24. März 2017 · Kommentare deaktiviert für „Ohne Druckmittel reist keiner freiwillig aus“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Die Welt | 24.03.17

Die Zahl der mit Geld geförderten freiwilligen Ausreisen steigt. Experten sind sich aber einig: Der Erfolg der Programme hängt auch stark vom „Damoklesschwert der Abschiebung“ ab, das über den Migranten hängt.

Von Marcel Leubecher

Das Ziel ist formuliert: Viel mehr abgelehnte Asylbewerber sollen in ihre Heimatländer zurückkehren. Die Bundeskanzlerin kündigte Anfang des Jahres ungewohnt markant eine „nationale Kraftanstrengung“ an. Nun kann so eine Rückkehr erzwungen werden – über Abschiebungen – oder mehr oder weniger freiwillig erfolgen, ohne direkten physischen Zwang.

Zu der zweiten Option, den sogenannten freiwilligen Ausreisen, hat der Sachverständigenrat Migration und Integration (SVR) die bisher umfangreichste Studie präsentiert.

Wichtigste Grundlage: Weil zum einen viel mehr abgelehnte Asylbewerber im Land leben und zum anderen der Staat seine Rückkehrpolitik verschärfte, steigen die Abschiebungszahlen und noch stärker die freiwilligen Ausreisen zwar an.

Aber immer noch vor allem innerhalb Europas: 87 Prozent der freiwilligen Ausreisen entfielen 2015 auf die Staatsangehörigen der zu sicheren Herkunftsländern erklärten Westbalkan-Staaten. Im vergangenen Jahr waren es immer noch 67 Prozent. Immerhin erreichten auch die geförderten Ausreisen in den Irak und nach Afghanistan 2016 mit insgesamt rund 8000 erstmals eine nennenswerte Größenordnung.

Das hat auch damit zu tun, dass die Zahl der negativen Asylentscheidungen stark angestiegen ist. Allerdings weisen die Forscher auf ein noch immer nicht gelöstes Erhebungsproblem hin: Wie viele ausreisepflichtige Ausländer insgesamt das Land verlassen, wird nirgendwo festgehalten. Der Grund: Sie geben die „Grenzübertrittsbescheinigungen“ oft nicht wie vorgesehen an der deutschen Grenze oder im Heimatland ab.

Auch Bleibeberechtigte können Ausreiseförderung nutzen

Deswegen sind Forscher und Journalisten immer noch auf Näherungswerte angewiesen. Es ist zwar bekannt, dass mehr als 200.000 Ausreisepflichtige im Land leben, davon drei Viertel mit einer Duldung. Man weiß auch, wie viele Abschiebungen es gab: im vergangenen Jahr rund 25.000. Daneben ist auch die Zahl der geförderten freiwilligen Ausreisen bekannt – 55.000 Ausländer reisten nach Inanspruchnahme finanzieller Anreize 2016 aus.

Doch darunter sind nicht nur abgelehnte Asylbewerber und andere Ausreisepflichtige. Für die geförderten freiwilligen Ausreisen kommen auch Migranten infrage, die noch im Asylverfahren sind. Vor allem jene, die eine schlechte Bleibeperspektive haben, aber auch solche mit guten Chancen können, etwa wenn sie mittellos sind, diese Art der Rückkehr in ihr Heimatland wählen. Das Gleiche gilt für Personen mit einem deutschen Aufenthaltstitel.

Zudem beziehen sich die Zahlen nur auf das mit Abstand größte Rückkehrprogramm REAG/GARP. Neben diesem von Europäischer Union, Bundesinnenministerium und Bundesländern geförderten Programm existieren in Deutschland weitere, vor allem von den Bundesländern finanzierte Rückkehrprogramme und Reintegrationsprojekte.

Die Programme zielen darauf, einen erneuten Auswanderungsversuch zu verhindern, indem sie Rückkehrer im Herkunftsland beispielsweise bei der Suche nach einem Arbeitsplatz unterstützen. Da diese Projekte allerdings meist befristet sind, ist das Angebot unbeständig und unübersichtlich. Die Zahlen der Ausreisen werden im Rahmen dieser Programme nicht konsequent erhoben.

Deswegen fordert der SVR von der Verwaltung: Um zu erfahren, wie gut die Rückkehrprogramme generell funktionieren, muss man exakter wissen, wie viele Ausländer mit welchem Status und auf welchem Wege das Land wieder verlassen. Dies setze voraus, dass künftig eine vergleichbarere Rückkehrstatistik geführt wird.

Abgelehnte je nach Land unterschiedlich behandelt

Jan Schneider, Co-Autor der Studie und Leiter des SVR-Forschungsbereichs, kritisierte zudem: Bei den Angaben der Bundesländer zu Rückkehrprogrammen sei nicht klar, ob sie zusätzlich zu den REAG/GARP-Ausreisen stattfinden oder ob sie sich überschneiden; eine fundierte Aussage über die Gesamtzahl der geförderten freiwilligen Heimkehrer sei also genauso unmöglich wie über die Gesamtzahl der nicht finanziell unterstützten Ausreisenden.

Die Studienautoren beklagen die schwache Regulierung durch den Bund: Die Zuständigkeit der Länder für den Vollzug und die kommunale Praxis führten einerseits zu großen Differenzen zwischen den Bundesländern, aber auch zwischen den vollziehenden Ausländerbehörden. Staatliche Fachleute wie die Arbeitsgruppe AG Rück und private Gutachter wie die Unternehmensberatung McKinsey kritisieren das Kompetenzwirrwarr zwischen den Hunderten Ausländerämtern in Deutschland.

Wegen dieser großen Unterschiede untersuchte der SVR, dessen Arbeit von sieben Stiftungen finanziert wird, auf Basis von drei Beispielen (Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt), welchen Stellenwert die geförderte Ausreise sowie die Abschiebung in Politik und Praxis der Länder jeweils einnehmen. Dabei beobachteten die Forscher ein „manifestes Kohärenzproblem in der deutschen Rückkehrpolitik“: Abgelehnte Asylbewerber werden trotz ähnlicher Fallkonstellation ungleich behandelt. Oftmals werde die Aufgabe der Rückkehrberatung nicht von den Ausländerbehörden angeboten.

Bedeutsam ist auch, wer die Abschiebungskosten trägt. In Hessen und Sachsen-Anhalt ist es das Land, in Rheinland-Pfalz hingegen die einzelne Gemeinde. Übernimmt das Land die Abschiebungskosten, kann dies ein Anreiz für die Kommunen sein, rasch eine Abschiebung einzuleiten. Übernimmt das Land die Abschiebungskosten hingegen nicht, sondern fördert es vielmehr die freiwillige Ausreise, ist davon auszugehen, dass die kommunalen Behörden stärker auf dieses Rückkehrmodell setzen. Daraus ergibt sich ein hohes Steuerungspotenzial auf Länderebene.

Der SVR schlägt vor, die generelle Zuständigkeit für die Rückkehrberatung im Aufenthaltsgesetz zu verankern und den Ausländerbehörden zuzuweisen. Zudem sollen Bund und Länder gemeinsam sicherstellen, dass ausreisepflichtige Personen detaillierte und aktuelle Informationen erhalten, die sie auch verstehen.

Zwar betonen alle drei untersuchten Bundesländer den rechtlich verankerten Vorrang der freiwilligen Ausreise, aber auch ihre Pflicht zur Abschiebung. Doch umfassende Maßnahmen und Ansätze, die die selbstständige Ausreise tatsächlich fördern, sind sowohl in Hessen als auch in Sachsen-Anhalt erst im Aufbau; lediglich Rheinland-Pfalz strebt die selbstständige Ausreise mithilfe der „Landesinitiative Rückkehr“ bereits systematisch an.

Daran sollten sich, wenn es nach dem SVR geht, alle Länder ein Beispiel nehmen. Denn dem Land gelangen 2016 mit 3907 mehr Ausreisen als dem halb so großen Sachsen-Anhalt (1204) und dem deutlich größeren Hessen (1872). Allerdings liegt es bei den Abschiebungen mit 909 unter dem Niveau Hessens (1723) und Sachsen-Anhalts (836).

„Ohne Druckmittel reist mir keiner freiwillig aus“

Die überwiegende Zahl der vom Sachverständigenrat Befragten in den drei Bundesländern betont aber, dass Abschiebungen nötig seien, um freiwillige Ausreisen zu bewirken: „Wenn ich das Druckmittel der Abschiebung nicht habe, reist mir keiner freiwillig aus. Egal, wie ich dazu stehe“, wird ein Landesbeamter in Hessen zitiert. Die sachsen-anhaltinische Regierung erwähnt beide Elemente der Rückkehr in ihrem Koalitionsvertrag; in Rheinland-Pfalz wird der Schwerpunkt eindeutig auf die freiwillige Ausreise gesetzt.

Viele Praktiker machten gegenüber den SVR-Forschern deutlich: Eine Wiedereinreise darf sich nicht lohnen. Die Schwierigkeit liegt darin, die Höhe der Rückkehrhilfen abzuwägen: Menschen sollen zwar eine Starthilfe bekommen, um keinen „Schiffbruch“ zu erleiden. Gleichzeitig dürfen aber keine neuen Anreize zur irregulären Wiedereinreise gesetzt werden.

Eine offizielle bundesweite Statistik zu den Kosten, die eine Abschiebung oder eine freiwillige geförderte Ausreise verursacht, liegt nicht vor. Die Unternehmensberatung McKinsey kommt zu dem Schluss, dass Rückführungen durch die Polizei durchschnittlich 1500 Euro pro Person kosten, eine freiwillige Rückkehr ungefähr 700 Euro. Im Vergleich zu der Ersparnis durch anfallende Hartz-IV-Leistungen, Gesundheits- oder Schulkosten fallen solche Kosten aber kaum ins Gewicht.

Zudem bestätigen die Interviews ein wichtiges Ergebnis der Migrationsforschung zur Rückkehr, das Studienleiter Schneider so ausdrückt: „Freiwillige Ausreisen finden natürlich unter dem Damoklesschwert der Abschiebung statt.“

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