Werner Schiffauer / Anne Eilert / Marlene Rudloff (Hg.)
So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch
90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten
Transcript 24,99 €
In der Auseinandersetzung mit Flucht hat sich die deutsche Zivilgesellschaft neu aufgestellt. Zwischen 2015 und 2016 sind etwa 15.000 Projekte entstanden, in denen kreative Antworten auf die vielfältigen Herausforderungen der Zuwanderung gefunden wurden. Sie bilden eine Alternative zu Panikreaktionen, die den einzigen Umgang mit Flucht in Kontrollen und Abschreckung sehen. In diesem Band werden 90 beispielhafte Projekte dargestellt. Sie zeigen, welche Kraft zur Bewältigung von gesellschaftlichen Problemen in der gegenwärtigen Zivilgesellschaft zu finden ist – und welches Potenzial zu einem neuen Miteinander nicht nur im Umgang mit Zuwanderern, sondern auch innerhalb der Zivilgesellschaft steckt.
Einer Umfrage des Soz. Wiss Instituts der Ev. Kirche zufolge waren im Mai 2016 8,6% der Bevölkerung aktiv an Initiativen zur Unterstützung von Flüchtigen beteiligt, des entspricht mehr als 5 Millionen Menschen. Diese Zahl ist trotz aller medialen und politischen Inszenierungen der letzten 15 Monate stabil geblieben. Aus einer Umfrage der FES wissen wir zudem, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland die Aufnahme von Flüchtigen richtig findet.
Schiffbauer, Eilert und Rudloff haben es – mit Unterstützung der Bundesbeauftragten für Integration – unternommen, 15 000 Projekte mit Geflüchteten aufzulisten, daraus 1000 „interessante“ Projekte zu identifizieren und aus diesen 90 Projekte als „wegweisend“ zu katalogisieren. So manches, was in den großen Städten, aber auch in kleinen Ortschaften realisiert wurde, kann andernorts sicherlich Inspiration sein. Das Inhaltsverzeichnis im Anhang gibt einen Überblick über die dargestellten Projekte.
In der Einleitung zieht Schiffbauer ein Resümee und beschreibt eine „neue Bürgerbewegung“ mit ihren lokalen und praktischen Bezügen, ihrer Innovations- und Experimentierfreude, der Heterogenität der Akteur*innen und der Vorrangigkeit persönlicher Beziehungen. In einer Neubestimmung des „Ehrenamts“ haben sich neue Allianzen von Migrant*innen, Studierenden und engagierten Bürgern ausgebildet. Beschrieben werden auch Projekte der Selbstorganisation der Migrant*innen.
In der konkreten Konfrontation mit Ämtern und Ausländerbehörden verbreitet sich in dieser „neuen Bürgerbewegung“ zunehmend Kritik an bürokratischen Hürden und an den Deportationen. Zudem kommt es durch den Austausch mit Flüchtigen zu einen „worlding“: zur lokalen Auseinandersetzung mit den katastrophalen Ungerechtigkeiten der globalen Welt. Schiffbauer schreibt, dass ein „Möglichkeitsfenster“ sich aufgetan habe. Entscheidend sei, dass es nicht wieder verschlossen wird. „Angesichts der Tatsache, dass hier von rechts erheblicher Druck aufgebaut wird, scheint es notwendig zu sein, dass die Bürgerbewegung nicht nur in Richtung einer anderen Gesellschaft arbeitet, sondern auch politisch dafür kämpft. Hierzu muss sie ein Bewusstsein von sich selbst entwickeln…“
Schiffbauer entwirft ein Bild von einer neuen Form sozialer Bewegung, deren Verhältnis zum Politischen er aber andeutet. Es gibt indes gute Gründe dafür, dass sich diese Kämpfe zuerst in kommunalen Zusammenhängen entfalten und dass eine neue Formulierung des „Rechts auf Stadt“ dabei eine wesentliche Rolle spielen könnte. Vieles von dem, was Schiffbauer beschreibt, sind Bausteine für Solidarity Cities. Allen, die an diesen Solidarischen Städten mit bauen möchten, sein ein Blick in dieses Buch empfohlen.
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Mediendienst Integration | 29.03.2017
Zusammenfassung von Werner Schiffauer
In der Auseinandersetzung mit Flucht hat sich die deutsche Zivilgesellschaft neu aufgestellt. Zwischen 2015 und 2016 sind rund 15.000 Projekte entstanden, in denen kreative Antworten auf die vielfältigen Herausforderungen der Zuwanderung gefunden wurden.
In dem Forschungsprojekt „So schaffen wir das“ haben wir anhand von 90 Einzelfallanalysen versucht, uns ein Bild von den Potenzialen dieser Bewegung zu machen. Wir haben gefragt, welche spezifischen Herausforderungen sich in insgesamt dreizehn Handlungsbereichen – wie zum Beispiel Wohnen, Gesundheit, Beratung in rechtlichen Fragen und Bildung – stellen, und wie sie jeweils beantwortet wurden. Es wurde deutlich, welche Kraft zur Bewältigung von gesellschaftlichen Problemen in der gegenwärtigen Zivilgesellschaft steckt. Die Projekte lassen das Potenzial zu einem neuen Miteinander nicht nur im Umgang mit Zuwanderern, sondern auch innerhalb der Zivilgesellschaft aufscheinen.
Vor allem aber wurde deutlich, dass die Projekte weit mehr sind als nur die Summe von humanitären Einzelinitiativen. Vielmehr zeigte sich, dass es sich um eine soziale Bewegung mit einem ganz eigenständigen Profil handelt. Sie lässt sich am besten als „Bürgerbewegung“ charakterisieren. Ihr politischer Kern besteht darin, dass sich hier das politische Gemeinwesen zunächst auf lokaler Ebene neu formiert.
Was zeichnet die Projekte aus?
1. Über die Bindung an den Ort bildet sich eine neue Verantwortungskultur und diese wiederum stärkt die Bindung an den Ort. Viele Initiativen sind mit dem Wunsch gestartet, es nicht zu Zuständen kommen zu lassen, die mit ihrem Ideal der Stadtgesellschaft unvereinbar waren: Sei es, dass die Situation der Geflüchteten vor Ort als unerträglich empfunden wurde; sei es, weil sie den Versuchen von Mobilisierungen von Rechts entgegentreten wollten.
2. Vielerorts wird das Bemühen deutlich, neue Gemeinschaften zu bilden und Situationen herzustellen, von denen Neubürger wie Alteingesessene gleichermaßen profitieren. Damit wird mit dem Denkmuster gebrochen, dass alles, was Flüchtlingen zu Gute kommt, auf Kosten der Alteingesessenen erfolgt.
3. Auffallend ist eine Lust an Innovation und Experimentieren: Neues und Anderes wird ausprobiert und Festgefahrenes aufgebrochen. Dies reicht von der Suche nach neuen Wegen, Ausbildung und Studium zu organisieren über Internetseiten, die städtische Projekte vorstellen und vernetzen bis hin zu neuen Angeboten für psychosoziale Beratung.
4. Es entstehen neue politische Allianzen, quer zum klassischen Rechts-Links-Schema, an denen Aktivisten und Unternehmer, Konservative und Liberale, Muslime und Christen gleichermaßen beteiligt sind.
5. Der aus dem konkreten Engagement erwachsende persönliche und direkte Kontakt mit Geflüchteten trägt auch politische Früchte. Durch ihn wird der in der Politik vorherrschende kategorisierende und verallgemeinernde Diskurs aufgebrochen. Er führt unter anderem dazu, dass den staatlichen Versuchen, Geflüchtete nach guten oder schlechten Bleibechancen zu sortieren, Widerstand entgegengebracht wird.
6. Auffallend ist ein verbreitetes Bewusstsein über karitative Fallstricke, die immer auch bedeuten, dass zwischen den „Helfern“ und denjenigen, denen geholfen wird, neue Hierarchien und Abhängigkeiten entstehen können. Daraus erwachsen neue Formen des Umgangs mit Andersheit und Unterschiedlichkeit.
7. Es gibt deutliche Hinweise, dass sich über diese Bürgerbewegung neue „glokale“ Identitäten verbreiten, die sowohl lokale als auch globale Elemente miteinander verbinden, wie sie in den Einwanderervierteln schon seit längerem existieren. Diese Identitäten haben ihren Bezugspunkt nicht mehr in der Homogenität einer alteingesessenen Bürgerschaft, sondern in dem lokalen Bezug zur Welt. Sie entdecken die „Buntheit“ der örtlichen Kommune und sehen sie als konstitutiv für das Selbstverständnis. Ein wichtiges Element stellen nicht zuletzt die selbstorganisierten Projekte der Geflüchteten dar, in denen sie sich selbst repräsentieren und darüber eine Stimme und ein Gesicht erhalten. In ihnen werden neue inklusivere Formen von Teilhabe erprobt.
Kreative Lösungen für ein neues Miteinander
Die konstruktiven Antworten, die hier im Umgang mit Flucht und Vertreibung entwickelt werden, tragen das Potenzial, gesellschaftlich zu einem grundsätzlich neuen und anderen Verhältnis zu Zuwanderung und Gesellschaft zu kommen. Kurzfristig stehen die Projekte für eine Alternative zu Panikreaktionen auf Zuwanderung, die die einzige Lösung in neuen Grenzkontrollen und einer auf Abschreckung basierenden Politik sehen. Indem sie konkrete Wege aufzeigen, setzen sie der angstbesetzten Lähmung etwas entgegen, die in der Bevölkerung lange Zeit den Umgang mit großen Einwanderungsbewegungen bestimmte.
Anstatt nach dem Staat zu rufen und ihn unter Druck zu setzen, nehmen die Bürger das Heft selbst in die Hand. Langfristig verbindet sich mit diesen Projekten die Chance, dass sich die Kultur einer Einwanderergesellschaft entwickeln kann. Damit würde die mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts bereits vor über 15 Jahren gefällte politische Entscheidung, sich als Einwanderungsland zu verstehen, auch gesellschaftlich und kulturell vollzogen werden.
Das ist nicht zuletzt wichtig, weil die gegenwärtige Flüchtlingspolitik nicht nachhaltig ist. Sie verschließt die Augen davor, dass es zu einer Wiederholung der Ereignisse des Sommers von 2015 kommen dürfte. Die Antworten, die von der Bürgerbewegung erprobt werden, tragen dagegen der Realität Rechnung und dazu bei, die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. So gesehen ist die Zivilgesellschaft wesentlich weiter als die Politik, die sich zur Zeit von der sehr gut organisierten Rechten vor sich hertreiben lässt. Während die einzige Antwort der Politik in Abschiebung, Abschottung und Entmutigung besteht, hat die Bürgerbewegung eigeninitiativ gangbare Wege zu einer offeneren Gesellschaft aufgezeigt.
Die Stärken dieser Bewegung stellen allerdings auch ihre Schwächen dar: Der lokale und praktische Charakter der Bürgerbewegung führt dazu, dass sie bemerkenswert nachhaltig und stabil ist. Er führt aber auch dazu, dass sie auf überregionaler und nationaler Ebene wenig sichtbar ist. Vor Ort und in der Praxis wird die Kritik an der Flüchtlingspolitik gelebt, auf der überregionalen und nationalen Ebene aber viel zu wenig artikuliert. Deshalb ist es auf lange Sicht notwendig, dass die Bewegung ein eigenes Selbstverständnis und Profil entwickelt und dieses selbstbewusst vertritt. Auch dazu will das Buch beitragen.