahl: Sie legen Baumstämme oder Nagelbretter über die Autobahn, man muss halten, und wenn sie es wollen, muss man zahlen. Den Vorgang der Bestechung nennen sie „to settle“, ein Problem lösen. „To serve and protect with integrity“, das steht auf den Polizeiwagen.

Der Architekt Rem Koolhaas nennt Lagos das „Paradigma der postmodernen Stadt“, und Axel Harneit-Sievers, der die Filiale der Heinrich-Böll-Stiftung leitet, sagt, dass Lagos „letztlich unregierbar“ sei.

Die Distanzlosigkeit, dieser totale Zugriff und diese ständige Aggressivität aller gegen alle, das ist Lagos.

„Ich hatte hier nicht eine friedliche Nacht“

Als John Ampan, geboren 1959, Ghana zum ersten Mal verließ, war er 22 Jahre alt, er hatte gerade geheiratet. Er konnte keine Arbeit finden in Accra, aber Nigeria war damals, 1981, ein Land im Rausch: Es gab Öl, überall bauten sie Häuser, Türme, Paläste. Fünf Monate lang blieb er in Lagos, für „Osmat Construction“ arbeitete er, Vertragspartner der österreichischen Firma Strabag, und er lebte im Ghetto der Ghanaer, in Holzhütten, die auf Stegen über Tümpeln und Flussläufen standen. Zwei Männer wohnten auf acht Quadratmetern. Sie teilten sich diese Hütten nach Schichten: Wer nachts arbeitete, wohnte tagsüber, und umgekehrt. Müll lag vor und unter der Hütte, Ratten liefen herum, Moskitos kamen durch alle Ritzen, Schlägerbanden zogen grölend umher und legten Feuer, wenn wieder einer das Schutzgeld nicht zahlen wollte.

„Ich hatte hier nicht eine friedliche Nacht“, sagt John. Und später, es war 1992, zu Beginn seiner Reise, kam John ein zweites Mal nach Lagos.

Diesmal fand John Arbeit bei Mobil, dem Ölkonzern. John war ein eloquenter Mann, bald wurde er der Fahrer des Chefs Bola Ahmed Tinubu. Er hatte es geschafft, dachte er. John fuhr den Chef durch die Stadt, saß in einem Mercedes, und hin und wieder fuhr er die Frau des Chefs zum Einkaufen. Aber dann gab Tinubu einen Empfang, viele Leute waren in seiner Villa, und wenig später stiegen Diebe ein. Die Diebe kannten die Wege und marschierten direkt ins Schlafzimmer.

Alle Angestellten, die Zugang zum Haus hatten, kamen ins Gefängnis.

Das Gefängnis von Ikoyi ist ein brauner Bau mit schwarzen Flecken, Autowracks stehen vor den Mauern, Frauen verkaufen verschimmeltes Toastbrot, Stromleitungen hängen von den Masten herab in den Schlamm. Ein Nike-Plakat klebt an einer Hauswand: „Don’t fail“, versage nicht!

120 Männer saßen und lagen auf zwölf mal acht Metern, in der Mitte des Raums war ein Loch im Boden, das war die Toilette. Die 120 Männer teilten sich auf in Gangs. Sie vergewaltigten sich gegenseitig. Sie beraubten sich. Sie hörten die Schreie derer, die gefoltert wurden. John betete. Sie nannten ihn „Kaplan“, weil er die Messe las für die anderen, und irgendwann nahm ihn ein bulliger Kerl aus Benin City unter seine Getreuen auf, Bob Izoua hieß der Mann. Und das Leben wurde leichter für John. Bob Izouas Familie ließ Kleinbusse vorfahren, beladen mit Seife, Kleidung und Brot, und Bob Izoua verteilte das Zeug unter seinen Anhängern.

Es dauerte sechs Monate, dann war John frei. Er hatte nie einen Anwalt gesehen, er wurde nie verhört, es gab nie eine Anklage und keinen Prozess. Es war Zeit zu gehen. Er vermisste seine Frau, zögerte, er wählte die andere Richtung. Nach Norden.

Warten ist der Alltag der Migranten

Fahrt ihr nach Niger? Nach Spanien? Nach Europa? Nach Norden, wenigstens nach Marokko, nach Libyen? Schüchtern fragen Flüchtlinge, leise, es ist eine Reise in einer Grauzone: Alle wissen, worum es geht, aber natürlich bleibt, was sie vorhaben, dennoch verboten; es hängt von der Bezahlung und selbst nach der Bezahlung noch von der Willkür der Polizisten ab, ob Flüchtlinge weiterreisen dürfen oder zurückgeschickt werden oder ins Gefängnis kommen oder zu verprügeln sind. Die jungen Paare, die Familien, die jungen Männer stehen und sitzen an den Autobahnen, an den Busbahnhöfen; sie verhandeln dort, und sie warten. Warten ist der Alltag der Migranten. Wenig Gepäck haben sie dabei, eine Tasche nur, weil sie wendig sein müssen. Und natürlich besitzen sie nicht mehr viel, weil sie so viel wie möglich verkauft haben, um Geld für die Reise zu bekommen. Bücher hat niemand dabei, wer flieht, liest nicht.

Die meisten sitzen unter einem Baum, reglos, sie verbrauchen so wenig Energie wie möglich, schlafen einen leichten Schlaf. Hin und wieder scheuchen sie ein paar Moskitos fort, dann erstarren sie wieder.

Und warten.

Morgen soll der Lkw fahren, ganz bestimmt übermorgen, solche Informationen sind Handelsware in der Welt der Flüchtenden. Aber dann bricht der nächste Tag an, und der Mittelsmann sagt: „Nein, heute noch nicht, morgen auch noch nicht, Ende der Woche wird der Wagen fahren, dann aber definitiv, nur die Preise haben sich leider geändert. Wir mussten noch etwas für eure Sicherheit tun.“ Polizisten kaufen bedeutet das, und deshalb verhandeln die Flüchtlinge erneut das längst Verhandelte und müssen noch ein paar Tage unter dem Baum sitzen.

Und warten.

Wir verlassen Lagos, kommen an Prayer City vorbei, Stadt der Gebete. Stadien, Arenen stehen dort, und am Wochenende kommen Hunderttausende, um Gottes Segen zu erflehen von Predigern wie dem Deutschen Reinhard Bonnke, der sagt, er könne Krankheiten wie Lepra heilen.

Nach Norden, nach Europa, das ist die Richtung. Vierspurig ist die Autobahn, und immer wieder stoppen Schlaglöcher die Autos, immer wieder die Sperren.

Ein Polizist klopft ans Fenster, schwankend, mit sehr roten Augen.

Polizist: „I love you.“
Wir sagen: „Good afternoon, officer.“
Er: „What you got for me?“
Wir geben ihm 200 Naira.
Er: „You can go.“
Ich liebe dich, was hast du für mich?, du kannst gehen. Eine zwischenmenschliche Beziehung in Nigeria in drei Sätzen.

Benin City, Nigeria, Kilometer 973

Die Stadt des Frauenhandels ist eine Stadt auf rotem Schlamm, ohne Asphalt, nur Schlaglöcher und Hütten und Märkte gibt es hier, auf denen alle anbieten und keiner kauft. Über eine Million Menschen leben in dieser Stadt, die sich „Herzschlag Nigerias“ nennt, die Arbeitslosenquote liegt bei 90 Prozent. Benin City war mal eine Stadt des Handels, von hier kamen Holz und Gummi, und sie produzierten Möbel und Bronzefiguren.

Heute exportiert die Stadt ihre Töchter, denn aus Benin City kommen die schwarzen Frauen, die in Europa an den Straßenrändern der Industriegebiete stehen. Die Familien hier sind so arm, dass sie die Mädchen den Schleppern geben, darauf hoffend, dass irgendwann Geld aus dem Paradies kommt, und wenn kein Geld kommt, wenn die Schulden bei den Schleppern nicht bezahlt werden können, dann haben die Familien nicht nur die Töchter verloren, sondern auch noch ihr Haus, weil das Haus das Pfand war in diesem Spiel. 60 000 Euro kostet ein Mädchen, 60 000 Euro muss die Familie den Schleppern zurückzahlen, irgendwann, und die meisten lassen sich darauf ein, weil keiner weiß, wie schwer 60 000 Euro zu verdienen sind an Europas Straßenrändern.

Bevor die Mädchen reisen, gehen die Familien zur Priesterin, zum Zauberer, denn die Mädchen müssen eine Zeremonie hinter sich bringen, an deren Kraft alle in Benin City glauben. Es ist ein doppeltes Spiel, es geht um Schutz und um Druck.

Einer dieser seltsamen Orte liegt neben dem Federal Hight Court, dem weltlichen Gericht von Benin City, 156 Akpakpa Street, hinter einer weißen Mauer und einem rostigen Tor; dies ist einer jener Orte, die ein weißer Reporter niemals betreten dürfte, wenn er nicht hineingeführt würde von einem Afrikaner wie John Ampan. Was sie hier seit 565 Jahren machen, ist eine Mischung aus Hexerei und Religion.

In einem kleinen Betonbau, fünf mal fünf Meter groß, sitzen sechs Menschen, alle barfuß, drei in langen, roten Gewändern, mit Ketten an Armen und Füßen, drei in Zivil. Rechts, auf dem Thron, sitzt Imuetinyan Ihosogie, Chief Princess, „Ikpate oba“ genannt. „Wir sind Opferstätte und heiliger Ort, aber wir helfen den Menschen auch, ihre Probleme zu lösen“, das sagt Ikpate oba.

Hier werden sie gesund, falls sie krank sind. Die Geschäfte auf dem Markt kommen wieder in Gang, falls sie stockten. Feinde, die gesund waren, werden hier der Krankheit unterworfen. Hier versöhnen sich Mann und Weib.

60.000 Euro sind der Wert eines Mädchens

Chief Princess Ikpate oba hat ein starres linkes Auge. In einer Ecke der Hütte liegen auf einem Haufen Federn, Kuhköpfe, Hühnerköpfe, Flaschen, Gläser, Knochen und rostige Macheten, alles ein Stapel, der nach Kadaver stinkt – der Altar. Wenn die Zeremonie beginnt, tritt die Meisterin vor, bespritzt den Haufen mit Wein, nimmt selbst einen Schluck und spricht ihre Sprüche.

Damit schützt die Hexe das Mädchen, das in die Ferne reisen muss, aber zugleich zwingt die Hexe das Mädchen zur Loyalität. Denn das Mädchen muss nun ein Gebräu aus Blut und Wein und den eigenen Achsel- und Schamhaaren trinken, und dieses Ritual bewirkt, dass es in Zukunft immer erreichbar sein wird für die Hexenmeisterin. Falls das Mädchen sich in Europa verstecken und weigern sollte, die Schulden zurückzuzahlen, wird es nicht mehr lange leben.

60.000 Euro sind der Wert eines Mädchens.

60.000 Euro sind abzuarbeiten auf den Rücksitzen europäischer Autos oder in den Bordellen Münsters, Oberhausens oder Zwickaus. Und der Druck bindet die Mädchen, da alle hier an den Zauber glauben. Es ist schon passiert, sagt John, dass Mädchen verhext worden seien in der Ferne, erkrankt und schließlich verstorben.

Man kann nicht behaupten, dass die Hohepriesterin irgendetwas anstößig fände am eigenen Tun. Okay, junge Mädchen werden verkauft, ja gut, die eigenen Eltern verschachern sie, na ja, sie werden in die Prostitution verschleppt. Aber, das sagt Ikpate oba, „das tut unserem Land gut. Wir sind ein armes Land, und von dem Geld, das aus Europa kommt, können hier Familien leben. Irgendjemand muss immer ein Opfer bringen“.

Wir fahren dann weiter zu Bob Izoua, der sich inzwischen Chief Ayobahan des Königreichs Benin nennt.

Bob Izoua, 1954 geboren, war mal Johns Freund, das war vor 14 Jahren im Gefängnis von Lagos. Bob Izoua begann seine Karriere als Geschäftsmann damit, dass er billige Häuser kaufte, Häuser, deren Bewohner sich verschuldet oder zerstritten hatten; er vermietete teuer. Bob Izoua soll auch zwei Morde in Auftrag gegeben haben, er soll damit dem neuen Gouverneur zur Macht verholfen haben, und als er freigelassen wurde nach seiner Haft, machte er Geschäfte mit Öl. Heute besitzt er 300 Kleinbusse, 250 Häuser, 8 Frauen und 80 private Autos: Lincoln, Hummer, Mercedes et cetera.

Diese Stadt gehört ihm, nur er darf sie zerstören

Blickt Bob Izoua aus dem Fenster, sieht er Straßen, auf denen er mit diesen Autos nicht fahren kann, nur Schlaglöcher und Sand, und er sieht Familien, die da draußen vor Feuerstellen hocken und Ratten grillen. Würde er nur ein Auto verkaufen, könnte er Schulen bauen und alle Straßen der Stadt reparieren lassen, aber dann hätte er ein Auto weniger, und das geht natürlich nicht.

Bob Izoua kann nicht lesen und nicht schreiben, er kann auch nicht reden. Er stammelt, er stottert, er macht Geräusche. Der rechte Schneidezahn fehlt ihm, Bob Izoua ist dick, er sabbert. Bob Izoua hat sich die Stirn rasiert, auf dem Hinterkopf trägt er ein graues Haarbüschel. Er sitzt auf einem Schaukelpferd aus Bronze, und die Leute, die um ihn herumstehen, halten seine Telefone und lesen seine Briefe, leise stellen sie dem Boss ihre Fragen, und grimmig sagt er ja oder nein.

Bob Izoua freut sich etwa eine Minute lang, John wiederzusehen. „Oh“, sagt er, „ah“, ja, doch, er erinnert sich an den Knast von Lagos, „da cell“, wie er in seinem seltsamen Englisch sagt. Aber er stellt keine Frage, er will nichts wissen von John, er sagt nur, dass er 2000 Angestellte habe.

Und dann will er seinem Freund und dessen weißen Begleitern seinen Reichtum vorführen, zunächst den Keller, wo Wasser aus dem Boden quillt, das dann in Plastiktüten („St. Jane Water“) gefüllt und für den Verkauf gelagert wird; dann die Bäckerei, wo Izouas Brot gebacken wird. Der Chef schreitet durch die Straßen, um sich herum die Leibwächter mit ihren Kalaschnikows; seht her, das sagt der Spaziergang, seht, ich habe Weiße zu Gast, denn ich bin Bob Izoua, Herrscher von Benin City.

Diese Stadt gehört ihm, und nur er darf sie zerstören.

Das ist Nigeria: Menschen ohne Bildung und Mitgefühl reißen Macht und Geld an sich und teilen nur mit ihren Familien, denn alle anderen sind ihre Feinde. Es ist vulgär und ohne Maß, und darum ist Nigeria, Land der 140 Millionen Menschen, ein gepeinigtes Land. Flüsternd und anonym sagen die Menschen von Benin City, dass Bob Izouas Reichtum aus Ölquellen stamme, die er anzapfe, geschützt vom Gouverneur, der wiederum unter Bob Izouas Schutz stehe. Stimmt es, Chief?

„Neid. Lügen“, sagt er, „ich schlafe nicht, ich arbeite hart.“

John Ampan saß in vielen dieser Autos mit namenlosen Fahrern, die sein Geld nahmen, schwiegen und ihn nach Norden fuhren. Er saß hinten und konnte sich nicht bewegen, weil die Autos erst fuhren, wenn sie voll waren: 10 Männer in einem Mercedes, 40 auf einem Kleinlaster.

John fuhr nach Benin City, und er erwischte dort am selben Tag einen Wagen, der ihn weiterbrachte nach Norden. Die Straße war vierspurig, meistens, zunächst war die Landschaft tropisch grün, nach und nach wurde sie blasser. Sie kamen am Zuma Rock vorbei, einem Felsen, einem gewaltigen Block, grau und finster und ungefähr so spektakulär wie der zweitgrößte Monolith der Welt, der Ayers Rock, inmitten Australiens. Autowracks lagen am Straßenrand, geplündert und ausgebrannt.

John reiste mit einer schmalen Nylontasche, und darin hatte er zwei Hosen, drei Oberhemden, zwei Unterhosen, ein Handtuch, eine Zahnbürste, einen Turban und einen Walkman von Casio und vier Musikkassetten: Jazz, Blues, ghanaische Musik und Reggae.

Sie redeten kaum in diesen Autos. Sie konnten sich nicht bewegen. Wenig sahen sie von den Städten, durch die sie fuhren, wenig von der Landschaft. Hin und wieder war einer freundlich und lud John zum Essen ein: Einen Teller Reis gab der freundliche Mensch aus, zu teilen an einem der Stände am Straßenrand. Wenn niemand ihn einlud, kaufte sich John ein Brot und eine Fanta, das war sein Frühstück; ein halbes Brot bewahrte er sich auf, sein Mittagessen. Abends aß er nicht.

Agadez, Niger, Kilometer 2254

Niger ist ein dürres Land, karg und sandig. Runde Holzhütten stehen in diesem Land, jede Familie hat vielleicht zehn Quadratmeter Platz. 10, 20 Hütten bilden ein Dorf, glücklich sind die Bewohner jener Dörfer, in deren Mitte ein Brunnen steht; für die anderen ist dies der Sinn ihres Lebens: Wasser holen. Morgens gehen Frauen und Kinder zur nächsten Wasserstelle, abends kehren sie zurück, mit Krügen und Eimern auf dem Kopf.

Niger, einst französische Kolonie, hat gut 12 Millionen Einwohner, die im Schnitt 44 Jahre alt werden. 80 Prozent der Menschen hier können nicht lesen und nicht schreiben. Die Vereinten Nationen haben ermittelt, dass Niger das ärmste Land der Erde ist: Platz eins vor Sierra Leone.

Wenige Autos sind in Niger unterwegs, aber jedes dieser Autos ist beladen und bringt Menschen von Süd nach Nord. Viele Kamele ziehen durch Niger, Salzkarawanen auf der jahrtausendealten Strecke vom Aïr-Gebirge im Norden zu den Städten im Süden.

250 Kilometer vor Agadez endet die Straße, von nun an geht es weiter über den Sand der Sahara.

Die Drehscheibe für jene, die aus Niger nach Europa wollen, ist Agadez. Und Agadez, das sind: 90 000 Einwohner, Wüstensand in den Straßen, sandbraune Häuser und im Zentrum die Moschee. Agadez wächst wie alle afrikanischen Städte. Der erste Schritt einer Flucht ist hier immer der Schritt in die Stadt.

Es gab ja in vielen Ländern Westafrikas irgendwann einen kurzen Rausch; in Nigeria war es das Öl, das den Rausch auslöste, in Niger war es Uran, aber sie produzieren oder fördern in diesen Ländern immer nur diesen einen Rohstoff, und wenn die Preise einbrechen, stehen sie da mit absurden Häusern, Palästen, Fabriken und Denkmälern aus der Zeit des Rausches und haben nichts mehr zu essen.

Afrika ist weitgehend ein grüner Kontinent von der Atlantikküste bis hinauf zur Sahara, aber es gibt in Niger spanischen Saft zum Frühstück, gepresst aus Orangen, die junge Afrikaner in Spanien pflücken für vier Euro die Stunde, weil diese jungen Afrikaner zu Hause in Afrika nicht überleben können. Und hier, in Afrika, können ihre Eltern den spanischen Orangensaft natürlich nicht bezahlen, getrunken wird er von Touristen aus Europa.

Das nennt man Globalisierung. Die für Produkte gilt, nicht für Menschen.

Der Busbahnhof, Marktplatz der Schlepper, Zentrum dessen, was in Europa „illegale Einwanderung“ heißt, ist ungefähr 130 mal 80 Meter groß, verdreckte Männer mit kleinen Reisetaschen schlafen im Schatten. Am Eingang des Busbahnhofs verkaufen Trödler, was Reisende brauchen: Decken, Wasserflaschen, Turbane. In der Mitte gibt es ein Dach für die Wartenden, rundherum stehen Lastwagen. Und an allen vier Seiten gibt es die Läden, Geschäft neben Geschäft, jeweils ein Raum hinter rostigen Eisentüren. Seite A, Laden A 13: Algerien-Reisen leicht gemacht. A 18: Ghana Union Agence, Spezialgebiet Libyen-Reisen.

Dämonisch? Mafiös? Es ist eine Frage der Perspektive

Und immer wenn ein Wagen aus dem Süden kommt, rennen die Männer aus ihren Läden und schreien die Preise in die Nacht hinaus, und die Ankömmlinge gucken unsicher in die Runde, weil sie nicht wissen, wem sie trauen können.

Ein bisschen Geld für ein bisschen Sicherheit und viel Geld für die nächste Etappe nach Tamanrasset, das ist der Handel, um den es geht. Nach dem Verständnis des deutschen Innenministeriums ist das, was sie tun, ein Verbrechen, Menschenhandel, Organisierte Kriminalität. Hier auf dem Busbahnhof sehen sie das als Dienstleistung. Polizei und Militär kriegen Anteile, Händler verkaufen Wasserflaschen und Decken, die Chauffeure verdienen ordentlich, und die Reisenden kommen voran. Dämonisch? Mafiös? Es ist eine Frage der Perspektive, hier in Afrika sind Läden wie die am Busbahnhof von Agadez Reisebüros, und die Leute in den Läden sind Makler.

„Es gibt eine Nachfrage, wir bieten an, was soll daran kriminell sein? Kriminell ist die Ausbeutung Afrikas.“ Das sagt der Chef des Ganzen, Abdullah Habat. Als wir den Markt betraten, kamen sofort Polizisten und führten uns in den Befragungsraum; Interviews und Fotos seien illegal, sagten die Polizisten, doch für 100 000 Westafrika-Francs, etwa 150 Euro, dürfen wir uns frei bewegen, ein Interview mit dem Chef ist inklusive.

Darum hockt Abdullah Habat nun hinter dem Polizeigebäude auf den eigenen Fersen im Sand, grün ist sein Anzug, weiß der Turban, die Sandalen sind staubig. Er erzählt, dass die meisten Flüchtlinge aus Nigeria und Ghana kämen. „Großfamilien schicken zwei Söhne, damit einer durchkommt“, sagt Abdullah Habat.

Hunderte hängen in Agadez fest, weil ihnen das Geld ausgegangen ist. Sie sitzen in der Ecke und betteln, sie essen nicht, trinken nicht, weil sie jeden Franc brauchen, um voranzukommen. Sie sind seit Wochen hier, seit Monaten, einige seit Jahren und kommen nicht weiter. Sie tragen Beckham-Trikots oder die Shirts des FC Chelsea, den Slogan „Fly Emirates“ auf der Brust.

Diese Männer können nicht umkehren, sie dürfen nicht zurück. Sie sagen, sie würden abgelehnt von ihren Familien und ausgelacht in ihrem Dorf, und darum ist dies hier ihre einzige Chance, ihr einziger Schuss. Jetzt oder nie, ein afrikanisches Leben kennt keine Generalprobe, es gilt heute und hier.

Arlit, Niger, Kilometer 2620

Morgens um sechs wird der Himmel über der Sahara orange. Dann verblasst das Orange, und der Horizont wird rot, zunächst ist es ein blasses Rot, dann wird es dunkler und kräftiger. Die Sterne verschwinden in wenigen Minuten, das Rot verblasst wieder, und nun ist der Himmel blau.

Etwas mehr als eine halbe Stunde dauert dieser Sonnenaufgang.

Der Sand der Sahara ist lila, wenn die Sonne aufgeht, dann wird er orange, und erst am Ende der halben Stunde ist er gelblich wie Wüstensand. Und die Felsen, grau und gewaltig, geschmückt mit kleinen Gravuren von Elefanten, Giraffen und Kühen, liegen im Sand wie hingeworfen, Murmeln der Götter.

Als John Ampan in der Sahara rund um Arlit unterwegs war, 1993, betrat er den Ort nicht; der Fahrer hielt draußen vor der Stadt an, bei den Felsen. Sie warteten. Drei Pickups waren in Agadez losgefahren, 88 Flüchtlinge saßen und standen auf drei Ladeflächen. Morgens um 6.30 Uhr, nach Sonnenaufgang, brachen sie in Agadez auf, John hatte eine Gallone Wasser, knapp fünf Liter, dabei, außerdem Kekse und Gari, ein Mehl, hergestellt aus der Kassawa-Knolle; man mixt das Puder mit Wasser, es wird zu Brei, schmeckt nicht besonders, aber es nährt.

Auf der Ladefläche sprachen sie Englisch und Französisch und einige Stammessprachen; sie kamen aus Ghana, Nigeria, Kamerun und Mali und redeten über ihre Träume. „Ich werde zwei Jahre lang in Europa bleiben, Geld verdienen und sparen, und dann werde ich nach Hause gehen und ein Haus bauen“, so etwas sagten die meisten. Ein Junge saß neben John, ein Junge aus Ghana, der Ashanti sprach und erzählte, dass er bereits in Holland gewesen sei, dass er ein Kind dort habe, dass sie ihn trotzdem ausgewiesen und deportiert hätten, weil ihm die Papiere fehlten, und jetzt war der Junge auf dem Rückweg zu seinem Kind.

Der Junge war 20 Jahre alt. Sie nannten ihn Kweku, das heißt „Geboren an einem Mittwoch“. Kweku sagte, es sei schon wahr, Europa sei wirklich das Paradies, denn es gebe dort Arbeit und Krankenhäuser, es gebe lächelnde Menschen, und die Menschen würden alt in Europa.

Sie beteten auf der Ladefläche.

Wir kaufen uns Tickets im Reisebüro, 40 000 Francs kostet uns eine Flucht von Arlit nach Libyen, etwa 60 Euro. Und dann sitzen wir auf einem alten Pick-up und fahren durch die Sahara. Auf der Ladefläche pressen sich 31 Männer aus Niger, Nigeria und Kamerun aneinander; am Anfang sind sie vergnügt, am Anfang erzählen sie Geschichten. Wir bleiben zusammen, das sagen sie, wir teilen die Einnahmen, und wenn wir reich geworden sind, kehren wir nach Hause zurück und verändern unser Land.

Die Fahrer tun so, als hörten sie die Passagiere nicht

Nach zwei Stunden werden sie still, starren vor sich hin, und bald erdulden sie nur noch, was ihnen geschieht. Der Wagen ist ein Toyota von 1984. Die beiden Fahrer haben Decken über die Sitze gelegt und einen Stapel Musikkassetten auf das Armaturenbrett. Sie reden nicht mit den Flüchtlingen, warum auch, es gibt eine eindeutige Hierarchie. Die Oberen sprechen nicht mit den Unteren, das Geschäft ist abgemacht und alles gesagt: 40.000 Francs für sieben Tage von Arlit bis an die libysche Grenze, von dort an müssen sie laufen.

Es ist ein sprachloses Streiten zwischen Fahrern und Passagieren: Die Fahrer wollen keine Pausen einlegen, es sind zwei Fahrer pro Wagen, die sich abwechseln und auf dem Beifahrersitz schlafen können – die Passagiere auf der Ladefläche sitzen verkrampft, können sich nicht bewegen, sie müssen alle paar Stunden absteigen und einige Schritte gehen. Darum schlagen sie mit flacher Hand auf die Fahrerkabine. Und die Fahrer drehen drinnen die Musik auf und tun so, als hörten sie die Passagiere nicht.

Es ist wackelig auf der Pritsche. Das Fahrzeug hat Schlagseite, hin und wieder fällt einer runter.

Wir fahren durch die Täler am Rande des Aïr-Gebirges; hier kämpften Anfang der neunziger Jahre die Tuareg um ihre Rechte, hier schlugen sie die Regierungstruppen.

Mal ist der Boden steinig und hart, Minuten später fahren wir wieder durch Dünen; kilometerweit gibt es keine Pflanzen, dann kommen Oasen, dann steht da, inmitten platter Flächen, ein Baum und wiegt sich im Sandsturm.

Kamele stehen am Rand der Sandpiste und blicken uns nach.

Es rumpelt auf diesen Ladeflächen.

Es ist so eng, dass Füße und Hände einschlafen, ständig. Wenn man sich rühren, ein Bein unter dem anderen hervorziehen will, dann müssen die anderen helfen, sich zur Seite pressen und das Bein, das eingeschlafene, in die gewünschte Position schieben.

Es gibt hier oben die Chefs, wie in der Schule, die sich mit ihren Kumpels die besten Plätze gesichert haben; die besten Plätze sind jene am Rand und nahe am Führerhaus, wo man die Beine baumeln lassen kann. Und in der Mitte der Ladefläche sitzen die Schüchternen, die Stillen, die Schwächlinge – die anderen steigen über die Schüchternen hinüber, stützen sich auf ihnen ab, und manche der Schwächlinge finden nicht einmal mehr Sitzplätze; sie stehen dann und lehnen sich gegeneinander und halten sich gegenseitig und schwanken gemeinsam.

Das Übelste ist der Dreck: Alle hier auf der Ladefläche tragen Jacken und Turban, aber der Wind und der Sand schaffen sie doch; sie sehen schon nach ein paar Stunden und damit sieben Tage vor der Ankunft aus wie Penner. Leere Augen haben sie. Und alle haben aufgeschürfte Hände, weiße Flecken auf zerkratzter Haut.

Flüchtlinge haben nichts Strahlendes. Das macht das, was sie planen, nicht einfacher.

Auf drei Pick-ups erreichten 88 Flüchtlinge die Dünen vor Assamaka, und hier stiegen sie um. Assamaka ist der Grenzort zwischen Niger und Algerien, Schlagbaum in der Wüste und ein paar Häuser, und drei algerische Wagen warteten damals, 1993, auf John und die anderen. Nachdem sie die neuen Wagen beladen hatten, konnten sie sich ein paar Stunden hinlegen, auf dem Boden schlafen, erst dann ging es weiter.

Man kann einen ganzen Tag verbringen, ohne ein Wort zu sagen

Sie fuhren 36 Stunden lang in Richtung Tamanrasset, abseits der Pisten, durch die Berge, durch Schlaglöcher, durch den Sand der Sahara. In Assamaka hatte John Wasser gekauft, zwei Kanister, zehn Liter.

Es war zehn Uhr morgens, das Datum weiß John nicht mehr, als ein Auto liegenblieb mit Motorschaden. Alle stiegen ab, die Fahrer standen zusammen und diskutierten, dann versuchten sie, das defekte Fahrzeug zu reparieren. Und scheiterten. Wieder standen die Fahrer zusammen, und die Flüchtlinge hockten auf dem Boden und warteten, dann verschwand ein Auto, schnell und ohne Ankündigung. Holte der Kerl Hilfe?

Sie warteten zwei Tage lang. Sie waren müde, es war 40 Grad heiß, sie lagen im Sand und taten nichts. Man kann einen ganzen Tag verbringen, ohne ein Wort zu sagen, Migranten lernen das schnell.

Einmal stritten sie. Ihr wollt uns verrecken lassen, sagten die Migranten. Wir haben die Verantwortung für euch, sagten die Fahrer. Niemand hatte ein Satellitentelefon, kein Dorf war in der Nähe, John hatte keine Ahnung, wo er war.

Und am dritten Tag war das zweite Auto weg, plötzlich. Niemand hatte es bemerkt, auf einmal saßen die Fahrer drin, und Sekunden später waren sie fort.

Es vergingen zwei weitere Tage, seit fünf Tagen hockten die Flüchtlinge inzwischen hier. Einige der Männer hatten kein Wasser mehr. Einige tranken Benzin, weil sie nichts anderes mehr hatten, nach ein paar Minuten waren sie bewusstlos, und dann starben sie. John hatte noch Wasser, und er war diszipliniert; er spürte die Gier, aber er bewegte das Wasser im Mund hin und her, befeuchtete die Lippen, ließ das Wasser jeden Winkel erreichen, bevor er es schluckte. Und er verschenkte nichts. In der Kirche hatten sie etwas anderes gelehrt, teile, mein Sohn.

Hätte er geteilt, wäre er gestorben.

88 Flüchtlinge, die vergessen wurden, allein gelassen von Leuten, denen sie trauten, 88 Menschen auf der Suche nach einem Leben.

Warten? Gehen? Aber wohin?

John und ein paar andere gingen. 25 Männer waren sie, sie schlichen durch die Wüste, aber Kweku, der Junge, der auf dem Weg nach Holland war, zu seinem Kind, schaffte es nicht, er konnte nicht mehr. Er sank zu Boden, konnte nicht mehr gehen, nicht mehr reden, es dauerte nicht lange, dann war Kweku tot. Sie schaufelten ein Grab mit bloßen Händen, und bevor sie ihn beerdigten, nahmen sie seine Schuhe und sein Geld. Es wäre Verschwendung gewesen, ihm das zu lassen.

Es waren Instinkte. Überleben wollten sie, sonst nichts mehr.

Am achten Tag wurden sie entdeckt, ein Lastwagen des algerischen Militärs fuhr vorbei, und die Flüchtlinge versteckten sich nicht mehr, sie schrien um Hilfe. Die Soldaten brachten sie in ihr Lager, sperrten sie ein, ein Zaun markierte das Gefängnis, Wüste unter blauem Himmel, immerhin brachten die Soldaten einen Topf Suppe. Und die Soldaten stahlen Johns Portemonnaie, seine Sonnenbrille und die goldene Kette, die ihm seine Mutter geschenkt hatte. Im Portemonnaie waren die Fotos von Vida und den Kindern.

Dann brachten sie John zurück nach Assamaka, auf die andere Seite der Grenze, zurück nach Niger. Ihn und die übrigen 24. John glaubt, dass 50 von 88 Flüchtlingen in der Sahara gestorben sind. „Ich habe versucht herauszufinden, was aus ihnen geworden ist“, sagt er, „aber ich konnte nirgendwo etwas erfahren. Niemand hat je wieder von ihnen gehört.“

Welche Worte gibt es für diese Brutalität, den Durst, die Einsamkeit?

Es war Sommer 1993, und John Ekow Ampan, von algerischen Polizisten vor dem Tod in der Wüste gerettet, verhaftet und in der Wüste ausgesetzt, wollte aufgeben. Er wollte nach Ghana fahren, überlegte sich die Worte, dachte nach, wie er diese Reise seiner Frau Vida erklären konnte, welche Worte existierten für diese Brutalität, den Durst, die Einsamkeit. Wie konnte er beschreiben, was er gedacht hatte in diesen fast zwei Jahren in der Ferne, wie seine Naivität, die Dummheit dieses Glaubens daran, dass er es schaffen könnte?

„Ich war müde, ich wollte nach Hause“, sagt John.

Ein wenig Geld hatte er noch, das hatten die Polizisten nicht gefunden. Er nahm einen Minibus nach Niamey, Hauptstadt des Niger, weiter nach Ouagadougou, Hauptstadt von Burkina Faso. Er wollte heimfahren nach Accra, aber am Busbahnhof standen drei Jungs, die ihm von Mauretanien erzählten. Las Palmas, so heiße das aktuelle Paradies, sagten sie; Fischerboote legen in Mauretanien ab und bringen Flüchtlinge auf die Kanarischen Inseln, das berichteten die drei, die Spanier seien noch nicht dahintergekommen, es sei nicht weit und auch nicht gefährlich.

Vier Routen sind es, die nach Europa führen. Von Libyen aus nach Italien, nach Lampedusa. Über die Zäune hinein in die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta. Von der marokkanischen Küste aus nach Andalusien, das sind etwa 14 Kilometer, die werden scharf kontrolliert. Und die vierte Route führt von Mauretanien in Richtung Kanaren, das sind 1200 Kilometer in Fischerbooten. „Okay“, sagte John.

Sie reisten zusammen, vier Ghanaer putzten Schuhe in Ouagadouogu, wo nicht viele Menschen Schuhe trugen, fuhren weiter, wohnten in einem Zimmer, aßen zusammen und teilten; wer Geld aufgetrieben hatte, zahlte für alle. Charles hieß der Wortführer, Bright der Cleverste, und dann gab es einen stillen Lehrer, der seinen Job verloren hatte und Lehrer in Europa werden wollte, den Namen hat John vergessen.

Sie reisten nach Westen, durch Mali, nach Senegal und weiter nach Nouakchott, Mauretanien, und weiter. Zu Hause in Accra rief er selten an, wie konnte er erklären, was er tat, was sollte er sagen? Er wollte sein Geld nicht für Pausen des Schweigens am Telefon verschwenden.

Er hatte zu tun, konnte es schaffen, glaubte es wieder.

Charles wagte die Überfahrt nach Las Palmas. Falls stimmt, was John später hörte, kam er durch. Bright und der Lehrer hatten nicht genug Geld, sie fuhren nach Gambia, von ihnen hörte John nie wieder.

John fand einen anderen Freund, der Mann hieß Harbour View, Hafenblick, getauft nach einem Hotel in Accra. Harbour View und John hatten das Geld für den Trip nach Las Palmas nicht, darum warteten sie auf den Zug aus dem Süden Mauretaniens, der Eisen in den Norden brachte, und als der Zug kam, sprangen sie auf, es war tiefe, afrikanische Nacht.

„Es ist gefährlich auf so einem Eisenstapel auf so einem Zug, und kalt ist es, es gibt keine Deckung“, sagt John.

Sie erreichten Nouadhibou im Norden Mauretaniens. Harbour View war ein geschickter Kerl, und mutig war er auch. In einem islamischen Staat Gin zu destillieren und frei Haus zu liefern, das war gewagt, aber Harbour View sagte, damit könne man reich werden, und er fragte John, ob der sich beteiligen wolle an der kleinen Firma in der Wüste. Drinnen standen zwei große Fässer und ein kleines, und afrikanischen Gin macht man so: Man nehme Zucker, Backhefe, Wasser. Man vermenge die Zutaten und lasse sie neun Tage unberührt; man mache Feuer unter dem Gemisch, verbinde eine Pfeife und ein Rohr mit dem Behälter, in dem sich das Gemisch befindet, und führe das Rohr durch kaltes Wasser hindurch. Das Feuer erhitzt das Gemisch, es zischt und blubbert, und die Flüssigkeit, die aus dem Rohr tropft und in einer Flasche landet, hat einen Alkoholgehalt von 45 Prozent.

Nur darum geht es, stark muss das Zeug sein. Geschmack wäre Luxus.

Ein Jahr lang ging es gut, beide verdienten eine Menge Geld, weil auch mauretanische Muslime gern mal richtig besoffen sind. Aber dann gab irgendein Nachbar der Polizei einen Tipp. Als er gerade 20 Liter Gin dabeihatte und Kunden beliefern wollte, um zwei Uhr morgens, standen in einer Bar Polizisten vor John, sie hatten auf ihn gewartet.

Sie verbanden John die Augen, fesselten ihn und fuhren ihn hinaus in die Wüste. Zwei Stunden, sagt John, dauerte die Folter. Sie prügelten ihn, traten ihn, legten ihn auf die Erde, an ihren Land-Rover gebunden, und fuhren los, sagt er, und zogen ihn durch den Sand. Aber John sagte ihnen immer noch, er wisse nichts von einer Schnapsfabrik. Jahre später sagt er, er hätte alle und alles verraten unter der Folter, aber nicht Harbour View, weil der ihn gerettet hatte, weil der ihm vertraute, weil Harbour View längst ein Bruder war.

Sie fuhren ihn zurück in die Stadt. 150 Dollar verlangten sie für den Transport, und er zahlte. Sie ließen John am Straßenrand liegen. Er stand auf, wusch sich, brach wieder auf. Britisch war der Ausweis, den er sich kaufte, „Morris, Sandra“ stand da; John war nun Mr Sandra Morris und klebte sein Foto in den Pass.

Das Ticket für den Land-Rover, der ihn nach Marokko brachte, kostete 180 Dollar. Er erreichte die Westsahara bei Dakhla.

Und Europa war nah.

The Valley, Algerien, Kilometer 4965

Sie sind durch Afrika gefahren, nach Libyen, nach Algerien, dorthin, wo es laut jüngstem Gerücht gerade Jobs gab und Schlupflöcher. Zu Hause waren sie nur wirtschaftlich nutzlos und für ihre Gesellschaft nicht wichtig, aber irgendjemanden gab es dort, der sie mochte – jetzt sind sie nutzlos, überzählig und den Menschen um sie herum lästig oder egal.

Es sind Tausende, die an den Küsten Mauretaniens und vor den Grenzen Marokkos und in den Wäldern vor Ceuta lauern: auf Geld, auf diese eine Chance, die jeder Mensch in seinem Leben bekommen sollte. Sie wohnen in Dörfern, die sie sich selbst gebaut haben, „The Valley“ vor Maghnia im algerisch-marokkanischen Grenzgebiet ist so ein Dorf.

The Valley liegt fünf Kilometer vor Maghnia. Es ist ein Canyon, ungefähr 20 Meter hoch sind die Felswände. 160 Menschen leben hier, die meisten kommen aus Ghana und die anderen aus Mali, Senegal, Gambia, Kamerun, Nigeria, Kongo, Burkina Faso und der Elfenbeinküste. Sie hausen in Hütten aus Pappe. Die Pappe wird gegen Holzlatten genagelt, ein Wellblechstück kommt obendrauf, und wer Zeitungen hat, klebt sie von innen gegen die Wände. So wohnen sie. Jahrelang. Zehn mal fünf Meter ist eine Hütte groß, in manchen schlafen 10, in manchen 20 Leute. Natürlich machen sie in ihren Hütten Feuer, weil es kalt ist in den algerischen Bergen – immer wieder brennt eine Hütte ab. Diese Menschen können nicht vor und nicht zurück, und ihre Städte sind Ghettos; hier findet man die, die in der Wüste ausgesetzt wurden, die Abgeschobenen, die, die von den Schleusern ausgetrickst wurden, die ohne Geld.

The Valley hat einen Fußballplatz, löchrig und holprig, aber mit zwei Toren. The Valley hat einen Präsidenten, eine Polizei, einen Knast, Soldaten, ein Sekretariat, einen Justiz- und einen Verteidigungsminister, eine Leibwache, ein Gericht – und Regeln. Nicht stehlen, nicht töten, keine Korruption, das sind die Gesetze.

„Das hier ist in Wahrheit der perfekte afrikanische Staat“, sagt Präsident N. Adam Progress. Präsident Progress hat eine Weltkarte in seiner Hütte hängen, fünf Mobiltelefone und zwei Fernbedienungen liegen auf seinem Schreibtisch.

N. Adam Progress trägt Rastazöpfe und das rot-gelb-grüne Reggae-Armband, er brach 2001 in Ghana auf, 2003 erreichte er The Valley. Seither ist er hier, wartet auf die Gelegenheit weiterzureisen, oder wartet er gar nicht mehr?

„Wir sitzen hier, weil wir nicht nach Hause reisen können. Es wäre Scheitern, Versagen, Niederlage“, sagt Progress, „aber das hier wird nicht ewig gutgehen. Die Algerier würden uns töten, wenn sie könnten. Und ihr Europäer gebt ihnen das Geld für die Jagd auf uns. Warum darf man einen Menschen fangen und ihn in der Sahara aussetzen und sterben lassen?“

Dann hat der Präsident der Schattenwelt noch eine Botschaft für Europa: „Die afrikanische Odyssee wird niemals gestoppt werden. Wenn ihr uns stoppen wollt, baut eine Mauer im Meer, und baut sie bis hinauf in den Himmel!“

Tanger, Marokko, Kilometer 5465

Sie starten überall an der Küste Marokkos. Man kann Europa sehen von hier, es liegt nahe, 20 Kilometer entfernt nur, tückisch nahe. Man sieht die Windräder Andalusiens, man sieht Buchten und Häuser und abends die Lichter, aber man sieht nicht, wie gefährlich das Mittelmeer ist, wie stark der Wind und die Strömung sind in einer Meerenge wie dieser. Man sieht nicht, welche Kraft die Tanker haben, die hier durchfahren, und wie hoch ihre Bugwellen sind und wie tief die Wellentäler am Heck.

Man sieht die Polizisten nicht, die drüben in Spanien in klimatisierten Türmen sitzen und mit Nachtsichtgeräten die Meerenge von Gibraltar im Blick haben. Man sieht auch die Sterbenden nicht, die Wracks, die Schlauchboote, deren Motoren ausgefallen sind und die auf den Atlantik hinausgetrieben werden.

Und so ruhig sieht das Meer aus, so harmlos, und Europa so greifbar.

Tanger wurde jahrelang „Perle des Nordens“ genannt und war so etwas wie eine zweite Heimat der Beatgeneration: Paul Bowles schrieb hier, und Jimi Hendrix und Bob Marley spielten und kifften hier, denn Tanger war mal eine Metropole der Dandys. Über 700 000 Menschen leben inzwischen hier, die meisten zwischen Rost und Müllhalden in den roten Ziegelsteinhäusern der Vorstädte. Und die Flüchtlinge wohnen privat, sie zahlen Miete an irgendeinen Hauseigentümer, der für sehr viel Geld 20 Männern ein zwölf Quadratmeter großes Kellerloch gibt. Dort hocken sie tagsüber und warten auf das Boot, das sie hinüberbringen soll, und kommen nur abends heraus. Was für eine Existenz ist das, wenn jeder Schritt bedeuten kann, dass du zurückgeworfen wirst an den Ausgangspunkt deiner Reise?

Wir streifen durch die Gassen der Medina, und in der Rue Mohammed Bergach finden wir eine Gruppe schwarzer junger Männer. Sie stehen herum, werfen Steinchen gegen eine Mauer, reden wenig, und ihre Augen sind leblos. 20, 25 Jahre sind sie alt, und ein Marokkaner schreit vom Balkon herab, ein Weißer im Unterhemd, wirr liegen die wenigen Haare auf dem Hinterkopf. „Ruhe hier, verschwindet, geht in euren Urwald!“, schreit er, dann wirft er eine Bierflasche nach den Schwarzen, und einen von ihnen, Victor, treffen die Scherben, die vom Boden hochfliegen.

Der Mann dort oben schließt das Fenster, und wenig später ist er unten und schwingt einen Baseballschläger. „Das ist ein rassistisches Scheißland“, sagt Felix Justin, „der einzige Grund, warum irgendwer herkommt, ist der, dass wir durchreisen müssen, um nach Europa zu kommen.“

Felix Justin, 36, lehnt an einer Häuserwand, seine Freunde und er haben eine Methode entwickelt, um in Tanger zu überleben: Sie gehen mindestens zu viert vor die Tür, laufen eilig und verharren immer nur an den Kreuzungen der Altstadt; dort schaut dann jeder in eine Richtung, und sobald einer einen Polizisten sieht oder jemanden, der vielleicht ein Polizist sein könnte, pfeift er, und alle rennen.

Nun redet Felix Justin, und vier Kumpel halten Wache.

Felix trägt Jeans, einen schwarzen Pullover, weiße Turnschuhe, einen Vollbart. Er ist nautischer Ingenieur, geschult für die Arbeit auf Bohrinseln, und er hatte Vorstellungsgespräche bei Shell und ExxonMobil, aber er hätte die Leute dort bestechen müssen, um einen Job zu kriegen, sagt er, das konnte er nicht. 36 Jahre alt, gut ausgebildet, seit zehn Jahren arbeitslos. „Was würde ein Europäer tun?“, fragt er.

Er hatte genug Geld, um von Accra nach Casablanca zu fliegen, das ersparte ihm die Sahara. „Wir sind schlaue Jungs, mein Freund“, sagt er, „ein kleines Loch wird uns genügen, hier kämpft Technik gegen Verzweiflung, und ich garantiere dir, Verzweiflung ist stärker.“

30 Nigerianer sind sie in der Altstadt von Tanger, 30 Leute, die auf das Boot warten, das sie nach Europa bringen wird, oder auf den Weisen, der ihnen einen Weg durch die Mauern von Ceuta zeigen kann.

Ein Ei, einzige Mahlzeit des Tages

Bis es so weit ist, geht es darum, kein Geld auszugeben, den Tag zu ertragen, ohne verhaftet zu werden. Der Tag heute hat ein Ziel: Um 19.45 Uhr beginnen die Spiele der Champions League, und im Café an der Place Ouad Ahardame gibt es Leinwand und Fernseher im ersten Stock.

Um 15 Uhr sitzen die Nigerianer dort, auf harten Holzstühlen. Sie haben kontrolliert, dass die Luke zum Dach nicht verschlossen ist; wenn unten die Polizei hereinmarschiert, muss es einen Fluchtweg über die Dächer geben. Einige der Männer haben den Kopf in die Hände gelegt und schlafen, einige starren auf den Boden, einige legen Geld zusammen und kaufen für zehn Dirham, knapp einen Euro, einen Joint, schneiden ihn vorsichtig auf, schneiden fünf, sechs Zigaretten auf, verteilen das Haschisch auf die Zigaretten und rauchen.

Seit vier Stunden hocken sie vor einem Glas „American“, heißer Milch mit Teebeutel. Ein Händler kommt herein, er hat eine Tüte voller hartgekochter Eier dabei. Fünf Dirham kostet ein Ei, es ist die einzige Mahlzeit des Tages für die Männer hier.

Der Wirt kommt hoch, es ist 19.40 Uhr, in fünf Minuten ist Spielbeginn, und er schaltet den Fernseher aus und brüllt die Schwarzen an. Sie müssten etwas bestellen, sonst dürften sie nicht fernsehen. Zwei Männer bestellen sich eine Fanta, das reicht dem Wirt. „Scheißafrikaner“, sagt er, als er die Wendeltreppe hinabsteigt.

Und das hier ist jener Ort in Tanger, der ein bisschen Heimat bietet, der Ort, wo sich die Nigerianer treffen, weil sie sich hier am ehesten wohlfühlen. „Alles andere ist noch schlimmer“, sagt Felix Justin. Chelsea gegen Liverpool, das Bild ist vage, Schatten spielen 0:0.

Der Wirt kommt zurück, er verdient nicht genug, er hat eine Bierflasche in der Hand und zerschlägt sie am Treppengeländer. „Ich will euch hier nicht mehr sehen“, brüllt er. Die Männer gehen nach Hause in ihre Keller, in Vierergruppen, jeder hat eine Gasse im Blick.

Morgen ist ein Tag ohne Fußball.

John Ekow Ampan, der einen britischen Pass auf den Namen Sandra Morris mit sich führte, fuhr mit dem Bus nach Agadir und Marrakesch und mit dem Zug nach Casablanca und schließlich nach Tanger.

Er kaufte sich eine Fahrkarte nach Spanien, ein Fährticket, ein paar Meter waren es noch, aber den Grenzern genügten ein Blick in den Pass und ein Blick in sein Gesicht. Sandra Morris?

Sie verhafteten John unter dem Schild mit der Aufschrift „Immigration“. John kam für vier Tage ins Gefängnis von Tanger, dann vor Gericht: Zwei Wochen kriegte er für seine Fälschung und den Versuch der illegalen Ausreise. Als er wieder draußen war, saß John zusammen mit Albert, einem Senegalesen, auf dem Fußboden des Hotels „Olid“, sie diskutierten ihre Pläne und beschlossen: Lass uns versuchen, nach Ceuta zu kommen.

Irgendjemandem muss man vertrauen

Sie schafften es schnell, beinahe. Es gab noch keine Mauer rund um Ceuta, nicht mal einen Zaun, nur Soldaten auf beiden Seiten. Es wird einfach sein, dachten sie, es sind nur ein paar Schritte, aber sie irrten sich. Die Gelegenheit war schon verpasst, vielleicht hatten sie einen Moment zu lange gezögert. Es waren marokkanische Soldaten, die John und Albert mit Suchscheinwerfern erwischten. In Tetouan gab es ein Gericht für Angelegenheiten wie diese, ein schmuckloser weißer Bau. Das Urteil: eine Woche.

Als die beiden frei waren, gingen sie zurück nach Ceuta, noch in derselben Nacht, ganz nahe kamen sie auch diesmal dem Zaun, aber dann standen sie wieder im Scheinwerferlicht. Und der Richter im weißen Gericht von Tetouan, es war derselbe wie vor einer Woche, warnte sie: „Diesmal gibt es zwei Wochen, beim nächsten Mal werden es sechs Monate sein.“

Albert und John berieten sich, und dann gaben sie es auf, kehrten zurück in die Gassen von Tanger, und dort trafen sie auf einen dieser Männer, die viel versprechen und behaupten, sie wüssten alles über das Geschäft der Flüchtenden.

Konnten sie ihm vertrauen?
Was konnten sie sonst tun?
Irgendjemandem muss man vertrauen, Flucht ist ein Spiel. Manche kommen durch und werden reich, manche kommen durch und scheitern, manche kommen nicht durch und sind am Ende froh darüber, manche kommen nicht durch und sterben. Warum? Manche machen Fehler, manche wissen zu wenig, und viele haben Pech und manche ein bisschen Glück.

Der Fremde verlangte 100 Dollar pro Person, und sie gaben ihm das Geld. Sie fuhren Richtung Ceuta, versuchten es zu Fuß, und wieder waren da die Scheinwerfer der Soldaten, aber der Fremde führte John und Albert aus dem Lichtkegel heraus und hinein in die Wälder. Sie fuhren zurück nach Tanger, warteten eine Woche, dann war der Fremde wieder da, wie versprochen, es begann der zweite Versuch.

Sie kletterten über Berge. Rannten über Äcker und Wiesen. Schlichen durch das Niemandsland des Grenzgebiets, kahle Streifen ohne Deckung, aber kein Scheinwerfer erwischte sie. Um 6.30 Uhr am frühen Morgen, es war November 1995, war John Ekow Ampan in Europa.

Er war seit fast vier Jahren unterwegs.

Er hatte keine Zeit, Luft zu holen, sich zu freuen, sich zu entspannen. Europa war fremd, kühl, und ein Wagen der Guardia Civil rollte vorbei, einer der Beamten fuchtelte mit den Armen, der andere stoppte, und dann saßen John und Albert im Polizeiauto. John dachte, die Beamten brächten ihn zum Roten Kreuz oder in ein Flüchtlingslager, die Beamten waren freundlich, aber dann sah John die Grenze, und die beiden Beamten stießen John und Albert hinaus, drückten sie, wollten sie hinüber nach Afrika schieben, und die beiden Afrikaner weigerten sich. „Nein“, schrie John, „nur über unsere Leichen.“

Die Anstrengungen waren zu groß, das alles war zu viel, ich gehe niemals zurück, das dachte er, eher sterbe ich.

Und dann verstanden John und Albert, wo sie jetzt waren: Sie standen auf dem Streifen zwischen Marokko und Ceuta, zwischen Afrika und Europa, im Niemandsland. Marokkanische Soldaten standen dort hinten, Gewehre in der Hand, sie wollten die Flüchtlinge nicht zurückhaben. Und spanische Soldaten standen auf der anderen Seite, Gewehre in der Hand, auch sie wollten die Flüchtlinge nicht, fort mit denen. Heißer, staubiger Sand, das war das Niemandsland, kein Schatten, nirgends, und dann kamen andere Flüchtlinge. Fünf in der ersten Nacht. Zehn in der Nacht darauf.

200 waren sie nach einem Monat. Es entstand das erste Lager zwischen den Kontinenten, und die Flüchtlinge hockten zwischen Afrika und Europa, buchstäblich, und niemand wollte sie haben.

Es gab wenig zu essen. Regen gab es, kalt war es, der Dezember brach an. Zweieinhalb Monate vergingen. Und dann kam eine Nacht, in der niemand aufzupassen schien. Diese Nacht wählte John, um zu fliehen. Er rannte hinaus aus dem Niemandsland, hinein nach Ceuta, nach Europa, zum zweiten Mal.

Ceuta, Kilometer 5515

Ceuta ist schick wie Nizza. Weiß sind die Wände, Marmor überall, Bäume stehen, wo immer Bäume hinpassen; die Regierung in Madrid tut alles, um diese anachronistische Exklave in Afrika, die seit 1668 zu Spanien gehört, attraktiv für die Spanier zu halten.

Es gibt Fischrestaurants in Ceuta, es gibt Steuererleichterungen, aber Ceuta ist eine zynische Stadt, weil es nicht Nizza ist; Ceuta, 18,5 Quadratkilometer Europa, liegt auf afrikanischem Boden.

Der Zaun, der die Kontinente trennt und damit Reich von Arm und Weiß von Schwarz, ist acht Kilometer lang und schlängelt sich die Berge hinauf und hinab; er beginnt im Mittelmeer, zieht sich um die Stadt herum, endet im Mittelmeer. Ein grauer Streifen ist das, Soldaten patrouillieren, es ist wie im Berlin der siebziger Jahre.

Im Moment ist der Wall zwischen den Welten dreigeteilt: Es gibt auf der marokkanischen Seite einen drei Meter hohen Zaun, aber an dem wird schon wieder gebaut, bald wird er sechs Meter hoch sein; dann kommen fünf Meter Niemandsland, von Soldaten bewacht und von 40 360-Grad-Kameras beobachtet; dann folgt, auf der spanischen Seite, ein Maschendrahtzaun, so engmaschig, dass niemand Halt findet, sechs Meter hoch und oben mit Stacheldraht verstärkt.

Demnächst wird hier noch die neueste Erfindung installiert werden: „sirga tridimensional“, eine Art Irrgarten aus Stahlbändern, kreuz und quer und diagonal gespannt und vor dem marokkanischen Zaun aufgebaut, damit die Flüchtlinge den Zaun erst gar nicht erreichen; bunt und schick sollen die Stahlbänder sein, moderne Kunst der Abwehr von Afrikanern.

John Ampan wanderte im Januar 1996 durch Ceuta und fand eine Kirche, Santa María de África. Der Pfarrer nahm ihn auf, Padre Bigar-Sánchez hieß er, und John durfte im Flüchtlingslager wohnen und beim Padre essen, wenn er die Kirche reinigte und Spanisch lernte. Der Padre rief einen Glaubensbruder in Spanien an, Padre Andrés; wer in Ceuta war und eine Einladung aus Spanien hatte, durfte weiterreisen nach Spanien, das war legal. Im März kam die Einladung.

John Ampan erreichte Algeciras im April 1996 und blieb für vier Monate bei Pater Andrés. Er lernte Spanisch bei „Algeciras Acoge“, einer Nichtregierungsorganisation, die Flüchtlingen hilft.

Pater Andrés hatte einen Freund in Lérida, das ist etwa 120 Kilometer westlich von Barcelona. John fuhr hin, fand Arbeit, zunächst auf den Obstplantagen für fünf Euro die Stunde, dann bei einer Baufirma. Selten schrieb er nach Hause, er hatte die Verbindung zur Heimat schon verloren.

Was erzählen?

Und wo war er zu Hause?

Algeciras, Spanien, Kilometer 5565, Ziel

Wir sind zurück, bei John in Algeciras, in seinem orangefarbenen Reihenhaus mit dem grünen Briefkasten und den vergitterten Fenstern, die Nummer 25 ist neben der Haustür auf eine Kachel gemalt; John kocht, seine Lebensgefährtin Isabel fragt nicht, der Fernseher läuft. Wir rufen in Ghana an, berichten von unserer Reise.

Wir fahren dann zu Andrés, dem Pater, der John vor zehn Jahren nach Spanien holte, der ihn betreute und pflegte, ihm Arbeit vermittelte, der sein Freund wurde und eine Art Vater; Pater Andrés ist der Mann, nach dem Johns in Europa geborener Sohn Andrés getauft wurde.

In dem Raum, in dem John sein erstes Quartier fand in Algeciras, schlafen jetzt 15 Männer in hölzernen Stockbetten, für sie fängt das Leben im Paradies erst an. Pater Andrés ist ein Mann mit Vollbart, Brille, roter Strickjacke und Locken, ein zauseliger Mann mit warmem Blick. Menschen, die eine Reise über Tausende Kilometer hinter sich haben und einen Kontinent wie Europa erreichen, brauchen einen Menschen wie Andrés Avelino Gonzáles Pérez, 65. Sie brauchen einen wie ihn, der den Durchnässten Decken gibt, Müttern Windeln für ihre Kinder, Familien ein erstes Haus in ihrer neuen Welt. Seit 30 Jahren macht Andrés das, damals sahen Touristen ein Holzboot kieloben treiben, so begann es.

Oben, auf den Bergen vor Tarifa, wo man hinüberblicken kann nach Afrika, steht ein Holzkreuz. „In Erinnerung an die Immigranten, gefallen in der Meerenge“ steht da. Auf 15 000 schätzen die Hilfsorganisationen von Algeciras die Zahl der Toten seit 1990. „Die Richtung ändert sich, aber Migration wird es immer geben“, das sagt Pater Andrés, „es ist doch ein fundamentales Recht des freien Menschen: zu wandern, wenn er in Not geraten ist.“

Es ist ein paar Wochen her, dass das letzte Boot sank, das letzte, das bemerkt wurde, ein Schlauchboot mit 22 Menschen.

22 Leichen lagen auf dem Strand der Costa del Sol, niemand wusste, woher sie gekommen waren.

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